Die Reform der Spiele hat erst begonnen

Helmut Digel

Die 33. Olympischen Spiele Paris 2024 haben begonnen und vieles von dem ist in Erfüllung gegangen, was man sich nach all den Problemen, mit denen das IOC in der Vergangenheit  konfrontiert war, von diesen besonderen Spielen in Paris erhofft und gewünscht hat.

Doch bereits nach der ersten Woche dieser Spiele stellt sich für den kritischen Beobachter¹ die Frage, ob die bisher eingeleiteten Reformen ausreichend sind oder ob es nicht doch sehr viel radikalerer Reformen bedarf, will man die Olympischen Spiele zukunftsfähig machen.

Als jemand, der nunmehr sämtliche Olympischen Spiele in den vergangenen 30 Jahren besuchen durfte und dabei auch das besondere Privileg hatte, die jeweils außergewöhnlichen Eröffnungen der Spiele mitzuerleben, die von herausragenden Theaterregisseuren und Künstlern und deren kreativen Ideen geprägt waren, stellt sich nach der Eröffnungsfeier von Paris intensiver denn je die Frage, ob das derzeit vorgeschriebene Konzept der Eröffnungsfeier zukünftig noch tragfähig ist. Unter künstlerischen Gesichtspunkten war diese Eröffnungsfeier wohl eine der außergewöhnlichsten, die ich habe sehen dürfen. Dem Regisseur Thomas Jolly gebührt höchste Anerkennung. Kurzweiliger lässt sich wohl der bei früheren Eröffnungsveranstaltungen viel zu langatmige Einzug der Athletinnen und Athleten aus mehr als 200 Nationen wohl kaum gestalten. Jede einzelne Einlage war spektakulär, hatte außergewöhnlichen Unterhaltungswert und oft auch einen historischen Bezug und eine spezifische Bedeutung, die allerdings für manchen Beobachter nicht nur erklärungsbedürftig waren.

So u.a. die umstrittene „Nachstellung“ des „letzten Abendmahls“, die von Kirchenvertretern wie z.B. dem Kurienkardinal Paglia als „blasphemische Verspottung eines der heiligsten Momente des Christentums“² bezeichnet wurde; aber auch viele Politiker haben sich hierzu mit kritischen Ausführungen zu Wort gemeldet. Inzwischen hat sich das IOC in einer offiziellen Stellungnahme auf X indirekt für etwaige Beleidigungen bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele entschuldigt.³

Für den Zuschauer „vor Ort“, der möglicherweise sich ein teures Ticket gekauft hatte oder der – privilegiert wie ich – auf der Tribüne der eingeladenen Gäste Platz nehmen konnte, war diese Show allerdings auch unabhängig davon mit durchaus zwiespältigen Gefühlen verbunden. Die Inszenierung der Eröffnungsfeier war nahezu ausschließlich den Interessen der Fernsehzuschauer geschuldet, die Zuschauer „vor Ort“ waren dabei lediglich Staffage. Sie waren in der großen Mehrheit mit der ihnen zugewiesen Rolle, zu der sie kein Einverständnis erklärt hatten, meist sehr unzufrieden. Dies war nicht dem Dauerregen zuzuschreiben, der als außergewöhnliche Belastung für die anwesenden Gäste noch hinzugekommen ist. Die wohl in allen Welt-Metropolen anzutreffenden übergroßen Sicherheitsprobleme hatten es für die Zuschauer notwendig gemacht, dass sie sich bereits am frühen Nachmittag auf den Weg zu machen hatten, um auf abgesicherten Routen, begleitet von Polizei und Militär, den historischen Trocadero- Platz von Paris zu erreichen, der mit dem Eiffelturm das Zentrum der Eröffnungsfeier bildete. Die Eröffnungsfeier selbst dauerte fünfeinhalb Stunden, und so waren die Zuschauer in der Regel von 15:00 Uhr bis um 1:00 Uhr in der Nacht unterwegs, um sich das besondere Vergnügen einer Olympischen Eröffnungsfeier zu gönnen. Die zehnstündige Gesamtdauer dieses Vorhabens ist in jeder Hinsicht nicht mehr zeitgemäß und hat meines Erachtens auch keine Zukunft. Insbesondere dann nicht, wenn die TV Interessen höher gewichtet werden als die Interessen der Zuschauer „vor Ort“. Man muss davon ausgehen, dass immer mehr Menschen sich nicht zu einer Staffage einer Fernsehshow degradieren lassen möchten und dabei auch noch überhöhte Eintrittspreise zu bezahlen haben. Deswegen wird vermutlich die Zukunft der Eröffnungsfeier in einer TV Produktion ohne Zuschauer zu suchen sein. KI erzeugte Algorithmen werden dafür sorgen, dass der TV Zuschauer das Gefühl hat, dass tatsächlich auch Zuschauer bei diesem Ereignis „vor Ort“ anwesend sind.

Die zweite und wohl noch wichtigere Frage, die sich bereits nach der ersten Woche der Spiele stellt, ist die Frage nach der Größe und nach dem Ausmaß der Spiele, die diese mittlerweile einnehmen. Nach den wenigen geruhsameren ersten Tagen hat das Ausmaß der täglichen Wettkampfprogramme in einer Weise zugenommen, dass diese völlig unübersichtlich geworden sind und nur noch mit den bereitgestellten digitalen Medien gemeistert werden können. Doch die Gleichzeitigkeit viel zu vieler Ereignisse, die durch die Erweiterung der Spiele und damit des Wettkampfangebotes auch zu einer erheblichen Steigerung der Zuschauerzahlen führte, hat das damit verbundene Unterbringungs- und Transportproblem in Paris nahezu unlösbar gemacht. In der Folge gibt es täglich Klagen über die viel zu langen Anfahrtszeiten zu den Sportstätten, über das allgemeine „Transport- und Verkehrschaos“, über ständige Kommunikationspannen etc., die aus der Sicht der Verantwortlichen übertrieben sein mögen. Man sollte vielleicht als Gast gegenüber dem Gastgeber etwas mehr Verständnis aufbringen, obwohl die erheblichen Probleme weiterhin bestehen bleiben.

In Paris gibt es viel zu viele Volontäre, die ohne spezielle Vorbereitung mit ihrer Aufgabe völlig überfordert sind. Die große Mehrheit der Fahrer , die aus ganz Frankreich angeworben waren, stehen mit ihren Fahrzeugen und Transportmitteln, ohne dass sie in das schwierige Verkehrssystem der Metropole Paris eingeführt wurden, den Gästen zur Verfügung. Ein vorbereitendes „Training“ mit den mit modernen digitalen Technologien ausgestatteten Fahrzeugen, so beklagten es zumindest viele Fahrer, hat es nicht gegeben. Ebenso wurden sie nicht in die Navigationssysteme eingewiesen. Allein deshalb ist an vielen Wettkampfstätten das vorgesehene Abholsystem mit PKWs und Bussen nahezu kollabiert. Man muss noch immer mit langen Wartezeiten bis zu 1 Stunde rechnen, was dazu führt, dass man eingeplante Aufenthalte bei weiteren Wettkämpfen an anderen Sportstätten oft versäumt und deshalb darauf verzichten muss. Insbesondere für die Verantwortlichen aus den Sportorganisationen ist es angesichts dieses Transportproblems nahezu unmöglich, terminliche Verpflichtungen einzuhalten und wahrzunehmen.

Allein die beiden hier beschriebenen Probleme legen es nahe, dass die für die Olympischen Spiele verantwortlichen Funktionäre im IOC sich möglichst schnell an eine Überarbeitung der bisherigen Reformen machen und dabei für die jeweiligen Wettkampftage vor allem Obergrenzen für die Anzahl der Wettbewerbe definieren. Will man die Anzahl der Olympischen Sportarten und die dabei in diesen Sportarten stattfindenden Wettkämpfe nicht reduzieren, was allerdings zwingend zu empfehlen wäre, so wäre vermutlich sogar eine Verlängerung und damit eine gewisse Entzerrung der Spiele sinnvoller als der aktuelle Zustand, der mit der völligen Überladung des Programms entstanden ist.

Die Agenda 2020 und 2020 +5 hat dazu geführt, dass die zukünftigen Spiele nicht notwendigerweise oder gar zwingend in einem „Olympischen Park“ ausgerichtet werden müssen, in dem man kurze Wege von einer Wettkampfstätte zu anderen hat. Olympische Spiele in der Organisationsform wie die von London 2012 oder auch jene von München 1972 gehören der Vergangenheit an. Sie können nicht der Orientierungspunkt für die zukünftige Entwicklung sein und sie sollten deshalb auch nicht ständig zum Vergleich herangezogen werden. Es bedarf neuer Lösungen, wenn man auch künftig weiterhin mit temporären Sportstätten arbeiten will, wie dies in Paris der Fall ist, und wenn auch mehrere Städte eines Landes gleichzeitig Ausrichter der Spiele sein können.

Auch für mich ist es gewöhnungsbedürftig, dass ich nicht mehr bei allen Sportarten und bei möglichst vielen Wettkämpfen dabei sein kann, wie dies bei früheren Spielen der Fall war. Bei den Spielen 2024 gibt es sogar eine Wettkampfstätte auf Tahiti. Ebenso gibt es Wettkämpfe in Lille und Marseille. Denkt man an die Pläne einer deutschen Bewerbung, so könnten es somit auch gleich mehrere deutsche Städte sein, die sich gemeinsam um die Ausrichtung Olympischer Spiele bewerben. Diese Konzeption zukünftiger Spiele ist meines Erachtens richtungsweisend und sinnvoll, doch sie bedarf deshalb auch noch entschiedener Reformen, die sofort nach Beendigung der Spiele in Paris angegangen werden sollten.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter.
²https://www.kathpress.at/goto/meldung/2393143/Vatikan__Weitere_Kritik_an_Teilen_der_Olympia_Er__ffnung
³https://www.blick.ch/sport/olympia/sommer/organisatoren-tuts-leid-ioc-uebermittelt-entschuldigung-fuer-umstrittene- eroeffnungsfeier-id19988735.html