Die Donnerstagsradler

Eines der schönsten Häuser von Unterwössen gegenüber vom Rathaus, geschmückt von einem Blumengarten und einer langen Holzbank – gegen 13:20 Uhr trifft dort jeden Donnerstag, wenn es das Wetter möglich macht, nach und nach eine Gruppe graumelierter älterer Herren ein. Jeder ist mit einem hochwertigen Mountainbike ausgestattet und das Outfit der Herren strotzt vor Jugendlichkeit. Wie immer um diese Zeit kommt der Bürgermeister von seiner Mittagspause zurück ins Rathaus, während sich die Senioren nach dem üblichen bayerischen Begrüßungsritual sofort im ersten Männertratsch verlieren, bis der letzte von den sogenannten „Donnerstagsradlern“ eingetroffen ist. Jede Donnerstagstour kommt einer Überraschung gleich, denn es ist Fritz D., der sich, manchmal unterstützt durch den Ratschlag von Hans D., eine spezielle Tour ausgedacht hat, die an die Außentemperatur, das Klima und die jahreszeitlichen Bedingungen anzupassen ist. Ist es kalt und das Wetter eher schlecht, so können es auch nur drei oder vier Donnerstagsradler sein, die sich pünktlich um 13:30 Uhr zu einem Chiemgauerlebnis aufmachen, das keiner von den Teilnehmern jemals missen möchte. Ist keine Ferienzeit und lädt das Wetter auch den unsportlichsten Radfahrer zu einer Fahrradtour ein, so können es auch zehn oder 12 sein, die sich als Donnerstagsradler bezeichnen können. Längst ist es sogar möglich und üblich geworden, dass sich Gäste der Gruppe anschließen. So können dann auch preußische Sprachtöne im Sprachkonzert der Gruppe auftauchen. Je ein sächsischer und schwäbischer Dialektsprecher sind mittlerweile „reingeschmeckte“ Ergänzungen jener Gruppe, die den Kern der Donnerstagsradler bildet.

Die Donnerstagsradler haben ihren Ursprung im Sportverein Unterwössen. Doch längst sind aus Freizeitturnern und Fußballern Radsportler geworden, deren wöchentliche Mountainbike-Tour sich ohne Zweifel durch eine besondere sportliche Komponente auszeichnet. Fritz D. ist der Genius des Teams. Er kennt den Chiemgau, seine Heimat, wie seine eigene Westentasche. Er legt die Touren fest und er kontrolliert die Höhenmeter, die bei jeder Tour erreicht werden. Sein Fahrrad ist bestens gepflegt und er beherrscht die technischen Feinheiten, durch die sich die modernen Mountainbikes heute auszeichnen. Toni G. ist nicht weniger bedeutsam für das Team. Er ist gleichsam dessen Pressesprecher. Zumindest verfügt er über eine Enzyklopädie des Achentals, wie sie wohl vergleichbar niemand sonst aufzuweisen hat. Jede Donnerstagstour wird zu einer heimatlichen und kulturhistorischen Erkundung und bei jeder Tour kann Neues über den Chiemgau, dessen Geschichte, über das Achental und die Entwicklung dieser wunderbaren Naturlandschaft erfahren werden.

Hermann M. prägt ohne Zweifel als Weltbürger und Naturbursche in einer Person das besondere Donnerstagsteam. Er verfügt über eine hohe Ausdauer und über sportliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit denen kaum ein anderer der Gruppe sich messen kann. Aber er weiß auch, wie man ein Fahrrad repariert. Er kennt die Berge nicht nur aus der Ferne, fast alle hat er selbst bestiegen und weiß auch interessantes über deren Geschichte zu berichten.

Jede Donnerstagstour ist dem periodischen Prinzip des Wechsels zwischen Belastung, Regeneration und dem Prinzip der lohnenden Pause gewidmet, was immer so viel bedeutet, dass nach steilen Aufstiegen die verdiente Erholung auf einer Alm eine Leistungssteigerung bei der nächsten Tour in der folgenden Woche ermöglicht. Die Erholungspausen auf einer Alm sind der Höhepunkt des jeweiligen Donnerstags und hier ist Hans D. das psychologische und kommunikative Zentrum des Radlerteams. Mit halblauter Stimme, ja manchmal eher flüsternd, erzählt er die unglaublichsten Geschichten über das Achental, über Hinter-, Ober- und Unterwössen. Er ist ein Holzexperte und ein besonderer Kenner der Waldwirtschaft. Er weiß aber auch spannend und erkenntnisreich zugleich über das Verhältnis der Tiroler aus Kössen zu den Achentalern im Chiemgau zu berichten und seine Erinnerungen an Hinter-, Ober- und Unterwössen, wie sie sich im vergangenen Jahrhundert entwickelt haben, kann wohl kaum von einem Literaten übertroffen werden.

Karl Sch. ist das „Urvieh“ unseres Teams. Mit seinem Bike gehört er zu den Schnellsten. Als einen disziplinierten Biker kann man ihn sowohl bei den Berg- als auch bei den Talfahrten wohl nicht bezeichnen. Zwischenspurts zeichnen ihn ebenso aus wie überraschende Überholmanöver. Wann immer er sich an den Gesprächen beteiligt, treffen seine meist ironischen Kommentare exakt auf den Punkt. Im Schwäbischen würde man ihn als „knitz“ bezeichnen, was so viel heißt, dass er eher raffiniert, schlau und gewitzt einen Ur-Bayer zur Darstellung bringt, der sich jedoch im innersten durch eine außergewöhnliche Liebenswürdigkeit auszeichnet.

Mit der besten Mountainbike-Maschine wartet derzeit Martin D. auf. Am Berg gehört er zu den Besten, gut trainiert, in vielen Sportarten zu Hause führt er unsere Fitnessrangliste an. Auf der Alm ist er der besondere Bierexperte. Ein Zwickel wird dabei in ähnlicher fachmännischer Weise erörtert, wie ein alkoholfreies Bier. Zu meiner Überraschung weiß Martin sogar, wie man den guten Kuchen einer Sennerin mit einem guten Bier kombinieren kann.

Knitz ist auch das Merkmal, mit dem man Willi B. charakterisieren kann. Trotz schwerer Verletzung hat er sich mit kluger Einteilung seiner Regenerierungsmaßnahmen in den letzten zwei Monaten wieder zurück in das Mountainbike-Team gefahren, ist bei jeder Vesperpause für alle Mitglieder unseres Teams einer der liebenswürdigsten Gesprächspartner, der sich wie viele durch eine hohe Bildung auszeichnet, gleichzeitig aber bescheiden und eher ironisch seine Kommentare einbringt, wann immer sie ihm passend erscheinen.

Jürgen D. ist der achte Radler im Team, der sich ziemlich regelmäßig donnerstags um 13:20 Uhr auf der Bank vor dem Haus von Hans D. einfindet. Sind die sieben erstgenannten sogenannte „Einheimische“, so ist er ein Zugereister, der allerdings auch schon drei Jahrzehnte den Chiemgau als seine Heimat bezeichnen kann. Im bayerischen Gesprächskonzert der Donnerstagsradler nimmt sein sächsischer Dialekt eine Sonderstellung ein. Auch kann ihm manches Missgeschick passieren. Wenn seine Batterie nicht ausreichend geladen ist oder sein Toilettengang zu lange dauert, so kann er schon auch einmal als Verlust zu melden sein. Den Heimweg nach Unterwössen hat Jürgen aber immer gefunden. Er interessiert sich für den Chiemgau, ist wissbegierig und erfährt nahezu täglich neue Befunde über die Geschichte Unterwössens. Genau wie der Schreiber dieser Zeilen, der aus dem Schwäbischen stammt, muss auch Jürgen sich damit abfinden, dass es wie in jeder heimatlichen Region Deutschlands sehr lange dauert, bis man wohl willkommen geheißen wird, deshalb aber noch lange nicht „dazu gehört“. Karl Sch. weiß das Verhältnis zwischen Ausländer und Inländer am besten auf einen Nenner zu bringen.  Für ihn beginnt das Ausland bereits in Rosenheim.

Die Radsaison 2017 im Achental und im Chiemgau war nahezu einmalig, denn das Wetter hatte es gut mit uns gemeint. Die Touren der Donnerstagsradler führten ins Achental, hinaus zum Chiemsee, hinüber nach Tirol, auf die Hochplatte und nahezu auf jede heimatliche Alm, auf der freundliche Sennerinnen und Senner für uns die liebenswerten Gastgeber gewesen sind. Die Jochbergalm wurde allein dreimal angefahren, ebenso die Rechenbergalm. Auch der Berggasthof Streichen war ein mehrmaliges Ziel nach langen Touren. In Österreich waren es vor allem die Mühlbergalm und die Frankenalm, wo wir uns mit Leib und Seele erfrischen konnten. Eine unvergessliche Tour ging hinaus in die Vorderalm. Bei einer unserer ersten Frühjahrstouren wurden wir von der neuen Wirtin des Schellenberg Gasthauses begrüßt, die bemüht war uns mit ihrer veganen neuen Speisekarte zu überzeugen. D‘Feldwies in Übersee und die Staffn-Alm sind schon Traditionsziele der Donnerstagsradler. Wenn die Einkehr während unserer Donnerstagstour zu kurz geraten war, so konnte das eine oder andere Mal noch am selben Abend im Schützenhaus, im neuen Raitener Wirt oder im neuen Schmiedbräu der fahrende Donnerstagsstammtisch sitzend fortgesetzt werden und das eine oder andere Mal einen neuen Höhepunkt erleben. Die Touren der Donnerstagsradler können kurz und steil, sie abwechslungsreich belastend und erholend, sie können aber auch lange und von Ausdauer geprägt sein. Zwischen 20-70 Kilometer liegen die Entfernungen, die üblicherweise an einem Donnerstag zurückgelegt werden und bei der jüngsten Tour im November, die auch über die Schneegrenze hinaus mit einer wunderbaren Nebelatmosphäre der Berge bekanntmachte, zeigte der Höhenmesser von Fritz D. 900m. Dies war unsere Rekordhöhendistanz in diesem Sommer. Dass wir dabei in knöcheltiefem Schneematsch zum Schieben der Räder gezwungen wurden, muss auch erwähnt werden. Was den selbstkritisch ironischen Kommentar zur Folge hatte: „Gucked mol her, koi Kuah isch so blöd und ischt jetzt no uf dr Wies. Bloß mir vier alte Esel glaubens besser zu wissen.“

Über das Alter der Donnerstagsradler ist nichts bekannt. Sie sind Ruheständler, ihr Äußeres lässt auf eine Mischung zwischen 60- und 70-Jährigen schließen. Ihre sportliche Leistung übertrifft jedoch die meisten jüngeren Radfahrer. Ein kleiner Motor ist dabei ein wichtiger Partner eines jeden dieser Donnerstagsradler. Doch ohne eigene körperliche Leistung lassen sich 900 Höhenmeter innerhalb von zwei Stunden Fahrtzeit auch mit einem noch so starken E-Bike nicht erreichen. Die Antriebshilfe macht es für die Donnerstagsradler jedoch möglich, Ausblicke zu genießen und Bergerlebnisse zu haben, die ohne diesen hilfreichen Partner nicht mehr möglich wären. Jede Tour ist somit eine Bereicherung des Lebensabends und möchte jemand daran teilhaben, so ist er hierzu herzlich eingeladen.

Verfasst: 15.11.2017