Fragwürdiger Sportjournalismus

Es ist ein längst bekannter medienwissenschaftlicher Sachverhalt, dass Massenmedien im Allgemeinen und die Sportberichterstattung im Besonderen einen ungeheuren Verbrauch an Moral und moralisierender Berichterstattung haben. Dies ist jedoch durch keine kontrollierbaren Verpflichtungen der Journalisten gedeckt, die diese Art von Berichterstattung zu verantworten haben. Jeder gegenüber Personen oder Organisationen ausgesprochene Verdacht wird bereits als vollzogene Tat bewertet. Im Zuge des typischen sportjournalistischen Herdentriebs werden dabei aus Andeutungen Tatsachen und Verurteilungen, die dann, wenn sie sich als falsch erwiesen haben, nicht mehr korrigierbar sind. Die Fähigkeit zur Selbstkritik, die insbesondere von Betroffenen der fehlerhaften Berichterstattung erwartet wird, ist nur gering ausgeprägt und nur höchst selten anzutreffen. Allenfalls das Fernsehen unterliegt manchmal noch einer Kontrolle durch die Presse. Die Presseberichterstattung hat jedoch nahezu vollständige Narrenfreiheit.

Bei der Berichterstattung über die ohne Zweifel anzutreffenden Verfehlungen im System des Sports neigen die meisten Journalisten zu einer Überschätzung der moralischen Korruptheit der Gesellschaft, weil ihr Selektionscode aus naheliegenden Gründen einseitig ist. Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Nur Normverstöße haben einen Nachrichtenwert. Aus der Welt des Sports wird immer wieder beklagt, dass Sportjournalisten das Schöne und die guten Seiten des Sports so gut wie nicht beobachten und erkennen, ihr kritischer Blick vielmehr nur auf das Schlechte und Böse ausgerichtet sei. Dies mag beklagt werden, doch das moderne massenmediale System folgt seiner eigenen Logik. Luhmann hat in seinen Reflexionen über eine Theorie der Massenkommunikation diese Logik treffend beschrieben. Die Merkmale „Überragende Priorität bestimmter Werte“, „Krisen und Krisensymptome“, „Status des Absenders einer Kommunikation“, Symptome politischen Erfolges“, „Neuheit von Ereignissen“, „Schmerzen oder zivilisatorische Schmerz SurrOgate“ sind demnach leitend für die Konstruktion der massenmedialen Wirklichkeit. Sportbezogen und daraus abgeleitet sieht Peter Becker vier Regeln, die der Themenauswahl in der Sportberichterstattung zugrunde liegen: „Demonstration von Leistung und Erfolg“, „Krisen und Krisensymptome“, „Human Interest“ und „Personalisierung“ sind demnach leitend für die inhaltliche Selektion der Sportberichterstattung. So wie die Unmoral der politischen Klasse den Massenmedien gerade recht ist, so kommt auch die Unmoral der Sportfunktionäre und der betrügenden Athleten den Sportjournalisten passend. Deshalb wird diese Unmoral immer wieder in Leitartikeln und Kommentaren herausgestellt. Unter Beachtung dieser Mechanismen weist Luhmann allerdings darauf hin, dass das was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt in der wir leben wissen, wir wohl über die Massenmedien wissen. Doch fügt er hinzu: „Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können“. Es stellt sich deshalb die Frage, ob der Rezipient der Sportberichterstattung zu diesem notwendigen Misstrauen ausreichend befähigt ist. Die von den Massenmedien konstruierten politischen Leitbilder werden in der Regel äußerst homogen vorgetragen und langfristig gepflegt. Gut und Böse werden trennscharf unterschieden. Andersdenkende sind notwendigerweise Mangelware. Da gibt es z.B. die „faulen und korrupten Griechen“, Ungarn und Polen verwandeln sich demnach zu Diktaturen, den Brexit haben britische Demagogen zu verantworten und Putin ist die Inkarnation des Bösen. Erdogans Absicht in der Türkei ein Präsidialsystem einzuführen wird als diktatorische Machtergreifung interpretiert obwohl die USA und eine ganze Reihe weiterer republikanischer Staaten über ein Präsidialsystem verfügen.

Eine ähnliche Unterscheidung in Gut und Böse lässt sich auch bei der Sportberichterstattung beobachten. Das IOC ist eine Ansammlung von korrupten Funktionären, die Sportpolitik von Innenminister de Maizière nötigt die Athleten zum Dopingbetrug, Medaillenerfolge werden als unbedeutend deklariert, der Athlet ist das zu bedauernde Wesen, das dringend Hilfe benötigt. Korrupt sind immer nur die Funktionäre. Dass zu Korruption immer zwei Parteien gehören und dass vor allem auch die Frage gestellt werden muss wer das Geld bereit stellt, das bei der Korruption in fragwürdiger Weise ausgetauscht wird, darf die Sportjournalisten ganz offensichtlich nicht interessieren. Möglicherweise kämen dabei die Wirtschaft, die Politik und nicht zuletzt die Massenmedien selbst ins Spiel. Doch würden die Journalisten die gesamte Komplexität des Problems erkennen und folgerichtig auch beschreiben, so käme dies einem Verstoß gegen das journalistische Spektakel gleich.

In der Sportberichterstattung herrscht schon seit längerer Zeit in ganz grundsätzlicher Weise ein Konformitätszwang. Viele Journalisten fürchten sich vor den Folgen die politischen Verhältnisse im Sport abweichend vom Konsens darzustellen. Es liegt ein Herdentrieb vor, bei dem die Sozialisation der Sportjournalisten eine große Rolle spielt. Gerade bei der Berichterstattung über die Sportpolitik und über die Verfehlungen und den Betrug, die in diesem Feld anzutreffen sind, fehlt es der großen Mehrheit der Journalisten an einer notwendigen politischen Kompetenz. Hinzukommen fehlende Recherchemöglichkeiten und meist auch mangelhafte Sprachkenntnisse. Der chinesischen oder russischen Sprache ist z.B. so gut wie kein deutscher Sportjournalist mächtig. Die meisten Sportredaktionen der Tageszeitungen schreiben deshalb über Sportnationen wie China, Russland oder über Kontinente wie Südamerika und Afrika, ohne dass ein Mitglied der Redaktion ausreichend landeskundlich gebildet ist und über entsprechende Sprachkenntnisse verfügt. Wenige Leitmedien und Agenturen sind deshalb für die deutsche Sportberichterstattung der meisten Sportredaktionen weg- und richtungsweisend. Unabhängige Beiträge durch freie Journalisten sind immer seltener geworden und selbst freie Journalisten sind vom Gutdünken ihrer Auftraggeber abhängig. Deren redaktionelle Leitlinie orientiert sich meistens am medialen Konsens. Die Dominanz der Leitmedien und der Presseagenturen hat längst dazu geführt, dass die deutsche sportpolitische Berichterstattung meist eine Berichterstattung mit erhobenem Zeigefinger ist. Sie ist klischeehaft und sie gibt sich immer dann als scharf und giftig, wenn es um andere geht. Längst ist auf diese Weise eine Einheitsfront entstanden, die der Idee einer demokratischen und offenen Sportmedienlandschaft eklatant widerspricht. Mit der deutschen Sportberichterstattung steht es ganz offensichtlich nicht zum Besten. Wagt ein Journalist aus dieser Front auszuscheren, wie dies in der jüngst ausgetragenen Auseinandersetzung mit der problematischen Sportberichterstattung der Süddeutschen Zeitung von einem Kollegen gewagt wurde, so kann die Polemik und Diffamierung nicht überraschen, die diese Einheitsfront dem solitären Kritiker entgegenstellt. Dabei kann der vorgetragenen Kritik unter Berücksichtigung der empirischen Fakten wohl kaum widersprochen werden. Es entspricht den Tatsachen, dass sich die Arbeitsbedingungen in fast allen Sportredaktionen der Tageszeitungen im letzten Jahrzehnt erheblich verschlechtert haben. Recherchejournalismus wird dabei immer mehr durch finanzielle Einschränkungen gefährdet. Eine Fortbildung von Sportjournalisten findet heute so gut wie gar nicht mehr statt. Fremdsprachenkenntnisse der Sportjournalisten sind äußerst begrenzt. Das Verfälschen von Nachrichten ist ein Merkmal des täglichen Geschäfts. Nachgelesen werden könnte dies in den inhaltsanalytischen Studien, die der aktuell noch amtierende Vizepräsident des Verbandes Deutscher Sportjournalisten selbst durchgeführt hat. In der Sportberichterstattung wird eine nahezu unerträgliche Redundanz gepflegt. Gleiche Sachverhalte werden ständig wiederholt, ohne dass ein neuer Informationswert zu erkennen wäre.

In der Berichterstattung über den russischen Dopingskandal fällt dies ganz besonders auf. Sachverhalte die längst dargestellt wurden werden als angeblich neue wiederholt. Die sich ständig wiederkehrende Berichterstattung über den IOC-Präsidenten Bach kommt einem Verfolgungsjournalismus gleich. Bach als Freund Putins zu diskreditieren, ohne Belege dafür zu erbringen, ist diskriminierend. Bach’s Beruf als Wirtschaftsanwalt infrage zu stellen kommt einer Infragestellung jeglicher wirtschaftsjuristischer Tätigkeit gleich. Die Athleten als Zeugen der eigenen Bach-Kritik heranzuziehen kann allenfalls als hinterlistig bezeichnet werden. Jeder Journalist weiß, vor welchem Hintergrund von Athleten Aussagen über die Sportpolitik gemacht werden und welche Rolle dabei die Journalisten selbst spielen. Gewissenhafte Journalisten wissen darüber hinaus, dass die Athleten dabei über Sachverhalte sprechen, von denen sie meist notwendigerweise keine Kenntnis haben können. Dennoch macht man sie zu den Kronzeugen der eigenen Kritik.

Eine derartige Sportberichterstattung führt zwangsläufig zu einer Stereotypisierung. Verbände sind eine Ansammlung korrupter und inkompetenter Funktionäre. Athleten sind die Verführten. Sportliche Großereignisse sind eine Ansammlung organisatorischer Desaster. Jede sportpolitische Entscheidung ist eine Fehlentscheidung und jeder Verdacht bedeutet bereits Verurteilung. Wer als Sportjournalist in dieser stereotypen Welt arbeitet und diese auch benutzt, der darf sich nicht wundern, wie peinlich es eigentlich für diese Gemeinschaft von Sportjournalisten sein müsste, wenn die angekündigten „Katastrophenspiele“ von London 2012 plötzlich als die „schönsten Spiele aller Zeiten“ zu bezeichnen sind, wenn Rio 2016 stattfindet, obgleich die Berichterstattung signalisierte, dass die Olympischen Spiele verhindert werden müssen, wenn Personen, die als Angeklagte wie Verurteilte behandelt werden plötzlich vor Gericht freigesprochen werden oder es erst gar nicht zu einem juristischen Verfahren kommt. Es ist schon sehr lange her, als bei solchen Fällen eine Richtigstellung und Entschuldigung erwartbar war. Heute gilt vielmehr, was gestern noch meine Meinung war, ist morgen schon vergessen. Der nächste Skandal kommt gewiss. Kommt er nicht von selbst, so muss eben wieder nachgeholfen werden.

Verfasst: 18.01.2017