von Wolfgang Schmidt
Es ist Donnerstag, 09. November 1989, der Abend des Mauerfalls. Ab sofort dürfen DDR-Bürger in den Westen reisen.
In der darauffolgenden Woche fahre ich über Land von Schule zu Schule und bin gerade westlich von Bad Arolsen. Da steht an einer Kreuzung ein Wagen mit DDR-Kennzeichen, der Fahrer sucht etwas in einer Straßenkarte. Vielleicht kann ich helfen?
Er fragt nach dem Weg nach Dresden, und das westlich von Bad Arolsen!
Meine Antwort nimmt er glücklicherweise humorvoll auf, so war sie auch gemeint: „Hier rechts abbiegen und durch Bad Arolsen fahren. Danach zieht es sich. Immer Richtung Osten.“
Er versteht den Spaß, und wir haben sofort netten Kontakt mit seiner Frau und ihm. Er nannte mir den Namen von sich und seiner Frau.
Wir tauschen Adressen aus, und ich erhalte eine Einladung nach Kleinschmalkalden in Thüringen, unterhalb von Oberhof.
Ein paar Tage später folgen meine Frau und ich dieser Einladung und fahren nach Kleinschmalkalden.
Es stellt sich heraus, dass Familie Bauer sportbegeistert ist und sich im dortigen Verein engagiert, auch im Skilanglauf.
Da kommt mir die Idee, die Jugendmannschaft des Vereins im Skilanglauf zum schulischen Landesentscheid Skilanglauf im Rahmen von „Jugend trainiert für Olympia“ nach Willingen einzuladen. Ich würde diesen Wettkampf im Februar 1990 organisieren. Karolf Bauer lehnt dankend ab, dieses Niveau sei für seine Sportmannschaften zu hoch. Ich solle es lieber oben im Schulzentrum, der KJS Oberhof, probieren.
DIESE IDEE SITZT BEI MIR SOFORT!
Am 24.11.1989, also ungefähr eine Woche später, findet die Sitzung der hessischen „Kontaktkommission“ unter der Leitung von Herrn Paul (Kultusministerium Hessen) statt, bei der vorwiegend schulsportliche Themen in Zusammenarbeit mit den Landesverbänden behandelt werden, so auch die Terminierungen und Durchführungen von Landesentscheiden in den einzelnen Sportarten. Als ich an der Reihe bin, schlage ich vor, Teams der KJS Oberhof zum Landesentscheid Skilanglauf nach Willingen einzuladen.
„Wer soll denn das bezahlen?“ fragt mich Herr Paul.
Meine spontane Antwort: “SIE!“
Zunächst amüsantes Gelächter in der Runde.
„Und wie wollen Sie das denn bewerkstelligen?“ fragt Herr Paul.
Meine Antwort: „In den bevorstehenden Weihnachtsferien würden meine Frau und ich nach Oberhof fahren und die Einladung persönlich überbringen.“
DAS SITZT WIEDER!
„Dann machen Sie mal!“ antwortet Herr Paul. Innerlicher Jubel bei mir…….
Also fahren meine Frau und ich am Montag, dem 08.01.1990, morgens nach Oberhof, nicht ohne vorher bei Bauers in Kleinschmalkalden vorbeizuschauen.
Auf dem Parkplatz der KJS Oberhof bleibt meine Frau im Auto, später frage ich mich, warum eigentlich?
Ich gehe auf den Haupteingang zu und betätige die Klingel.
Die Tür öffnet sich und schließt sich hinter mir wieder. Ich bin gefangen!
Links ist eine Pförtnerloge aus der eine barsche weibliche Stimme tönt: „WER SIND SIE? WAS WOLLEN SIE?“
Meine Antwort: „Ich komme im Auftrag des Hessischen Kultusministeriums und möchte gern Ihren Schulleiter sprechen.“
Schweigen…….
Nach ein paar Momenten ergreift die Dame einen Telefonhörer und spricht mit jemandem, ohne dass ich es hören kann.
Ich warte…..
Dann jedoch nähert sich im Schulgebäude eine weitere Dame, und die zweite Glastür in den Innenraum öffnet sich.
Ich wiederhole auf deren Frage wie vorhin die gleiche Antwort.
Sofort ändert sich der Ton. „Kommen Sie bitte mit“.
Ich vermute, dass diese Dame wohl die Schulsekretärin sein muss, denn sie führt mich ins Schulsekretariat und verschwindet in einem angrenzenden Raum, wo sie sicherlich den Schulleiter über meine Anwesenheit informiert.
Zu ihm werde ich sodann hineingebeten. Wir stellen uns vor, er heißt Herr Wagner.
Nachdem er mein Anliegen vernommen hat, unterbricht er den allgemeinen Unterricht in der gesamten Schule und bittet über Mikrofon alle Kolleginnen und Kollegen sofort in sein Zimmer zu kommen.
Nach kurzer Zeit sitze ich dann vor der Gesamtkonferenz der KJS Oberhof, was einen tiefen Eindruck und großen Respekt in mir hervorruft.
Ich trage meine Einladung, mit Mannschaften der KJS zum Landesentscheid nach Willingen zu kommen, vor mit dem Nachsatz „Es soll Sie auch nichts kosten, wir holen Ihre Mannschaften mit dem Bus ab und bringen sie auch wieder hierher.“
Ich hatte nun großen Jubel oder zumindest dankbaren Applaus erwartet, aber nichts geschieht.
Gespenstische Stille….
Da bricht es aus der mir eigenen Impulsivität spontan heraus:
„UND WAS IST DENN NUN? KOMMEN SIE ODER KOMMEN SIE NICHT?
Meine emotionale Reaktion auf das bedrückende Schweigen zuvor lässt das Eis brechen. Großes, freudiges Lachen und Beifall durch Klopfen auf den Tisch erfüllt den Raum. Ich atme erleichtert und tief durch.
Der Schulleiter erklärt: „Herr Schmidt, wenn das Kollegium etwas zurückhaltend und schüchtern auf Ihre Einladung reagiert, dann liegt das daran, dass Sie der erste Mensch aus dem Westen sind, der diese Schule betritt. Das hat das Kollegium heute Vormittag nicht erwartet, diese Einladung sowieso nicht. Natürlich werden wir kommen und bedanken uns für die Einladung. Allerdings werden wir mit unserem eigenen Bus
kommen.“
Jetzt brandet großer Beifall auf, und ich freue mich.
Als ein kleines Gastgeschenk überreicht man mir einen Wimpel mit den Emblemen der DDR.
Der Unterricht muss nun fortgesetzt werden, und man bietet mir eine Führung durch das Internatsgebäude an. Wir holen endlich meine Frau, die im Auto wartet, hinzu – diesmal ohne Wartezeit bei der Pförtnerin.
Die Führung durch das Internatsgebäude überrascht uns positiv. Da gibt es Ärzte fast aller Richtungen für die Athletinnen und Athleten, die in Doppelzimmern wohnen; es gibt jede Menge Fitnessräume und Trainingsmöglichkeiten, kurzum: hier gibt es alles, was Spitzensportler und Spitzensportlerinnen benötigen. In einem Wandschrank hängen jede Menge Urkunden über Europa- und Weltmeisterschaftstitel sowie Medaillen von Olympischen Spielen. Staunend beglückwünschen wir unsere Begleitungen und sind ob dieser Möglichkeiten richtig neidisch.
Mit einem „Auf Wiedersehen in Willingen“ verabschieden wir uns.
Es ist Dienstag, 13. Februar 1990, der Tag des hessischen Landesentscheids Skilanglauf in Willingen.
Pünktlich kommt der Bus aus Oberhof an, und der Wettkampf kann nach der herzlichen Begrüßung beginnen. Schnell stellt sich heraus, dass die Oberhofer Teams unseren Schulmannschaften gegenüber haushoch überlegen sind und mit großem Vorsprung gewinnen. Bis zur Siegerehrung vertreiben sich die Oberhofer die Zeit im Willinger Hallenbad.
Bei der Siegerehrung werden alle teilnehmenden Mannschaften mit Urkunden und Medaillen belohnt.
Anschließend reisen die Oberhofer wieder ab,
Danach ist für mich persönlich der Höhepunkt meines Wirkens als „Koordinator für den Schulsport“ in unserem Landkreis wegen meiner Versetzung in den altersbedingten Ruhestand beendet.
Ich hoffe, einen kleinen Beitrag beim Zusammenwachsen des vormals geteilten Deutschlands erbracht zu haben.
Es freut mich zu erfahren, dass nach meinem Ausscheiden der Kontakt zwischen der KJS Oberhof und der Uplandschule Willingen weiterhin Bestand hatte und ausgebaut wurde.
Wolfgang Schmidt war Koordinator „Schulsport“ für den Landkreis Waldeck-Frankenberg des Bundeslandes Hessen