Lebensperspektiven nach dem Spitzensport

Einleitung

Ich möchte meine Überlegungen im Folgenden in etwas ungewöhnlicher Weise gestalten. Ich werde mit einem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe beginnen und mit einer lyrischen Reminiszenz an Hermann Hesse enden. Goethes Gedicht – so meine ich – kann wie kaum eine andere Darstellung das Phänomen des Hochleistungssports kennzeichnen. Es ist ein Liebesgedicht und trägt den Titel ‚Einschränkung‘:

Einschränkungen

Ich weiß nicht, was mir hier gefällt,
in dieser engen kleinen Welt
mit holdem Zauberband mich hält?
Vergeß ich doch, vergeß ich gern,
wie seltsam mich das Schicksal leitet;
und ach, ich fühle nah und fern
ist mir doch manches zubereitet.
O wäre doch das rechte Maß getroffen!
Was bleibt mir nun, als eingehüllt,
von holder Lebenskraft erfüllt,
in stiller Gegenwart die Zukunft zu erhoffen!
(J.W. v. Goethe – Auf dem Walde / 3. August 1776)

Der Hochleistungssport, so meine ich, kommt einer besonderen Liebe gleich und diese Liebe ist durch die Merkmale einer schicksalsgepägten Gegenwart, der Notwendigkeit einer asketischen Lebensführung, des Sich-Einschränkens und der Suche nach dem richtigen Maß geprägt. Vor allem ist diese Liebe wie jede andere Liebe auch durch das Merkmal der Vergänglichkeit gekennzeichnet.

Die Annahme, dass es ein spezifisches Leben nach dem Spitzensport geben könne, erweist sich als irreführend, wenn wir einen Blick auf die höchst unterschiedlichen Lebensweisen verschiedener ehemaliger Spitzensportler werfen. Ich möchte deshalb im Folgenden versuchen, über die Lebensperspektiven von Athletinnen und Athleten nachzudenken, die sich ihnen nach Beendigung einer Karriere im Spitzensport eröffnen. Ein solches Nachdenken kann nur gelingen, wenn man sich ein äußerst genaues Bild von jenem Spitzensport macht, in dem die Athleten gelebt haben. Nur vor dem Hintergrund einer sorgfältigen Phänomenologie des Spitzensports kann es gelingen, die Frage nach dem „Danach“ zu beantworten. Ich werde dabei vorrangig den Begriff der „Lebenswelt“ verwenden, um damit die konkret erfahrbare Alltagswirklichkeit der an dieser Welt Teilhabenden zu kennzeichnen. Die Charakterisierung der Lebenswelt „Spitzensport“ wird dabei durch die Beschreibung einer bestimmten Anzahl von Grundmerkmalen und durch die Kennzeichnung der unterschiedlichsten Rollenträger mit ihren unterschiedlichen Funktionen vorgenommen.

Merkmale der Lebenswelt „Spitzensport“

Der Spitzensport ist per definitionem etwas ganz Besonderes. Er ist eine zeit­lich abgrenzbare Lebenswelt von Menschen, deren Ausdehnung sich fast ausschließlich durch das Kriterium „körperliche Leistung“ definiert. Dabei wird deutlich, dass diese Lebenswelt „Spitzensport“ zeitlich und räumlich höchst variabel sein kann und sich in der Praxis nur bedingt Gesetzmäßigkeiten unterwirft, wie sie von Trainingswissenschaftlern, Sportmedizinern, Sportsoziologen, Sportpsychologen oder Biomechanikern überaus häufig und meist vorschnell konstruiert wurden. Die Lebenswelt Spitzensport weist vielmehr eine sich ständig steigernde Komplexität auf, die sich mit der Kennzeichnung allgemeiner Züge kaum mehr angemessen charakterisieren lässt. Entgegen aller Prognosen von Wissenschaftlern betreiben z.B. Frauen fast jede ehemals nur für Männer als möglich erachtete Sportart. Athleten und Athletinnen übersteigen Leistungsgrenzen, die selbst von Medizinern und Psychologen als unüberwindbar prognostiziert wurden. Das Leistungsalter verschiebt sich in immer mehr Sportarten hinein bis in die vierte Lebensdekade. Man denke nur an den Männer­sprint, verschiedene Ausdauersportarten und an den Reitsport.

Die Lebenswelt „Spitzensport“ unterscheidet sich ganz wesentlich von allen übrigen Lebenswelten. Sie ist geprägt von einem besonderen Abwechslungs­reichtum, von ständigen Herausforderungen und dem ständigen Spiel um die eigenen Möglichkeiten. Es geht dabei um die Grenzen, die einem Menschen gegeben sind. Hochleistungssport kann als Spiel gedeutet werden, bei dem Grenzen zu überwinden sind und das sich durch die Möglichkeit besonders tiefer Glücksgefühle auszeichnet. Erfolg im Spitzensport zu erleben ist gleich­bedeutend mit Erfolgserlebnissen, wie sie kaum in einem anderen Bereich des gesellschaftlichen Lebens zu erfahren sind. Die Erfolgserlebnisse im Spit­zensport sind intensiver, prägen den Betroffenen wesentlich mehr als sonstige Erfolgserlebnisse, machen ihn authentisch, ermöglichen auf diese Weise eine spezifische Form der Ich-Erfahrung und verleihen damit dem Athleten seine persönliche Identität.

Zu den Merkmalen der Lebenswelt „Spitzensport“ gehört auch das Merkmal der Macht, das Merkmal der öffentlichen Bedeutung, die soziale Anerkennung, die Reputation, die einem die Öffentlichkeit gewährt. Für viele Athletinnen und Athleten bedeutet Spitzensport auch sozialer Aufstieg, der durch den sportlichen Erfolg eintritt. Die Welt des Spitzensports ist in gewissem Sinne immer auch eine Scheinwelt, die sich durch besonders luxuriöse Züge auszeichnet. Spitzensport findet heute in einer Glitzer- und Glamour-Welt statt, Athleten leben in Fünf-Sterne-Hotels, fahren schnelle Autos, sind gern gesehene Gäste bei gesellschaftlich wichtigen Ereignissen, leben in einer Beziehungskultur, die dem Athleten manche Tür öffnet, die ihm ohne sein erfolgreiches Engagement im Spitzensport verschlossen bliebe.

Optionen für die Zeit des „Danach“

Hat man all diese Merkmale als bedeutsam für sein Leben erfahren, so ist es naheliegend, dass das Individuum bemüht ist, für sein weiteres Leben möglichst die positiven Merkmale dieser Lebenswelt zu erhalten. Sozialer Aufstieg sollte nicht in sozialem Abstieg enden.

Folgerichtig scheint es auch zu sein, dass Menschen, die diesen Bereich positiv erfahren haben, in ihrem weiteren Leben einen möglichst engen Bezug zu dieser Welt erhalten möchten. Deshalb kann es kaum überraschen, dass sehr viele Athleten nach ihrem Spitzensport in irgendeiner Weise der Lebenswelt des Spitzensports verbunden bleiben.

Grundsätzlich eröffnen sich jedem Athleten nach Beendigung seiner Karriere mindestens drei Lebensperspektiven.

In der ersten Perspektive trennt sich der Athlet radikal von der Welt des Sports. Nicht selten bringt er dies mit dem Austritt aus dem Verein zum Ausdruck und auf Einladungen aus seiner ehemaligen Lebenswelt reagiert er mit Absagen. Sport wird zum Tabu.

Die zweite konträr dagegenstehende Lebensperspektive zeichnet sich dadurch aus, dass der Athlet nach Beendigung seiner Karriere die Lebenswelt des Sports weiter zum zentralen Lebensinhalt macht. Privates und berufliches Leben bleibt an den Sport gebunden.

Die dritte Perspektive zeichnet sich dadurch aus, dass das „Leben danach“ vom „Leben zuvor“, von der Lebenswelt des Spitzensports getrennt wird, dass das berufliche Leben mit der Welt des Spitzensports nur noch wenig zu tun hat, dass aber die Brücken zum Sport bestehen bleiben, dass z.B. der Sport ein wichtiger Freizeitinhalt des ehemaligen Athleten bleibt.

Betrachten wir ehemalige Athleten mit Blick auf die sich eröffnenden Perspektiven, so kann man erkennen, dass es vielen ganz offensichtlich schwerfällt, sich von der Welt des Sports zu trennen. In der Regel halten insbesondere erfolgreiche Athleten Kontakt zum Sport, verdienen durch ihn weiterhin ihren Lebensunterhalt und ihre Umwelt bleibt eine sportspezifische Lebenswelt. Die Wahl, in irgendeiner Weise mit der Lebenswelt des Spitzensports verbunden zu bleiben, kann dazu führen, dass man selbst Trainer oder Manager von Athleten wird, dass man sich ehrenamtlich in Sportorganisationen im Bereich des Spitzensports engagiert, dass man seinen weiteren Erwerb in der Umfeldindustrie des Spitzensports findet, so z.B. als Repräsentant eines Sportartikel-Herstellers. Bei all diesen Aktivitäten ist ein gemeinsames Merkmal zu erkennen: Man ist noch in der Nähe der aktiven Athleten, man ist Teil der großen Spitzensportfamilie, man ist bei den großen Wettkämpfen häufig noch mit anwesend, man kann an eigene Erfahrungen anknüpfen, die man als ehemaliger Athlet machen konnte. Vor allem bleibt jene Mentalität und Sinnlichkeit erhalten, die den Spitzensport in besonderer Weise auszeichnet. Sinnlichkeit sollte dabei durchaus im wahrsten Sinne des Wortes begriffen werden, denn erreicht werden in dieser Nacherfahrung mit dem Spitzensport nahezu all jene Sinne auf eine ebenso authentische und unvergleichbare Weise, wie es noch während der aktiven Zeit der Fall war.

Es gibt aber auch eine große Gruppe von Athleten, die sich von der ehemaligen Karriere als Spitzensportler distanzieren, die ein neues Leben nach Beendigung ihrer Karriere begonnen haben, die gleichsam ein „zweites Leben“ nach dem Sport leben. Es ist dabei verständlich, dass meist nur dann diese Option wahrgenommen wird, wenn der Athlet zumindest das bisherige soziale Niveau erhalten oder den sozialen Aufstieg fortführen kann, der im Spitzensport seinen Anfang hatte. Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass Spitzenathleten, die gleichzeitig ein Studium absolviert haben, eher in den Berufen der entsprechenden Universitätsabschlüsse und nicht in Sportberufen arbeiten, während jene Athleten, die in ihrer Hochleistungskarriere ausschließlich auf den Sport ausgerichtet waren, und damit eine andere berufliche Karriere vernachlässigt haben, durch die Fortführung ihres sportlichen Engagements versuchen, ihren erreichten sozialen Status abzusichern.

Die Zeit des „Danach“ als soziales Problem

Vor dem Hintergrund, dass der Hochleistungssport den Athleten ein äußerst spannendes Leben eröffnet, in dem diese nicht nur viele neue Menschen kennenlernen können, sondern sich auch in einer ständigen persönlichen Herausforderung befinden, wie sie vergleichsweise in keinem anderen Lebensbereich erfahrbar sein dürfte, vor dem Hintergrund der immer noch günstiger werdenden finanziellen Möglichkeiten, des allgemeinen Wohlstandes und der besonderen Konsumereignisse, die den Hochleistungssport umgeben, aber auch vor dem Hintergrund der kulturellen Erfahrungen, der vielen Reisen und Begegnungen, die man im Hochleistungssport machen kann, darf es nicht überraschen, dass die Zeit des „Danach“, wenn sie diese Merkmale nicht mehr aufweist, für manchen Athleten erhebliche Bewältigungsprobleme hervorruft. Depressionen, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, berufliches Versagen, sozialer Abstieg im weitesten Sinne, so wie er in einigen Fällen ehemals erfolgreicher Athleten dokumentiert ist, sind strukturell gesehen nicht als eine besondere Überraschung zu bewerten, sondern sie sind Teil der Logik des Spitzensport-Systems.

Ist die Zeit des „Danach“ mit solchen sozialen Problemen belastet, so stellt sich die Frage nach möglichen präventiven Maßnahmen, nach angemessenen Pro­blemlösungen. In der bisherigen Diskussion wird das angebliche oder tatsäch­lich vorhandene Problem meist mit einer Vorwurfsdebatte verbunden. Schul­dige sind dabei die Verbände, der Staat, die Wirtschaft, die Medien und alle übrigen Beteiligten im System des Spitzensports. Die Unschuldigen sind die Athleten. Die Vorwürfe werden stellvertretend für Athleten meist von Pädagogen, von Intellektuellen, von Sportwissenschaftlern und teilweise von den Athle­ten selbst vorgetragen.

Betrachtet man diese Debatte etwas genauer, so fällt auf, dass die Frage nach dem „Danach“ und die dazugehörige Frage nach dem verantwortbaren „Zuvor“ auf eine ungenaue Weise diskutiert wird, dass sich die Diskussionen über diese Fragen durch vorschnelle Bewertungen auszeichnen und dass dabei vor allem die Problematik immer nur aus der Sicht der Athleten in den Blick rückt. In der Lebenswelt „Spitzensport“ sind jedoch eine Vielzahl von Rollen und Positionen anzutreffen und ein Leben nach dem Spitzensport gibt es für alle Beteiligten des Spitzensports gleichermaßen. Will man das Problem umfassend diskutieren, so müssen z.B. auch die Lebensperspektiven der Funktionäre nach Been­digung von deren Verantwortlichkeit im Spitzensport diskutiert werden. Aber auch die Lebensperspektiven der ehemaligen Trainer, Manager, Ärzte, Physiotherapeuten, Biomechaniker, Trainingswissenschaftler und aller übrigen Experten, die im System des Hochleistungssports heute mitwirken, sind zu beleuchten, wenn die Frage des „Danach“ umfassend gestellt werden soll.

Lebt und arbeitet man z.B. als Funktionär im Bereich des Spitzensports, so ist dieses Leben und Arbeiten in vergleichbarer Weise mit positiven wie mit negativen Erfahrungen verbunden, wie dies auch bei den Athleten der Fall ist. Der Spitzensport ermöglicht manchem Funktionär Annehmlichkeiten, die ihm außerhalb seines Funktionärslebens nicht eröffnet würden. Betrachte ich mich selbst, so ist mir durch mein Engagement im Spitzensport eine Lebenswelt erschlossen worden, die sich ganz wesentlich von den mir zuvor zugänglichen Lebenswelten unterscheidet. Wettkämpfe finden weltweit statt; Teilnahme bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften ermöglichen kulturelle und touristische Erlebnisse, die man als Funktionär ohne eine Einbindung in das Spitzensportsystem nicht hätte. Das Konsum- und Lebensniveau gestaltet sich im Spitzensport für manchen Funktionär in völlig neuer Weise. Dem Funktionär eröffnen sich Kommunikationsmöglichkeiten mit Führungspersönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, die ohne die Ausübung einer Funktionärsrolle nicht denkbar wären. Dies muss nicht notwendigerweise zum persönlichen Vorteil des Funktionärs führen, doch ist unzweifelhaft, dass sich über das Funktionärshandeln die sozialen Netzwerke erweitern und bei geschickter Handhabung dieser Netzwerke auch ein sozialer und kultureller Nutzen zugunsten des Funktionärs bilanziert werden kann. Die interessante Welt des Spitzensports kann für den Funktionär in ähnlicher Weise wie für den Spitzenathleten zu Ende gehen. Es kann ein höchst überraschendes Ende sein. So wie ein Athlet möglicherweise durch eine schwere Verletzung seine Karriere plötzlich zu beenden hat, so wird der Funktionär überrascht, dass er bei einer Wahl nicht mehr akzeptiert wird, keine Mehrheit findet, abgewählt wird, nach Hause gehen muss. Von heute auf morgen ist die Welt des Spitzensports für den Funktionär in weite Ferne gerückt. Der Funktionär kann aber auch seinen Abschied planen, seinen Nachfolger vorbereiten und ähnlich wie der zukunftsorientierte Athlet selbst Vorsorge treffen für die Zeit nach Beendigung seiner Funktionärstätigkeit. Die Zeit des „Danach“ kann sich für den Funktionär mit ähnlichen Merkmalen zeigen, wie für den Athleten. Privilegien, die er einstmals hatte, sind nicht mehr vorhanden. Hotels, die zuvor dem Funktionär offenstanden, sind in unerreichbare Ferne gerückt. Zu Empfängen und öffentlichen Veranstaltungen wird er plötzlich nicht mehr eingeladen, als Fernsehzuschauer wird er zu Hause passiver Teilhaber an seiner einstmals eigenen Welt des Hochleistungssports. Auch für den Funktionär – so ist zu vermuten – sind solche Erfahrungen schmerzlich. Seine Erfolge werden ebenso schnell vergessen wie die des Athleten. Nur bei sogenannten runden Geburtstagen und Erinnerungsjahren denkt man an die Arbeit des ehemaligen Funktionärs. Meist hat die Würdelosigkeit im Umgang mit den Ehemaligen ihren Höhepunkt erreicht, wenn in peinlichen Grabreden die Leistungen und die Fähigkeiten des Funktionärs glorifiziert werden, wobei damit weder den Hinterbliebenen geholfen wird, noch der Sache gedient ist.

Der Trainer steht während seiner aktiven Zeit in einer ganz engen Beziehung zum Athleten. Er steht wohl immer im Hintergrund des erfolgreichen Athleten, doch längst nehmen Trainer auf äußerst intensive Weise – sind ihre Athleten erfolgreich – die Sonnenseite des Spitzensports wahr. Auch Trainer sind im System des Hochleistungssports Privilegierte. Dies gilt vor allem für Profisport­arten. Denkt man an die Bundesligatrainer in Deutschland oder an die Fußballtrainer in allen Staaten der Welt. Aber auch in einer Sportart wie der Leichtathletik haben jene Trainer, die internationale Erfolge aufweisen, Privi­legien in Bezug auf Konsum, Lebensstil, Kultur und Reisen und auch ihnen eröffnen sich zwischenmenschliche Erfahrungen, die dem normalen Bürger meist vorenthalten werden. Deshalb kann es nicht überraschen, dass auch Trai­ner, die in ihrer Trainertätigkeit einem Ende entgegengehen, unter Entzugserscheinungen leiden.

Das Erlebnis der Ersetzbarkeit und Nicht-Einmaligkeit gibt es gewiss auch bei Sportärzten und Physiotherapeuten. Sie befinden sich wohl in der Regel auf der Hinterbühne des Hochleistungssports, diese Hinterbühne ist jedoch immer noch attraktiv genug, dass in dieser Lebenswelt Sportärzte und Physiotherapeu­ten in aller Regeln nicht freiwillig aus dem System des Hochleistungssports ausscheiden. Müssen diese Experten zurück in den Bereich des „Normalen“, so ist diese Rückkehr meist mit Enttäuschung verbunden.

Der Hochleistungssport ist etwas Ungewöhnliches, jeder, der sich in diesem besonderen Bereich engagiert, profitiert von dessen Exklusivität. Hört diese Welt für die Betroffenen auf zu existieren, so wird dies als schmerzlicher Verlust wahrgenommen. Nur wenige schaffen den Übergang, ohne dabei mit einer gewissen Trauer auf die Zeit des Mitwirkens im Hochleistungssport zurück­zublicken.

Werden – wie ich es eben versucht habe – die übrigen Beteiligten aus der Lebenswelt des Spitzensports in die Analyse einbezogen, so darf dies freilich nicht zu der Annahme verleiten, dass sich das Problem unter existentiellen Gesichtspunkten für alle gleichermaßen darstellt. Es gibt gute Gründe, den Spitzenathleten in seiner Sonderstellung zu betrachten. Der Funktionär kann nach Beendigung seiner Funktionärslaufbahn zurück in seinen Beruf, seine soziale Sicherheit ist damit gewährleistet. Der abberufene Sportmediziner geht zurück in seine sportmedizinische Praxis, ohne existentiell gefährdet zu sein. Gleiches gilt für den Physiotherapeuten. Für die große Mehrzahl der Trainer ist es möglich, in nachgeordneten Ligen oder mit Vereinsgruppen auf mittlerem oder unterem Niveau ihrer Tätigkeit als Trainer fortzusetzen.

Dennoch: Das Problem, von dem hier zu sprechen ist, ist offensichtlich von überaus komplexer Natur. Die Ausweitung des Blicks vom Athleten auf alle Beteiligten im Hochleistungssport soll dies nahelegen. Damit ist freilich noch lange nicht die Frage beantwortet, ob das Problem jene Relevanz besitzt, wie sie in den Vorwürfen beansprucht wird, die gegenüber dem Spitzensportsystem erhoben werden. Betrachtet man die individuellen Trauergeschichten von ehemaligen Athleten, Trainern, Ärzten, Physiotherapeuten, Funktionären und Wissenschaftlern nach Beendigung ihres Engagements im Spitzensport, so könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass hier ein gesellschaftliches Problem vorliegt, das einer besonderen Problemlösung bedarf. Diese Annahme ist weit verbreitet, insbesondere dann, wenn von Sportwissenschaftlern über die Pro­blematik der Verantwortung gegenüber den Aktiven gesprochen wird.

Wissenschaftliche Befunde und Empfehlungen

In der sportwissenschaftlichen Literatur ist es mittlerweile üblich geworden, das Problem der Beendigung der Karriere eines Spitzensportlers mit den Begriffen ‚retirement‘ und ‚drop-out‘ zu beschreiben. Mit dem Begriff des ‚retirement‘ wird der Rückzug aus dem aktiven Spitzensport gemeint. Der Athlet hat seinen Leistungshöhepunkt erreicht und er zieht sich freiwillig zurück. Das Ende seiner sportlichen Laufbahn ist dabei in gewisser Weise ein normales Sozialisationsereignis. Mit dem Begriff ‚drop-out‘ wird hingegen jenes Ende benannt, das vor dem leistungssportlichen Höhepunkt der Karriere stattfindet. Der Athlet zieht sich aus dem Spitzensport zwangsweise zurück. Ein solcher Rückzug geht ein­her mit dem Erleben von Versagen und negativen Gefühlszuständen, denn der Karriereabbruch war nicht erwartbar. Der Athlet erlebt ihn als Misserfolg. Die wenigen empirischen Untersuchungen, die zu diesen Problemen bislang vorlie­gen, so u.a. die Studien von Alfermann, Singer, Bußmann und Sack, kommen nahezu übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass insbesondere die vorzeitige Laufbahnbeendigung als kritisches und krisenhaftes Lebensereignis von Athle­ten erlebt wird. Das Phänomen des ‚drop-out‘ kann sich dabei über Wochen, Monate, ja über Jahre hinziehen. Die entscheidende Frage ist dabei wohl, inwiefern es für den Athleten Alternativen gibt, nachdem seine Spitzensport­karriere im Misserfolg endete. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Probleme kommen die Sportwissenschaftler zu der Feststellung, dass eine Nachsorge dringend erforderlich erscheint. Alfermann und Bußmann meinen z.B., dass allen Spitzensportlerinnen und -Sportlern, die ihre sportliche Laufbahn beendet haben, eine mindestens einjährige Nachbetreuung im medizinischen, psycho­logischen und sozialen Bereich angeboten werden sollte.

Eine Antwort auf die Frage nach den Lebensperspektiven nach der Zeit des Spitzensports zu finden, ist jedoch für die Sportwissenschaft eine besonders schwierige Herausforderung. Allgemeine Antworten verbieten sich, zumindest werden sie für die Lösung der anstehenden praktischen Probleme nicht hilfreich sein. Spezifische Antworten sind für die Sportwissenschaft hingegen nur sehr schwer zu finden, da sich das zu lösende Problem als äußerst differenziert darstellt. Begrenzt ist dabei vor allem der Zugang in das Problem. Das Problem muss sportartspezifisch abgearbeitet werden und innerhalb der Sportarten stel­len sich für eine angemessene Bearbeitung ebenfalls eine Reihe von Hinder­nissen, die nur mit großen Mühen zu überwinden sind.

Das entscheidende Problem, das sich bei der Beantwortung der Frage für die Sportwissenschaft stellt, ist darin zu sehen, dass sich prinzipiell das Problem des „Danach“ als ein individuelles Problem erweist. Hartwig Gauders Schicksal nach Beendigung seiner olympischen Leichtathletik-Karriere hatte eine ebenso einmalige Qualität wie die von Harald Schmid gefundene Lebensstrategie, nachdem er die große Bühne hatte verlas­sen müssen. Ralf Reichenbachs Post-Leistungssport nahm einen anderen Weg als der seines langjährigen Konkurrenten Gerhard Steines.

Betrachten wir die Sportarten im Vergleich, so scheint es einige Sportarten zu geben, in denen sich das Problem des „Danach“ kaum als ein Problem dar­stellt, weil das „Danach“ ganz offensichtlich problemlos gelingt. Beispielhaft sei das Fechten erwähnt. Es ist eine Sportart, in der es ganz offensichtlich möglich ist, sportliche Spitzenleistungen zu erreichen und gleichzeitig den Übergang in Spitzenpositionen in der Gesellschaft zu schaffen. Emil Becks Aufstellung über die Karrieren seiner ehemaligen erfolgreichen Fechter war hierzu ein beispielhaf­tes Dokument. Rudern und Hockey könnten als weitere Beispiele dienen. Je professioneller eine Sportart betrieben wird, je mehr das große Geld in einer Sportart eine Rolle spielt, desto schwieriger, so ist zu vermuten, ist das Pro­blem des „Danach“ zu lösen. Die Ballsportarten scheinen dabei zunehmend von diesem Problem nicht mehr betroffen zu sein. Im Fußball kann man bis in ein mittleres Lebensalter hinein in zweiten, dritten oder vierten Ligen noch sehr viel mehr Geld verdienen, als es in jedem anderen Beruf für den ehemaligen Fußballer möglich wäre. Spielertrainer-Karrieren reichen bis in die fünfte Lebensdekade hinein; ähnliche Verhältnisse wie im Fußball zeichnen sich für den Handballsport, für Basketball und Volleyball ab. Auch im Tennissport kann man ohne Mühen seine Karriere als gut bezahlter Tennistrainer fortsetzen. Das eigentliche Problem stellen die Individualsportarten dar, und hier vor allem Sportarten wie Leichtathletik und Schwimmen. Dort sind die Leistungen exakt messbar und eine Fortsetzung der Karriere mit nachgeordneten Leistungen unter Erwerbsgesichtspunkten ist nicht denkbar. Allenfalls kann man in den Seniorensport überwechseln, doch dann ist Spitzensport zum Freizeitsport geworden.

In der sportwissenschaftlichen Diskussion wird in diesem Zusammenhang häu­fig – in Anlehnung an Heinilä – von einem Prozess der Totalisierung des Spit­zensports gesprochen. Die These von der „Totalisierung des Spitzensports“ hat gewiss eine bestimmte Berechtigung. Wird sie dahingehend gedeutet, dass immer höhere sportliche Leistungen zwangsläufig zur Notwendigkeit immer umfangreicherer Trainingsmaßnahmen führen, so kann diese These zumindest für einige olympische Sportarten bestätigt werden. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass es in der Zeit der aktiven Karriere eines Spit­zensportlers in den vergangenen dreißig Jahren zu einer dynamisch wachsen­den Zeitknappheit gekommen ist. Diese Zeitknappheit wird bedingt durch eine erhöhte Wettkampfdichte, durch höhere Trainingspensen und durch Tendenzen zum Zeitdiebstahl, wie sie für alle übrigen Menschen in unserer Gesellschaft gelten. Das besondere Problem vieler Athleten ist dabei, dass sie sich aufgrund der Totalisierung immer entschiedener auf ihre sportliche Laufbahn zu konzen­trieren haben. Der Blick auf die Zeit nach der Laufbahn und damit eine mögli­che berufliche Vorbereitung für diese Zeit während des Hochleistungssports wird immer unwahrscheinlicher. Während der sportlichen Karriere findet somit eine Professionalisierung hin zum Berufsathleten auf Zeit statt, die jedoch kaum noch eine Ausrichtung auf die Zeit danach ermöglicht.

In einer Untersuchung zu nachsportlichen Karriereverläufen wurde von Hackfort, Emrich und Papathanassiou festgehalten, dass sich die Übergänge zwischen einzelnen Karrierestationen als individuell erweisen und in vielen Fällen durch Zufälle und glückliche bzw. unglückliche Konstellationen bestimmt werden. Standardisierte Karriereverläufe im Sinne sozial vorgeformter Verlaufsmuster seien somit eher die Ausnahme. Ferner wird festgestellt, dass der Rückgriff auf systemimmanente und teilweise in festen Positionen verankerte Hilfen zur Bewältigung von karrierespezifischen Übergängen und kritischen Ereignissen sich als zufallsabhängig erweisen. Das Angebot zugunsten der Spitzensportler war nicht systematisch, dauerhaft und zweckmäßig organisiert und stand nicht mit einer verlässlichen Qualität zur Verfügung. Schließlich wird konstatiert, dass formal organisierte, sportinterne Beratungsinstanzen, die bei der Vereinbarung der sportlichen mit der beruflichen Karriere helfen könnten, für die Untersuchten nicht existierten. Stellvertretend für die Ergebnisse, wie sie in der Sportwissen­schaft zu diesem Problem vorgetragen werden, sei aus dieser Untersuchung noch folgendes Zitat erwähnt: „Ein wichtiges und für manchen auch überra­schendes Ergebnis ist, dass entgegen der immer wieder behaupteten Solidarität der großen Sportfamilie die interviewten Athleten eine soziale Verantwortung durch Vertreter des organisierten Sports in Krisensituationen für den Spitzen­sportler kaum wahrgenommen haben.“ Bei all diesen Ergebnisdarstellungen wird deutlich, dass sich die Forscher das Gegenteil wünschen würden.

Deshalb wird nicht nur von diesen Wissenschaftlern die berufliche und soziale Absicherung der Athleten gefordert. Diese Forderung wird meist auf alle Spit­zensportler ausgeweitet, wobei vor allem jene Athletinnen und Athleten beach­tet werden sollen, denen der große sportliche Erfolg versagt geblieben ist, ohne deren Beteiligung das System des Spitzensports jedoch nicht möglich wäre.

Innerhalb des Systems des Hochleistungssports haben sich – als Reaktion auf eine solche Forderung – in den vergangenen Jahrzehnten eine ganze Reihe von Einrichtungen und Institutionen entwickelt, die u.a. die Aufgabe haben, mögliche Probleme im beruflichen und finanziellen Bereich von Athleten zu lösen. Dazu gehören z.B. für die Gruppe der Schüler die Sportinternate, für die jungen erwachsenen Athleten die Bundeswehr, die Stiftung Deutsche Sporthilfe und die Einführung des Laufbahnberaters in den Olympiastützpunkten.

Solche Forderungen und Lösungsbemühungen haben längst den Charakter einer „unendlichen Geschichte“ angenommen und in unregelmäßigen Abstän­den werden von Kulturkritikern, Sportpädagogen, Sportwissenschaftlern und Sportpolitikern nahezu identische Forderungen vorgetragen, die jedoch trotz ihrer Redundanz kaum Wirkung erzielen können.

Die naheliegendste Frage, die sich uns dabei stellt, ist jene, warum die vielen Bemühungen der vergangenen Jahre meist erfolglos geblieben sind und das Problem der sozialen Absicherung der Athleten nicht in jener Weise gelöst wer­den konnte, wie es von den Initiatoren der entsprechenden Hilfsprogramme gewünscht wurde.

Spitzensport heißt: Erfolg im Hier und Jetzt

Ein wichtiger Grund für das Scheitern der bisherigen Bemühungen ist meines Erachtens darin zu suchen, dass die Realität des Spitzensports sich per definitionem durch eine besondere Hier- und Jetzt-Orientierung auszeichnen muss. Der Athlet findet dann Anerkennung, wenn er beim sportlichen Wettkampf erfolgreich ist, und er bleibt unbeachtet, wenn er in Wettkämpfen nur auf den hinteren Rängen landet. Im System des Spitzensports werden gute Leistungen belohnt, Niederlagen führen hingegen zum Entzug von Gratifikationen. Es zählt dabei immer nur der nächste Wettkampf und im Blickpunkt sind immer nur jene Athleten, die heute leistungsfähig sind und die für morgen noch Erfolge versprechen. Die Funktionäre, die Trainer, die Medien, die Öffentlichkeit, die Politiker und alle übrigen Beteiligten im Spitzensportsystem sind dabei aus­schließlich auf jene Athleten fixiert, die heute – im Hier und Jetzt – leistungsfähig sind. Eine Ausnahme machen lediglich die Ärzte, Psychologen und Physiotherapeuten und – sofern es sie gibt – die Sportpfarrer. Nicht nur in Deutsch­land ist das gesamte System des Spitzensports in einer durchaus als totalitär zu bezeichnenden Weise am Erfolg orientiert. Heiniläs Kennzeichnung des Spitzensports ist heute nach wie vor gültig. Der sportliche Erfolg wird definiert über Medaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften, Nominierungskriterium für die Teilnahme bei internationalen Wettbewerben ist die quali­fizierte Endkampfchance. Das Nationale Spitzensportkonzept des Deutschen Sportbundes ist an einem für jedermann nachvollziehbaren Belohnungssystem ausgerichtet. Erfolgreiche Verbände erhalten mehr Geld als weniger erfolgrei­che Verbände; erfolgreiche Trainer erhalten höhere Prämien als die weniger erfolgreichen; erfolgreiche Athleten werden höher belohnt als die weniger erfolgreichen. Ähnlich definieren die Partner aus der Wirtschaft ihre Beziehung zum System des Spitzensports. Die Sportausrüster erhöhen die Prämien beim Erfolg, kündigen die Verträge bei Misserfolg. Die Partner aus der Wirtschaft offerieren Sponsorenverträge den Erfolgreichen; hören Erfolge auf, so werden die Verträge gekündigt. Alle Erwartungen, die an den Athleten herangetragen werden, sind erfolgsorientiert. Werden die gesetzten Ziele nicht erreicht, so drohen Konsequenzen. Entspricht ein Beteiligter im Hochleistungssport nicht mehr diesen Erwartungen, so wird er aussortiert und mit seinen individuellen Problemen, die durch seine Trennung vom Hochleistungssport entstanden sind, allein gelassen.

Dies alles mag bedauert werden und nicht zuletzt gibt es eine verständliche Klage über die äußerst unpersönliche Kommunikation, die z.B. am Ende einer Spitzensportkarriere zu beobachten ist, wenn sich z.B. ein Verband, die Stif­tung Deutsche Sporthilfe oder der Bereich Leistungssport des DLV von ehe­mals erfolgreichen Athleten verabschiedet. Meist ist es ein Standardbrief, in dem mitgeteilt wird, dass der Athlet nunmehr nicht mehr der Gruppe der zu fördernden Athleten angehört und deshalb die Überweisungen eingestellt wer­den. Bei besonders erfolgreichen Athleten findet noch eine rituelle Verabschie­dung statt, doch auch diesbezüglich wird längst darüber gestritten, ob solche Verabschiedungen noch zeitgemäß sind. Ein Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bundes hatte vor Jahren bereits hingewiesen, dass Abschieds­spiele für Fußball-Nationalspieler ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Vor dem Hintergrund der absehbaren finanziellen Probleme waren Abschiedsspiele einst als Finanzierungshilfe für den Übergang des ausscheidenden Athleten gedacht. Heute haben Profispieler solche Finanzhilfen nicht mehr nötig. Ich selbst war acht Jahre für eine olympische Sportart in Deutschland verantwortlich. Mein Führungshandeln war dabei fast ausschließlich auf die Aufgabe ausgerichtet, den Mitgliedern unserer Leichtathletik-Nationalmannschaften optimale Trainings- und Wettkampfbedingungen zu ermöglichen, damit diese möglichst große Erfolge bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften, bei den Europameisterschaften und beim Europa-Cup erreichen können. Der größte Teil meiner Arbeitskraft war ausgerichtet auf die finanzielle Absicherung der alltäglichen Spitzensportarbeit. Meine nahezu täglich stattfindenden Verhandlungen und Korrespondenzen mit dem Staat, mit den Dachorganisationen des Sports, mit den Sponsoren, mit den internationalen Gremien, mit den Mitgliedsorganisationen waren fast ausschließlich an diesem Ziel orientiert. Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Abteilung Leistungssport des DLV waren an 365 Tagen im Jahr mit Planungs- und Durchführungsaufgaben betraut, die kein anderes Ziel verfolgen, als die Lei­stungen unserer Athleten bei internationalen Vergleichen abzusichern. In der öffentlichen Meinung wird die Arbeit eines olympischen Spitzenverbandes fast ausschließlich an den Erfolgen seiner Nationalmannschaften gemessen. Sind die Athleten bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen erfolg­reich, so wird die Verbandsarbeit gelobt, bleiben Erfolge der Athleten bei Großereignissen aus, so wird die Verbandsführung in Frage gestellt. Um Fra­gen der sozialen und beruflichen Absicherung der Athleten kümmern sich Spitzenverbände nur am Rande. Angesichts der nahezu ausschließlichen Orientierung auf den sportlichen Erfolg kann eine hauptamtliche Arbeit zugunsten dieser Belange nicht finanziert und organisiert werden. Ich selbst schrieb am Ende von erfolgreichen Leistungskarrieren jenen Athleten einen persönlichen Brief, die ich selbst habe kennenlernen dürfen. Die vielen unbekannten Athleten, die jedoch nicht als Stars ihre Karriere beenden, konnten von mir nicht bedacht werden, weil ich sie nicht kannte. Wobei auch diesen eine symbolische Geste des Verbandes ebenso wenig eine Hilfe für die Zeit des „Danach“ bedeuten würde, wie dies für die erfolgreichen Athleten der Fall ist. Ich habe volles Ver­ständnis, dass viele Athleten beklagen, wie schnell sie nach Beendigung ihrer Karriere in Vergessenheit geraten sind. Meist vergisst man sogar, sie bei großen Meisterschaften auf Kosten des Verbandes einzuladen. Immer häufiger ist dies nicht einmal auf Vergesslichkeit, sondern auf das ökonomische Kalkül von Veranstaltern zurückzuführen.

Es ist wichtig, dass solche Zustände von Kulturkritikern gegeißelt werden. Für mich spiegeln diese Zustände jedoch lediglich die Logik des Systems des Hochleistungssports wider. Genau in dieser Logik ist die Ursache zu suchen, warum die vielen Problemlösungsversuche und die vielen Wünsche in Bezug auf die soziale Betreuung und berufliche Absicherung von Athleten meist nicht gelingen können. Spitzensport, so wie wir ihn kennen, findet in einer kapita­listisch orientierten Leistungsgesellschaft statt. Die Zeit des „Danach“ wird in diesem Spitzensport in gleicher Weise geregelt, wie dies für die kapitalistische Gesellschaft im Bereich des Arbeitslebens üblich ist. Des einen Ende ist des anderen Anfang. Die Leistungsgesellschaft ist auf die Unendlichkeit hin konzi­piert. Auf den alten Athleten folgt der neue junge, auf den alten Funktionär der neue junge, auf den alten Trainer der neue junge. Die Olympischen Spiele in Rio gehen zu Ende und schon blickt man auf die nächsten Olympischen Spiele von Tokyo. Gerade noch wurde die Bilanz über die letzten Weltmeisterschaf­ten vollzogen, schon wird gefragt, ob man auch bei den nächsten Europameisterschaften noch erfolgreich sein kann. Im Hochlei­stungssport wird gleichsam täglich Sportgeschichte produziert. Der gerade ausgeschiedene Athlet ist bereits beim nächsten Wettkampf nur noch Geschichte. War er besonders erfolgreich, so wird er Thema legendärer Berichterstattung, hatten seine Leistungen keine historische Qualität, so findet er sich lediglich in ewigen Bestenlisten wieder.

Die sozialen Probleme des Spitzensports sind allgemeiner Natur

Betrachten wir die vorliegenden Analysen und Empfehlungen zum Problem des „Danach“, so wird in diesen meist unausgesprochen die Annahme vertreten, dass die Lebenswelt „Spitzensport“ spezifische Merkmale aufweise und sie des­halb einer spezifischen Problemlösung durch entsprechende spezifische soziale Institutionen bedürfe. Diese normativen Vorgaben sind meines Erach­tens jedoch nur sehr begrenzt haltbar.

Betrachtet man in einer etwas grundsätzlicheren Weise die Möglichkeiten, die sich den Menschen in Bezug auf die Gestaltung ihres Lebens eröffnen, betrach­tet man die strukturellen Merkmale menschlicher Biographien, so wird deutlich, dass die im Sport und in der Sportwissenschaft weit verbreitete Annahme nur teilweise fundiert ist und vor dem Hintergrund der derzeit stattfindenden allge­meinen gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere in der Welt der Arbeit, kaum noch eine Berechtigung hat. Das Leben eines jeden Menschen lässt sich in zeitliche Abschnitte gliedern. Entwicklungspsychologisch gibt es dafür eine alte Tradition. Betrachten wir die Alltagserfahrungen von Menschen, so wissen wir, dass wir dazu neigen, unser Leben innerhalb bestimmter Zeiträume zu planen und diese entsprechend zu gestalten. Jedem Menschen ist die Möglichkeit gegeben, seine ihm gegönnte Lebenszeit in Zeitsegmente aufzu­gliedern. Jeder Zeitraum kann sich dabei durch eine eigene Qualität auszeich­nen, eigene spezifische Merkmale besitzen. Für jeden Zeitraum gibt es ange­sichts der Komplexität unserer Welt vielfältige Wahlmöglichkeiten. Unsere Zukunft wird dabei „offener“, damit aber auch risikoreicher. Jeder Zeitraum ist somit durch das besondere Merkmal der Kontingenz geprägt. Geht ein bestimmter Zeitraum im Lebensspektrum eines Menschen seinem Ende entgegen, so stellt sich die Frage nach dem Danach. Es stellt sich die Frage nach der Brücke zum nächsten Zeitraum. Die Frage nach dem Übergang kann dabei sehr unterschiedlich beantwortet werden. Der Übergang kann sanft, abrupt, schmerzlich, problemlos, gewollt, ungewollt, überraschend, vorteilhaft oder zum Nachteil der Betroffenen sein.

Das, was wir im Sport als das besondere Problem des „Danach“ diskutieren, ist somit nur zum Teil ein spezifisches, sondern auch ein allgemeines Problem fortgeschrittener Gesellschaften. Es stellt sich für jeden Menschen sehr viel häufiger als man das üblicherweise annimmt. Das Leben nach dem überra­schenden Tod eines Partners, das Leben nach einer Scheidung, das Leben nach dem aktiven Arbeitsleben, das Leben nach dem Verlust einer Freund­schaft, das „Danach“ ist dabei immer auf das Engste mit dem „Zuvor“ verwo­ben. So wie es im Leben zuvor viele Lebenswege gegeben hat, aber nur wenige gegangen wurden bzw. gegangen werden konnten, so stellen sich auch die Lebensperspektiven für die Zeit danach. Das Zuvor und das Danach sind von einer besonderen Kontingenz geprägt. Jeder Mensch verfügt über eine gewisse Wahlfreiheit in seinem Leben. Das gilt auch dann, wenn er sich dessen oft nicht bewusst ist, oder wenn das Leben schicksalhafte Züge annimmt und das Leben sich gleichsam auf vorgegebenen Schienen ereignet.

Der Spitzensport hat ohne Zweifel eine besondere Qualität aufzuweisen. Der von ihm in Anspruch genommene Zeitraum im potentiell möglichen Zeitverlauf jener Menschen, die Spitzensport treiben, weist in Bezug auf das Merkmal der Wahlfreiheit einige limitierende Einschränkungen auf. Dies wird dann deutlich, wenn man das leistungssportliche Handeln z.B. mit dem künstlerischen eines Malers oder eines Musikers vergleicht. Können letztere Tätigkeiten unter zeitli­chen Gesichtspunkten nahezu lebenslang dauern, so ist das sportliche Han­deln, wenn es am Prinzip des Wetteiferns und der körperlichen Leistung orien­tiert ist, aufgrund bestimmter biologischer Limitierungen zeitlich strenger begrenzt als dies für andere Lebensoptionen des Menschen gilt. In der Kunst und in der Musik ist das intensive Engagement der sich dort engagierenden Menschen in der Regel nicht auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt. In der Wissenschaft können wissenschaftliche Spitzenleistungen ein ganzes Leben lang erbracht werden. Allenfalls in der Popindustrie könnte man von einem jugendlichen Verschleiß sprechen, wie er vergleichsweise auch im Sport anzu­treffen ist. Doch auch hier ist es möglich, dass die Medienindustrie neue Maß­stäbe definiert und Popgreise zu neuen Jugendidolen stilisiert. Im Spitzensport ist dies nicht möglich. Läuft ein Weltklassesprinter die 100 m nur in 10,4 sec, so ist das Verfallsdatum auf seiner Stirn markiert. Wird man als ehemaliger Natio­nalspieler von jungen und deshalb meist auch reaktionsschnelleren Spielern mehrfach umspielt, so weiß man als alternder Athlet, dass das Ende der Kar­riere begonnen hat.

Allerdings weist dabei der Spitzensport mittlerweile eine enorme Vielfalt auf. Immer mehr Spitzensportkarrieren in immer mehr Sportarten erstrecken sich auf Zeiträume, die den künstlerischen oder den musikalischen Karrieren glei­chen. Betrachtet man jedoch das spitzensportliche Handeln in seiner überwie­genden Mehrheit aus einer allgemeinen Perspektive, so lässt es sich unter dem Gesichtspunkt der zeitlichen Beschränkung nach wie vor sehr eindeutig von anderen menschlichen Handlungen abgrenzen.

Diese spezifische Kennzeichnung des spitzensportlichen Handelns, darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass auf diese Weise eine besondere soziale Bedürftigkeit erzeugt wird und jene Menschen, die im Spitzensport handeln, einer beson­deren gesellschaftlichen Verantwortung unterliegen.

Sind meine Ausführungen zur Kennzeichnung der Lebenswelt des Hochlei­stungssport angemessen, so macht es meines Erachtens keinen Sinn, an die­ses System Forderungen heranzutragen, für die es nicht resonanzfähig ist. Ja, selbst das Mitleid mit dem Athleten, mit dem ausgeschiedenen Trainer, dem ausgeschiedenen Funktionär, den nicht mehr bedachten Physiotherapeuten oder Arzt ist meines Erachtens nur bedingt angebracht. Ich meine vielmehr, dass genau das, was sich im System des Hochleistungssports widerspiegelt, nicht mehr und nicht weniger ist als die alltägliche Realität in unserem Arbeits­leben.

Betrachten wir die Veränderungen der Arbeitswelt in den vergangenen Jahr­zehnten, blicken wir auf die aktuelle Situation des Arbeitslebens, so können wir erkennen, dass die dramatischen Erfahrungen des „Danach“ für viele Menschen zur alltäglichen Erfahrung geworden sind. Die Schulzeit geht zu Ende und die Zeit des Danach wird zur Ungewissheit. Findet der Schüler eine Lehrstelle, oder beginnt sein Einstieg in das Arbeitsleben mit Arbeitslosigkeit und mit dem Empfang von Sozialhilfe? Absolventen ehemals stabilster Studiengänge, die in der Vergangenheit zur lebenslangen Beschäftigung geführt haben, müssen längst zur Kenntnis nehmen, dass die universitäre Ausbildung eine Ausbildung auf Zeit ist, die keine berufliche Gewissheit zur Folge hat, dass Arbeit und Beschäftigung in der heutigen Zeit nicht mehr identisch sind und dass die Aus­übung eines Berufes meist nur noch die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit auf Zeit bedeutet. Das einzig sichere scheint dabei die Unsicherheit zu sein. Viele Arbeitsbiographien werden heute zu Patchwork-Biographien. Junge Menschen jobben während des Studiums, arbeiten gleichzeitig in mehreren Dienstleistungssektoren und switchen von einer Einkommensmöglichkeit zur nächsten, ohne dabei jemals soziale Stabilität zu erreichen. Jedem Mann und jeder Frau wird heute von Arbeitspolitikern empfohlen, selbständig zu werden, das Risiko einer Firmengründung einzugehen. Doch zu diesem neuen unter­nehmerischen Handeln gehören selbstverständlich Konkurse, Produktwechsel am laufenden Band und alles ist durch das Merkmal der Vergänglichkeit gekennzeichnet. Für alle, die mit dieser Arbeitswelt auf diese Weise konfrontiert sind, finden überraschende zeitliche Segmentierungen statt. Ein Lebensab­schnitt geht abrupt zu Ende, ein neuer beginnt. Der Lebensturm, den Men­schen zu ersteigen haben, wird immer höher, die Stufen, die die Menschen dabei zu gehen haben, vervielfältigen sich. Das traditionelle Muster der Fünf-Stufen-Biographie: Kindheit – Jugend – berufliche Ausbildung – Arbeitsleben -und gegebenenfalls Pension ist für die nachrückenden Generationen längst nicht mehr zu garantieren.

Mündigkeit – ein Lösungsweg?

Was wird dadurch deutlich? Der Spitzensport als Teilsystem unserer Gesell­schaft entspricht äußerst genau den Prinzipien dieser Gesellschaft. Das, was die Logik des Systems des Spitzensports auszeichnet, ist zumindest annähernd auch die Logik unserer Gesellschaft. Gewiss wird dadurch die Forderung nach sozialer und beruflicher Absicherung im Hochleistungssport nicht irrelevant. Doch muss vor dem Hintergrund dieser Analyse gefragt werden, ob die bislang diskutierten Lösungswünsche tragfähig sein können. So viel scheint dabei sicher zu sein, die üblichen Klagen über die Sachverhalte führen nicht weiter. Ein allgemeines Lamento hat noch nie derartige Probleme gelöst. Die Lösung der aufgezeigten Probleme kann meines Erachtens nicht über das komplexe System des Spitzensports mit dessen problematischer Logik, sondern nur über die Eigenverantwortung der Betroffenen selbst, über den Athleten und die Ath­letin gefunden werden. In einer Welt, in der die Individualität der Menschen zum besonderen Fetisch erhoben wurde, in einer Gesellschaft, die sich durch Indivi­dualisierung auszeichnet, kann es keine Alternative zur Verantwortung geben, die der individualisierte Mensch für sich selbst übernehmen muss. Menschen, die im Hochleistungssport leben und handeln, sollten mündige Menschen sein, sie sollten sich durch Handlungsfähigkeit auszeichnen und ihr Handeln sollte einer besonderen Selbstverantwortung genügen. Ist dies für das System des Hochleistungssports notwendige Eingangsbedingung, so müssen Athletinnen und Athleten sehr früh über ihre Optionen, die sich in ihrem Leben eröffnen oder auch verschließen, aufgeklärt werden. Athleten müssen in die Lage ver­setzt werden, über ihre Optionen nachzudenken, sich über ihre Optionen Wissen zu sammeln und fundiert eine eigenverantwortliche Entscheidung über den eigenen Lebensweg treffen zu können. Die Athletinnen und Athleten müssen auch die Risiken kennen, die die verschiedenen Optionen in sich bergen und sie müssen vor allem zu jener Verantwortung geführt werden, die sich dadurch auszeichnet, dass jeder Athlet und jede Athletin begreift, dass das Handeln im Hier und Jetzt ein endliches Handeln ist und immer auf eine Zeit des Danach verweist, für die jeder Athlet und jede Athletin Eigenverantwortung zu übernehmen hat.

Sind Athleten im juristischen Sinne noch nicht erwachsen, so müssen die Erziehungsberechtigten für all die benannten Belange umfassend in die Pflicht genommen werden.

Eine zentrale Frage, die ein Athlet in Bezug auf seine Lebensperspektiven zu beantworten hat, ist jene, ob die während seiner Karriere im Hochleistungssport erworbenen materiellen und ideellen Gewinne eine mögliche Vernachlässigung der beruflichen Karriere kompensieren können. Eine Karriere im Hochleistungs­sport kann berufsbezogene Karrieren behindern oder gar unmöglich machen. Die Doppelbelastung von Hochleistungssport und beruflicher Karriere kann negative Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen, insbesondere auf das familiäre Zusammenleben haben. Die einseitige Ausrichtung des Athleten auf den Spitzensport kann eine einseitige Persönlichkeitsentwicklung zur Folge haben. Eine biografische Fixierung auf eine Sportlerkarriere, soviel ist sicher, kann nicht folgenlos sein.

Eine entscheidende Frage zur Zukunft des Spitzensports ist deshalb darin zu sehen, inwiefern es auch in der weiteren Entwicklung möglich sein wird, dass Athleten Spitzensport betreiben und gleichzeitig eigenverantwortlich ihr berufli­ches Leben nach dem Spitzensport vorbereiten. Schule und Hochleistungs­sport, Studium und Hochleistungssport, Berufsausbildung und Hochleistungs­sport sind dabei die Lebenspaare und die zeitlich begrenzten Kombinationen, die für einen ethisch verantwortbaren Hochleistungssport von grundlegender Bedeutung sind. Wer eine Politik des Hochleistungssports betreibt, die in der Forderung gipfelt, Schüler oder Sport, Student oder Sport, Beruf oder Sport, der hat ohne Zweifel einen Hochleistungssport im Sinn, dem jegliches ethisch-moralische Fundament fehlt. Gewiss kann es Berufsathleten geben und gewiss macht es Sinn, dass manche Athleten eine Entscheidung zwischen Beruf und Spitzensportkarriere treffen und sich dabei zugunsten des Spitzensports ent­scheiden. Ein Modell für die Lebenswelt des Spitzensports kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden. Der Deutsche Leichtathletik-Verband war zu meiner Zeit stolz, dass sei­ner Nationalmannschaft viele Athleten angehören, die die Doppelbelastung zwischen Schule und Spitzensport, Studium und Spitzensport und Beruf und Spitzensport auf beispielhafte Weise meistern. Florian Schwarthoff, der sein Architekturstudium erfolgreich beendet hatte, studierte diese akademische Disziplin, während er gleichzeitig Weltklasseleistungen im 110 m-Hürdensprint erreichte. Seine Bronzemedaille von Atlanta ist uns allen in Erin­nerung. Steffen Brand war ein Weltklasseläufer im 3000 m Hindernislauf und praktizierte am Ende seiner Karriere erfolgreich als Sportmediziner. Nico Motchebon hatte seinen Informatikabschluss im Blick und Hartwig Gauder strebt, nachdem er einen lebensbedrohlichen Schicksalsschlag überwinden musste, zu einem Abschluss in seinem Architekturstudium. Hartwig Gauder bilanzierte dabei höchst selbstkritisch seinen Werdegang: „Wenn ich darüber nachdenke, welche Fehler ich in meinem Leben gemacht habe, dann war einer meiner größten, dieses Studium nicht konsequent bis zum Diplom durchzuziehen. Drei Anläufe und immer musste ich von vorne beginnen. Im Architekturstudium möchte ich jetzt erreichen, was mir noch nicht gelungen ist.“ Und er führt weiter aus, „Der Hochleistungssport verleitet dazu, ausschließlich ein Ziel zu sehen und sich selber zu wichtig zu nehmen -zwangsläufig, sonst erreicht man nichts. O.k., dann hast du deinen Olympia­sieg, aber was bleibt? Sicher, ich war stolz auf mich und diejenigen, die mitge­holfen haben. Doch heute, mit Abstand betrachtet, hat man diesen Erfolg damals überbewertet – ich mich auch“ (vgl. Gauder 1989, 90). 4 Wer die Forderung nach einer sinnvollen Kombination zwischen Spitzensport und beruflicher Ausbildung akzeptiert, der muss freilich auch akzeptieren, dass nicht jede Leistung im Spitzensport möglich ist, wie sie in einem totalitär ausge­richteten Spitzensportsystem als wünschenswert erscheinen mag. Verbände müssen akzeptieren, dass das Handeln ihrer Athleten nicht nur am Erreichen von Weltmeistertiteln orientiert sein kann, dass mancher Weltmeistertitel in bestimmten Disziplinen unerreichbar geworden ist und dass Siegen um jeden Preis keine wünschenswerte Maxime darstellen kann.

Wird – wie ich es hier tue – die Eigenverantwortung des Athleten gefordert, so ist deshalb zu erkennen, dass mit dieser Forderung das System des Spitzen­sports selbst nicht entlastet werden darf. Zur Lösung des aufgeworfenen Pro­blems bedarf es vielmehr auch solcher Lösungen, die für die problematische Logik des Systems des Spitzensports tragfähig sind. Der Schlüssel zum Erfolg liegt meines Erachtens dabei in der Frage nach der gerechten Verteilung der erzielten Gewinne im System des Spitzensports. Derzeit ist dabei sowohl das Problem der Umverteilung der Gewinne als auch das Problem der individuellen finanziellen Absicherung der Athleten nicht ausreichend gelöst. Das Konzept einer Athletenrente könnte dabei ein erfolgversprechender Ansatz sein. In einen entsprechenden Fond müsste dabei sowohl der Athlet selbst mittels seiner von ihm während seiner Karriere erzielten finanziellen Gewinne einzahlen, als auch die Organisationen des Spitzensports. Geeigneter Orientierungspunkt könnten dabei jene Rentenmodelle sein, wie sie für freie Berufe in unserer Gesellschaft üblich geworden sind.

Ausblick

Mein Plädoyer zugunsten mündiger Partner in der Lebenswelt des Spitzen­sports sollte unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten nicht falsch verstanden werden. Angesichts der allgemeinen sozialen Probleme, die sich derzeit in unserer Gesellschaft rapide verschärfen, ist die sozialstaatliche Verantwortung heute entschiedener zu fordern denn je. Ich vertrete lediglich die Auffassung, dass es dabei keine Sonderbehandlung des Spitzensportsystems geben sollte. Eine sozial verantwortungslose Politik hat dazu geführt, dass sich der moderne Staat von heute schämen muss, wenn er Steuern von seinen Bürgern verlangt. Auf diese Weise ist eine Situation entstanden, in der der Bürger nicht mehr zu wissen scheint, inwiefern es Sinn macht, in ehrlicher Weise dem Staat gegen­über seiner Steuerpflicht nachzukommen. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, dass der Staat seinen Bürgern nicht deutlich machen konnte, für welche unverzichtbaren sozialen Dienstleistungen zugunsten eines demokratischen Sozialstaates er die Steuereinnahmen benötigt. Eine gute Sozialpolitik müsste auf die sozialen Schnittstellen der Gesellschaft ausgerichtet sein. Diese sozia­len Schnittstellen sind genau dort anzutreffen, wo die Menschen von einem Lebensabschnitt zum anderen überwechseln, dort wo individuelle Problemla­gen entstehen und dort, wo möglicherweise der Mensch aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage ist, die neuen Probleme, in die er bei dem Wechsel in einen anderen Lebensabschnitt hineingeraten ist, in Würde zu bewältigen. Eine ver­antwortungsvolle Sozialpolitik müsste dabei durchaus auch auf jene Menschen ausgerichtet sein, die sich im Spitzensport engagiert haben und nunmehr diese Lebenswelt verlassen. Die Konzeption einer am mündigen Athleten aus­gerichteten Laufbahnberatung hat somit durchaus ihre Berechtigung. Auch etablierte Systeme zur Absicherung von Karrieren, wie z.B. Sportinternate, die Bundeswehr, Kooperationsmodelle zwischen Universitäten und Verbänden und die Stiftung Deutsche Sporthilfe sind gerade für den mündigen Athleten sehr wertvoll. Auch das Elternhaus spielt eine bedeutsame Rolle für die Berufsvor­bereitung von Spitzensportlern. Eine Sonderbehandlung darf den Spitzensport­lern jedoch nicht zukommen, weil sich ihr Problem nur teilweise durch spezifische, sondern vorrangig durch allgemeine Merkmale auszeichnet und weil die Last dieser Menschen nicht größer oder kleiner ist als die Last aller übrigen in unserer Gesellschaft.

Ethische Orientierungen sind für den Sport unverzichtbar. Wie aktuell und not­wendig ethische Orientierungen in den komplizierten und vernetzten Fragestel­lungen und Sachverhalten des modernen Sports sind, zeigt uns nicht zuletzt das niemals lösbare, aber umso dringender zu bearbeitende Doping-Problem. Auch die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach den Lebensperspekti­ven nach Beendigung des Hochleistungssports bedarf einer ethischen Fundie­rung und Orientierung. Eine moralisierende Zeigefingerpolitik ist dabei aller­dings kaum hilfreich. Pädagogen, Theologen, Philosophen und Ethiker haben immer wieder darauf hingewiesen, wie notwendig aktives sportliches Handeln für eine ganzheitliche Bildung und Erziehung des Menschen ist, wie wichtig es ist, dass den Menschen ein Zugang auch zum Spitzensport eröffnet wird, weil dieser einen möglichen Erfahrungsschatz von gutem bzw. gelingenden Leben bietet. Der Spitzensport ist eine Faszination für unser Leben und unser Zusammenleben, er kann auch einigen Deformationen unserer Gesellschaft trotzen und Widerstand leisten. Dies alles kann der Spitzensport aber nur sein, wenn er in einen demokratischen Sozialstaat eingebunden ist, in dem Sozialität und Individualität, sozialstaatliche Fürsorge und Eigenverantwortung eine tragfähige Balance gefunden haben.

Die Stufen, die uns Hermann Hesse weist, könnten zur Lösung der zu diskutie­renden Probleme deshalb möglicherweise hilfreicher sein als die monotone Wiederholung von Empfehlungen, für die es in der Lebenswelt des Spitzens-sports ganz offensichtlich kein Ohr gibt.

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend.
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen.
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Hermann Hesse