Die kurze Karriere des 1. FC Spitalhof

Möhringen ist, wenn man es wohlwollend meint, ein wirtschaftlich bedeutsamer Stadtteil von Stuttgart. Daimler lässt dort in seinem Headquarter planen, entscheiden und hoffentlich werden dort auch weitreichende Denkleistungen erbracht. Stuttgart wichtigste Tageszeitungen werden dort mit jenem Lesestoff gefüllt, der täglich die Bürgerinnen und Bürger Stuttgarts interessiert. Weitere wichtige Firmen wie Hansa, Neoplan und Züblin haben, bzw. hatten dort ihren Firmensitz. Möhringen ist dennoch ein Stadtteil ohne Gesicht. Es gibt wohl eine schöne alte Kirche, den Filderdom, einen kleinen Park und einige versteckte Winkel, in denen es sich lohnt zu verweilen und sich an Vergangenes zu erinnern. Prägend sind jedoch heute die Straßenschneisen, die ungeordneten Siedlungsstrukturen, die Folgen einer chaotischen Modernisierung, wie sie nach dem 2. Weltkrieg über mehr als ein halbes Jahrhundert nicht nur für diesen Stadtteil prägend waren.

Dennoch ist Möhringen jener Ort, den ich als mein Möhringen bezeichnen möchte und mit dem Spitalhof ist jener Ort genannt, der für mich zu meinem Lieblingsort geworden ist. Dies alles hat mit dem Sport zu tun, mit dem Handballspiel, der Leichtathletik, dem Tischtennis, dem täglichen Fußballspiel, mit dem Skilaufen und vor allem mit einer Straßenkultur, wie ich sie habe erleben dürfen, als 1952 Möhringen zu meiner eigentlichen Heimat wurde. Möhringen war zu dieser Zeit noch ein Dorf, aus der Perspektive eines Kindes waren die Entfernungen lang und die Hügel steil. Skilaufen lernte man am „Salatbuckel“, ebenso das Schanzenspringen. War man in seinem Können etwas fortgeschrittener, so war Musberg die Alpinregion, in der man sich mit seinen Kurzschwüngen zu bewähren hatte. Eishockey spielte man auf dem „Probstsee“ und „Riedsee“. Natürlich war die sportliche Aktivität immer nur Anlass für mehr. Man begegnete Mädchen, hatte seine ersten Liebesbeziehungen und immer wollte man auch imponieren, besser sein als die anderen und die modischen Schönheitsideale wechselten genauso schnell wie heute. Einmal waren es die Frisur von Elvis, dann die von James Dean, die wir mit „Brisk“, der damals einmaligen Haarcreme, imitieren wollten. Auch unsere Jugend glaubte cool zu sein und hatte ihren eigenen Jargon. Alles war dabei ständig im Fluss, denn die Modernisierung Deutschlands hatte längst auch das Dorf Möhringen erreicht und war man in der Modernisierung nicht ganz so schnell wie die Nachbarn, so hatte das nicht zuletzt Scham- und Neidgefühle zur Folge. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich mit gesenkten Kopf und gewiss mit Scham erfüllter Röte den letzten Jauchewagen hinaus auf den Acker unseres Nachbarn fahren musste, vorbei an den neu entstandenen Einfamilienhäusern, wo die Mädchen der Parallelklasse wohnten. Hoffentlich erkennen sie mich nicht, hoffentlich werde ich nicht zum Gespött der Klasse. Ein Glück, dass es dann eine Wasserspülung gab und Möhringen über eine eigene Kläranlage verfügte. Auch der Holzofen in Küche und Bad gehörte bald der Vergangenheit an. Auf die Gartenarbeit, auf den von der Gemeinde angemieteten Gartenflächen, war aus der Sicht der Jugendlichen ebenfalls eher ein peinliches Unterfangen, als dass der ökonomische Sinn solchen Tuns für uns einsichtig gewesen wäre. Heute stehen dort moderne Firmengebäude und Bürohäuser. Neue Straßen sind entstanden und moderne Wohnsiedlungen sind hinzugekommen. Alle Felder, Obstwiesen und die kleinen Bäche die Spiel- und Erfahrungsraum für Abenteuer, Kämpfe, Ulk und Spaß boten sind längst überbaut. Vom Dorf Möhringen sind für mich nur noch Erinnerungen geblieben. Die Erinnerungen an den Sport sind dabei für mich ohne Zweifel die wichtigsten. Handball war damals bereits jene Sportart, die stellvertretend für alle übrigen Sportarten, Möhringen als eine besondere Sportgemeinde prägte. Wenn ich mich an diese Zeit in Möhringen erinnere, so darf natürlich eine Person nicht unerwähnt bleiben. Wer als Jugendlicher in den 50er und 60er Jahren beim SV Möhringen Handball spielte, für den gab es vor allem ein Vorbild dessen Ausstrahlung bis in den privaten Alltag reichte. Bernd M. war damals noch nicht jene Persönlichkeit wie sie dann später von vielen in Stuttgart geschätzt wurde. Er war noch nicht der erfolgreiche Nationalspieler, er war noch nicht der erfolgreiche Trainer, er war vielmehr selbst noch ein junger Mensch, der sich auf dem Weg nach oben befand. Er war jedoch bereits jener Athlet, an dem viele Jugendliche aus Möhringen ihr sportliches Handeln orientierten. Als Fußballer schoss er die meisten Tore auf dem alten Sportplatz, wo die Jungen die Alten beobachten konnten und als Leichtathlet war er bereits sehr schnell und als er zu seinem Sport, zum Handball überwechselte, war er schon nach kurzer Zeit, der intelligente und äußerst erfolgreiche Spielmacher in allen wichtigen Spielen. Vor allem war es ihm vergönnt Tore auf einmalige und oft auf geniale Weise zu erzielen. Schon damals war Bernd M. immer mehr als nur ein Athlet, er war eine stolze, selbstbewusste Persönlichkeit, asketisch in seiner Lebensführung, zukunftsorientiert in seinem Handeln und ausgerichtet auf eine persönliche Spitzenleistung, die ihresgleichen sucht. Die Erfolge blieben deshalb auch nicht lange aus. Bernd M. wurde zum herausragenden Spieler des SV Möhringen, zum Auswahlspieler in Stuttgart, auf württembergischer Ebene und in der Deutschen Nationalmannschaft und wo immer er spielte, hinterließ er seine Zeichen. Sehr schnell war klar, dass Bernd M. auch besondere Fähigkeiten in der taktischen Führung einer Handballmannschaft aufzuweisen hatte und wie kein zweiter war er deshalb auch geeignet als erfolgreicher Trainer zu wirken. Handball erlebte in Möhringen seine Blütezeit. Möhringen wurde durch den Handballsport weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. In Freundschaftsspielen wurde deutlich, was mittels des Handballsports möglich ist. Möhringens Handballspieler lernten Spanien kennen, maßen ihre Fähigkeiten in Wettkämpfen mit Tschechen, Jugoslawen, Tunesiern und Ägyptern. Der Möhringer Handball wurde ein Synonym für eine Mannschaftsleistung, in der noch traditionelle Tugenden etwas Besonderes bedeuteten. Echte Freundschaften sind in dieser Zeit entstanden, die bis heute andauern. Mir macht es Spaß, mich nostalgisch an diese guten Zeiten von Möhringen zu erinnern. Doch das, was ich damals im Handballsport in Möhringen habe erleben und erfahren dürfen hat bis heute noch seine Wirkung, es ist nicht nur Erinnerung. Die alte Bundesligamannschaft des SV Möhringen hat in vieler Hinsicht bis heute noch Bestand. Mehrmals in der Woche zu trainieren, in einer Meisterschaftsrunde mitzuspielen, das gehört alles längst der Vergangenheit an und dennoch führte das Fußball- oder Tennisspiel am Freitagabend in den vereinseigenen Hallen, die alten Herren noch regelmäßig zusammen. Die „dritte Halbzeit“ war und ist dabei noch immer das Wichtigste. Die Mannschaftskasse existiert bis heute, wenn gleich die Beiträge aus ganz anderen Verfehlungen und Niederlagen resultieren als dies zur aktiven Zeit der Fall war. Beim „Roten Gaigel“ wurde früher im „Lamm“, heute im „Lindenhof“, die Mannschaftskasse aufgebessert und die traditionelle Weihnachtsfeier in der Weinstube Heeb in Heslach hält eine Kameradschaft wach, die heute im Sport nur noch selten anzutreffen ist. Am zweiten Weihnachtsfeiertag trifft man sich zu einer wunderbaren Tratschrunde in der alten Turnhalle, dort wo man sich zur Bundesligazeiten dreimal in der Woche auf die Spiele am Wochenende vorbereitete, nachdem zuvor beim Weihnachtskick, jene die sich noch solche Risiken leisten können, im Spiel, „Jonge gega de Alde“ sich zu bewähren hatten.

Noch von vielen Möhringern könnte hier berichtet werden. Mit ihnen allen verbindet mich ein optimistisches Lebensgefühl, eine Begeisterung für den Sport und eine alltägliche gelebte herzliche Solidarität. Für mich ist dabei wichtig, dass die Menschen, mit denen ich gemeinsam groß geworden ist, für die der Sport ein wichtiges Medium ihrer persönlichen Entwicklung werden konnte, heute noch auf das Engste miteinander verbunden sind. Der Sport hat damals gezeigt, was er für die jungen Menschen bewirken kann. Es liegt an uns, ob der Sport auch heute noch diese Wirkungen erzielen kann und darf.

Doch warum, ist der Spitalhof mein Lieblingsort und nicht der Sportplatz oder gar die Turnhalle, in der ich viele Stunden meines jungendlichen Lebens beim Training und bei Wettkämpfen verbracht habe. Auch das Vereinshaus des CVJM war ein besonderer Ort der Straßensozialisation. Mexi-Turniere beim Tischtennis waren der schöne Abschluss, wenn man sich zuvor in Einzel- und Doppelspielen mit seinen Gegnern auf der einzigen öffentlichen Tischtennisplatte in Möhringen auseinandergesetzt hatte. Der Spitalhof ist ohne Zweifel jener Ort in Möhringen, dem auch Historiker eine Bedeutung zumessen könnten. Nachdem der Zerfall der Staufischen Macht in der Mitte des 13. Jahrhunderts war das Herzogtum Schwaben in Auflösung begriffen, dabei spielten die Grafen von Württemberg eine zentrale Rolle. Die Reichstadt Esslingen war dabei bemüht, sich dem Einflussbereich dieser Grafen zu entziehen und antwortete deshalb mit einer zielstrebigen Erwerbspolitik. Die wichtigsten Erwerbungen waren dabei der Kauf der beiden Filderorte Möhringen (1295) und Vaihingen (1297). Möhringen kam dabei unter die Herrschaft des Esslingers Spitals und der mauergeschützte Spitalhof war dabei jener Ort, von dem aus Esslingen seine Macht über die Fildern ausübte. Vorne der bekannte Torturm, das Wahrzeichen von Möhringen mit der angebauten Scheuer, Ziehbrunnen, das Wohnhaus des Spitalhofmeisters, die große Zehntscheuer, sie alle prägten über Jahrhunderte das Zentrum Möhringens. Als der Spitalhof mein Lieblingsort wurde, wusste ich nur wenig von der geschichtlichen Bedeutung. Für mich war allenfalls klar, dass im ehemaligen Wohnhaus des Spitalhofsmeisters das Möhringer Heimatmuseum untergebracht war. Der Spitalhof war hingegen für viele Kinder und Jugendliche, die im alten Möhringen wohnten, der wichtigste Ort unserer Straßensozialisation, wie man es heute wohl bezeichnen würde. Nach der Schule, abends, an den Wochenenden war der große Platz im Spitalhof der Treffpunkt für alle Jugendliche. Jugendbanden, allen voran die berüchtigte „Kubler-Bande“ trieben dort ihr Unwesen. Der Spitalhof war nicht zuletzt ein Ort sozialer Integration, denn Möhringen war wie alle Stadtteile Stuttgarts, ein willkommenes Ziel für manche Flüchtlingsfamilie. Batschka- und Banat-Deutsche waren darunter, Donauschwaben, viele kamen auch aus Polen. Es war auch der Ort, für so manches Männlichkeitsritual, nicht zuletzt wurde dort einmal jährlich der Stärkste der Klasse ausgelobt, ein Box- und Ringkampf meist mit schmerzlichen Folgen. Er war also der Ort, wo man sich mit Gleichaltrigen zu messen hatte, im Fußballspiel, bei riskanten Abenteuern und Kletterpartien über die alten Mauern, bei „Besorgungen“ und „Anschaffungen“ in den Obstgärten der Nachbarschaft. Der Spitalhof war immer ein Ort der sich dadurch auszeichnete, dass er heruntergekommen war, dass die Mauern brüchig, die Gebäude renovierungsbedürftig und die Hausmeister widerspenstig waren. Für die Kinder und Jugendlichen machte dies alles den besonderen Charme dieses Platzes und dieser Gebäude aus. Aus der Sicht von heute ist es eigentlich nicht überraschend, dass dieser Ort auch ein wichtiger Ausgangspunkt für mein weiteres berufliches Leben wurde. Ich hatte gerade meinen 13. Geburtstag gefeiert, als dort die Idee entstand, einen eigenen Verein zu gründen. Was war naheliegender, als den 1. FC Spitalhof ins Leben zu rufen. Einer der Gründer ist heute Architekt, er gestaltete damals die Spielerpässe. Unser Schatzmeister, er war später einer der führenden Redakteure bei den Stuttgarter Nachrichten, sorgte, dass unsere Vereinskasse stimmte, und ich selbst wurde als erster Trainer dieses Vereins bestellt. Nur ein Spiel haben wir als 1. FC Spitalhof gespielt danach musste unser Verein sehr schnell seine Insolvenz beklagen. Doch seitdem hat mich der Sport mit seinen freiwilligen Vereinigungen gefangen genommen. An diesem Ort wurden die Weichen gestellt, dass ich mich in meinem weiteren Leben vor allem mit Fragen des Sports beschäftigen sollte. Dem Spitalhof ist es zuzuschreiben, dass ich über viele Jahre zu jener häufig geschmähten, doch wohl unverzichtbaren Gruppe der Funktionäre zählte, die Verantwortung für die Entwicklung des Sports übernommen haben.