Ein Nachruf
Freundschaften tun Menschen gut. Sie sind in der heutigen Zeit dringender denn je. Die Freundschaft, die Bernd Mühleisen seiner Sportgemeinschaft, der Handballabteilung des SV Möhringen geschenkt hat, war etwas ganz Besonderes. In Möhringen wurden die Worte „SVM“ und „Handball“ zu einem Synonym, das über mehrere Jahrzehnte die Kommunikation in Möhringen, in Stuttgart und weit über Stuttgart hinaus geprägt hat. Dieses Synonym wurde von niemandem anderen so eindrucksvoll verkörpert, wie dies bei Bernd Mühleisen der Fall war. Die Worte „SVM“ und „Handball“ hatten für ihn dabei eine äußerst komplexe Bedeutung.
Handball war für ihn zunächst die wichtigste olympische Sportart, die von ihm selbst auf höchstem Niveau betrieben wurde, in der er der deutschen Nationalmannschaft angehörte, wo ihn technische und taktische Fertigkeiten und Fähigkeiten auszeichneten, wie sie kaum ein Spieler zu seiner Zeit aufweisen konnte. Handball war für Bernd Leidenschaft, Askese, Bereitschaft zum Lernen, Hinwendung mit ganzem Herzen, hartes Training, gewissenhafte Vorbereitung eines jeden Spiels und systematische Analyse der Leistungen seiner Mannschaft und jedes einzelnen Spielers, für den er die Verantwortung als Trainer übernommen hatte.
Doch sehr viel wichtiger als die Entwicklung motorischer, technischer und taktischer Fähigkeiten und Fertigkeiten des Handballspiels war für Bernd dessen soziale Dimension, die er in dem von ihm geliebten Handballsport entdeckt und gesehen hat und der er sich in ganz besonderer Weise verpflichtet fühlte: Für Bernd ging es beim Handballspielen immer auch um Kameradschaft und Freundschaft. Die schönen Worte von Heinz Rühmann treffen kaum auf ein anderes Gefüge von Menschen zu, wie dies für die Handballspieler des SV Möhringen der Fall war: „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt. Ein Freund bleibt immer ein Freund, und wenn die ganze Welt zusammenfällt“.
Dass dem über mehr als sieben Jahrzehnte so war und noch bis heute so ist, ist Bernd zu verdanken.
Die Freundschaft, die uns Bernd geschenkt hat, zeichnete sich durch eine kreative Vielfalt aus.
Kam am Ende des Jahres unsere Handballsaison zu ihrem Ende, so beendete Bernd mit uns gemeinsam das Handballjahr mit einem von ihm organisierten, besonderen Höhepunkt: Bei einem zweitägigen Ausflug ins Hohenlohische – verbunden mit kleinen Wanderungen – ließ er die Wettkämpfe der Saison noch einmal Revue passieren. Einzelne Spieler wurden für ihre besonderen Verdienste ausgezeichnet, und bei gutem Essen und manch einem Glas Württemberger Wein kam es zu Unterhaltungen, an die man sich auch noch heute gerne erinnert.
Bernd ist ja nicht nur der Sohn eines Schneidermeisters gewesen, sondern er war auch der Sohn eines Chorleiters und Vorsitzenden des Möhringer Gesangvereins. Ein besonderes Gesangstalent war ihm somit neben seinem außergewöhnlichen sportlichen Talent in die Wiege gelegt. Und so war für Bernd der gemeinsame Gesang bei den Heimfahrten von Auswärtsspielen und bei den von ihm besonders geliebten gemeinsamen Pfingstausflügen in die Allgäuer Berge oder in den Vorarlberg das besondere Medium, das die Kohäsion unserer Bundesliga-Mannschaft bestens verstärken konnte. Immer wurden bei unseren Busfahrten die Gesangsheftchen von Bernd rechtzeitig verteilt, damit alle lautstark in Lieder wie „Hoch auf dem gelben Wagen“, in Bergsteigerlieder und in viele weitere Volkslieder einstimmen konnten, die wir noch aus dem Schulunterricht kannten.
Bernd wusste, wie kein zweiter, welche Bedeutung die „dritte Halbzeit“ für die Entwicklung einer Mannschaftssportart haben kann. Gerade auch dann, wenn man sich höhere Ziele gesetzt hat, wie dies beim SV Möhringen der Fall war, gehörte für Bernd, neben dem harten Training und den anspruchsvollen Wettkämpfen auch die Begegnung der Spieler außerhalb von Training und Wettkampf zu seiner Konzeption einer modernen Führung einer Bundesligamannschaft. Die „dritte Halbzeit“ war jedoch nicht nur bloße Geselligkeit mit exzessiven Trinkgelagen. Für Bernd war immer wichtig, dass diese „dritte Halbzeit“ den Zusammenhalt der Mannschaft stärkte und dass es dabei kommunikative Inhalte gab, die sich als etwas Besonderes auszuzeichnen hatten. Dazu gehörte der gemeinsame Besuch von sehr schönen Weinstuben in unserer Landeshauptstadt, Fahrradtouren zu besonderen Sehenswürdigkeiten auf den Fildern, Bergwanderungen und das Begehen der schönsten Klettersteige in den bayerischen und österreichischen Alpen. Und für einige Spieler gehörten auch gemeinsame Urlaubsaufenthalte in Südtirol, Österreich und Norditalien dazu.
Sein eigenes, vielfältiges sportliches Talent legte ihm für die Trainingskonzeption seiner Bundesliga- Mannschaft nahe, dass in dieser Konzeption das „Spiel“ mit seinen Techniken und Taktiken das Zentrum der unzähligen Trainingsstunden gewesen ist. Ihm war jedoch immer auch wichtig, dass komplexe sportmotorische Komponenten aus anderen Sportarten in seinem vielfältigen Training berücksichtigt wurden. Hierzu zählten nicht zuletzt auch im Sinne von Teambuilding, Teamentwicklung und zur Festigung der von ihm besonders herausgestellten Kameradschaft untereinander das Kleinfeld-Fußballspiel in der vereinseigenen Trainingshalle. Er selbst und manch einer seiner Mitspieler erreichte dabei höchstes Niveau, und so kam es auch vor, dass sogar Bundesligaspieler des VfB Stuttgart an diesen Spielen teilgenommen haben. Kleinfeld-Fußball gehörte von der ersten Stunde an zu Bernds wichtigsten Trainingsinhalten. Gleiches galt für die leichtathletischen Mehrkämpfe – für Sprint, Wurf und Sprung-, aber auch für den Ausdauerlauf in der freien Natur, in dem er die Grundlage für eine hohe sportliche Leistung im Handballsport sah.
Im Feldhandballspiel sah er nicht zuletzt aus diesem Grund ideale Trainingsmöglichkeiten, die auch dem Hallenhandball zugutekamen. Das Feldhandballspiel hatte für Bernd aber auch eine ganz eigene Identität, und er war diesem besonderen leichtathletischen „Laufspiel“ sein ganzes Leben lang verpflichtet. Im Spiel „eins gegen eins“ gab es wohl nur ganz wenige Verteidiger im deutschen Feldhandball, die dem kurzen Antritt, seinen schnellen „Haken“ und den Finten von Bernd gewachsen waren. Es ist Bernd zu verdanken, dass die Möhringer Handballer noch als „Alt-Herrenmannschaft“, die sich bereits im fünften Lebensjahrzehnt befand, noch mehrfach Meisterschaftstitel bei den Württembergischen Feldhandball- Meisterschaften gewinnen konnten. Er benutzte das Feldhandballspiel aber auch als Vorbereitung für den ab 1960 immer wichtiger werdenden Hallenhandball, in dem er dann mit seiner Mannschaft mit dem Aufstieg in die Bundesliga seinen höchsten Erfolg erreichen konnte. Es sei dabei daran erinnert, dass mit der Gründung der neuen deutschen Handball-Bundesliga der SV Möhringen mit seiner Handballmannschaft die einzige Bundesligamannschaft von Baden-Württemberg gewesen ist, die in dieser höchsten Liga des deutschen Handballsports teilnehmen durfte.
Die erfolgreiche Teilnahme an Stuttgarter Stadtläufen, die in dieser Zeit zehn Tausende von Zuschauern in die Stuttgarter Königstraße locken konnten, war für viele Mannschaftsmitglieder ebenso eine Selbstverständlichkeit wie der Besuch von leichtathletischen Bergfesten auf der schwäbischen Alb, und immer war Bernd dabei der unermüdliche Motivator und für viele auch das sportliche Vorbild.
Zur Pflege der von ihm erwünschten Kameradschaft und Freundschaft gehörte immer auch ein besonderes Kartenspiel, der „Rote Gaigel“. In ihm sah Bernd ein weiteres „Medium“ mit dem der „Geist einer Handballspitzenmannschaft“ gepflegt werden konnte. Er war sich dabei nicht zu schade, selbst der „Anschreiber“ zu sein und später als Bernd die von ihm kreierte Freundschaft der Möhringer Handballer über deren aktive Karriere hinaus auch weiterhin pflegte, war er sogar bereit, auch die Mannschaftskasse zu führen. Damit hatte er ein „Instrument“ an der Hand mit dem er auch ehemalige Spieler immer wieder an seinen SV Möhringen bei Jahresabschlussfeiern, bei Weihnachtsfeiern und sonstigen Ereignissen binden konnte. Der Grundstein hierfür wurde Freitag für Freitag nach dem gemeinsamen Fußballspiel in der Sporthalle des SVM vor allem in der Möhringer Gaststätte Lindenhof gelegt, wo in einem Nebenzimmer ab 21:30 Uhr ein großer Tisch für Bernds Handballtruppe reserviert war und auf dem sehr schnell die rote Farbe der Spielkarten das Sagen hatte.
Ich war zwölf Jahre alt, als ich Bernd als Schüler zum ersten Mal bewusst begegnete. Mit meinen Mitschülern wartete ich an einer Straßenbahnhaltestelle in Stuttgart- Degerloch. Um unsere Wartezeit zu verkürzen, übten wir uns in Balanceakten und im Schersprung auf und über ein Holzgeländer. Plötzlich kam Bernd mit seinem für ihn typischen außergewöhnlich schnellen Schritt ebenfalls zur Haltestelle, um mit uns nach Möhringen zu fahren. Ganz in der Nähe von unserer Schule war Bernd als Textilkaufmann bei einem Stuttgarter Textilbüro tätig gewesen und er befand sich gerade auf dem Nachhauseweg. Als er uns bei unseren Übungen beobachtete, entschied er sich spontan, uns als ein elegant gekleideter junger Mann eine kostenlose Anleitung zum sportlichen Balancieren auf dem Schwebebalken zu gewähren, und er zeigte uns auch, wie hoch man mit der Schersprungtechnik die Holzbarriere überspringen konnte. Ab diesem Tag war Bernd für uns unser Idol.
Danach begleitete Bernd mein Leben über sieben Jahrzehnte. Er hatte – meist unbewusst, aber manchmal auch doch sehr direkt – einen Einfluss auf meinen Lebensweg wie wohl kein zweiter Mensch außerhalb meines Familienlebens. Bernd lebte das für unsere Gesellschaft so wichtige „Prinzip der persönlichen Leistung“ in einer Weise wie es für uns alle nach wie vor ein besonderes Vorbild sein sollte. Seine Persönlichkeit zeichnete sich durch Klugheit, Zielstrebigkeit, Risikobereitschaft, Fairness und einem starken Willen aus. Als Trainer setzte er sich und seinen Spielern klare und realistische Ziele. Er war ihnen gegenüber immer äußerst gerecht und in seinen Entscheidungen äußerst konsequent. Er war ein Autodidakt, wie man ihn vermutlich vor und nach ihm nur ganz selten wird finden können. Für mich gehört Bernd ohne Zweifel zu den größten Persönlichkeiten meiner baden-württembergischen Heimat und weit über diese hinaus. Was ihn für mich zu einem besonderen Menschen machte, hat wohl zunächst mit seinen außergewöhnlichen sportlichen Talenten und seinen herausragenden sportlichen Leistungen zu tun. Doch je länger ich mich als Freund von Bernd habe sehen dürfen, desto klarer wurde mir, dass es vor allem der universell gebildete, weltoffene und interessierte Mensch war, für den vor allem ein gesellschaftlicher Wert die wohl allergrößte Bedeutung hatte: einmal entstandene Freundschaften zu pflegen und zu erhalten.
In den acht Jahrzehnten, in denen sich die Handballspieler des SV Möhringen einer ganz besonderen Freundschaft mit Bernd haben erfreuen können, war dessen Kreativität in Bezug auf diese Freundschaft keine Grenzen gesetzt. Bernd hat uns allen gezeigt, was Freundschaft wirklich bedeuten kann. Dafür werden wir ihm für immer dankbar sein. Und seine Freundschaft mit uns und unsere Freundschaft mit ihm wird ganz gewiss über seinen Tod hinaus weiter bestehen.
Adieu, Bernd! Vielen Dank.
H.D.
Bernd Mühleisen verstarb am 24. Dezember 2024 im Alter von 86 Jahren nach kurzer Krankheit in Stuttgart, wo er auch am 26. Juni 1938 geboren wurde. In seiner außergewöhnlichen Karriere im deutschen und internationalem Handballsport nahm er an drei Weltmeisterschaften teil, die damals noch im vierjährigen Turnus ausgetragen wurden. In 59 Länderspielen erzielte er 171 Tore. In 98 Bundesligaspielen warf er 238 Tore.