Zur pädagogischen Bedeutung von Sportregeln

Wie kommen Regeln im Sportunterricht vor?

Seit es in öffentlichen Schulen Sportunterricht gibt, ist es nahezu unbefragt üblich, dass sich die Bewegungsaktivität in diesem Unterricht auf sportliche Aktivitäten beschränkt bzw. auf diese ausgerichtet ist. Die sportlichen Aktivitäten zeichnen sich dabei vor allem dadurch aus, dass sie sich in Sportarten aufschlüsseln, wie sie außerhalb der Schule anzutreffen sind. In die Schule wird also ein Teil der Welt des Sports hereingeholt, um Schüler auf eben diese Welt vorbereiten zu können.

Beobachtet man Sportunterricht, der an diesem anerkannten didaktischen Prinzip ausgerichtet ist, so zeigt sich, dass uns das Hereinholen des Sports in die Schule Schwierigkeiten bereitet. Fußball kann man in der Schule höchst selten 2×45 Minuten spielen, und im Basketball muss der Korb niederer gehängt werden, damit jüngere Schüler das Erlebnis eines erfolgreichen Korbwurfes haben. Berücksichtigt man die begrenzten zeitlichen Möglichkeiten, die notwendige Vielfalt der schulischen Sportangebote und geht man davon aus, dass der Schulsport den unterschiedlichsten Schülerinteressen gerecht werden soll, so ist diese Art der Transformation des Sports notwendig und unter pädagogischen Gesichtspunkten sinnvoll.

Betrachten wir das sportliche Angebot, das heute Schülern unterbreitet wird, etwas näher, so können wir beobachten, dass sich die Kürzung des Sports in erster Linie im Bereich der Regeln der Sportarten ereignet. Einerseits ist der Unterricht daran ausgerichtet, Schüler zur möglichst exakten Regelbefolgung in möglichst vielen Sportarten zu erziehen. Den Orientierungspunkt der Erziehung stellen dabei die kodifizierten Regeln der Sportfachverbände dar. Andererseits wird meistens nach dem Belieben des Sportlehrers nur ein Teil dieser kodifizierten Regeln berücksichtigt. Im Basketball werden nur selten die Schritteregel, die Foul- oder die Zeitregel eingehalten; dass man das Spiel aber nur mit einem Ball, mit fünf Feldspielern spielt und mit einem Hochball durch den Schiedsrichter einleitet, ist eine nicht in Frage gestellte Selbstverständlichkeit. Dieses Beispiel kann zeigen, wie sehr das Handeln im Schulsport an den Regeln des Sports ausgerichtet ist und worin deren pädagogische Bedeutung im Sportunterricht üblicherweise liegt: Ein wichtiger Teil des Sportlehrerhandeln zielt auf das Befolgen von Sportregeln ab, deshalb wird geübt, trainiert und gespielt. Darin liegt auch die Bedeutung, die den Sportregeln in Lehrplänen zugeschrieben wird. Schüler sollen demnach in die wichtigsten Spielregeln eingeführt werden, und sie sollen Wettkampfbestimmungen kennenlernen, um diesen angemessen folgen zu können (vgl. KMK 1980, 10 ff.).

Meines Erachtens werden damit die pädagogischen Möglichkeiten, die die Sportregeln eröffnen, nur zu ihrem geringsten Teil ausgeschöpft. Schüler zum Befolgen von Sportregeln zu erziehen, ihnen Regelkenntnisse an die Hand zu geben, damit sie außerhalb der Schule nach diesen Regeln Sport treiben können, ist gewiss eine wichtige und notwendige Aufgabe des Schulsports. Wäre sie aber dessen einzige, so könnte kaum begründet werden, warum solches ausgerechnet an öffentlichen Schulen zu lernen ist. Die Sportvereine könnten dieser Aufgabe gewiss ebenso gut nachkommen. Welche pädagogischen Möglichkeiten können uns aber die Sportregeln darüber hinaus eröffnen? Wo liegt deren besondere pädagogische Chance? Will man auf diese Fragen eine Antwort geben, so ist es erforderlich, dass man sich der Bedeutung von Regeln bewusst wird, die diese für das menschliche Handeln im Allgemeinen und für unser Handeln im Sport im Besonderen besitzen.

Was ist eine Regel?

Sucht man im sportwissenschaftlichen Lexikon eine Antwort auf die Frage, welche Bedeutung die Regeln im Sport für unser sportliches Handeln besitzen, überrascht, dass über den Begriff „Sportregel“ keine Aussagen gemacht werden, man vielmehr auf den Begriff „Spielregel“ verwiesen wird. Diese Vorgehensweise ist typisch für die Regeldiskussion im Sport. Sie hat dazu geführt, dass vielfach nicht nur Sportstudenten und Schüler annehmen, Regelprobleme gebe es nur in den Sportspielen. Ein derart enges Verständnis von Regeln ist wenig hilfreich, insbesondere können damit nur am Rande die pädagogischen Möglichkeiten der Sportregeln ausgeschöpft werden.

Dies wird deutlich, wenn man die Ausführungen zum Begriff der Spielregel im sportwissenschaftlichen Lexikon etwas näher betrachtet:

„Als Spielregel werden festgelegte Ablaufformen des Spiels und normierte Verhaltensweisen der Spieler bezeichnet. Eine derartige Regelung bezieht sich auf mehr oder weniger große Bereiche des Spiels, ist bald explizit kodifiziert, bald implizit Konvention, erstreckt sich bald mehr auf den technischen Ablauf, bald mehr auf ethische Züge des Verhaltens zu dem Gegner oder zu den Mitspielern“ (vgl. RÖTHIG 1977, 277).

Die verschwommene Sprache mag überraschen. Etwas wohlwollend betrachtet weist diese Beschreibung jedoch auf einige interessante Aspekte hin, die weiterhelfen, wenn gefragt wird, was denn nun eigentlich Sportregeln sind. Neben kodifizierten Regeln gibt es offensichtlich nicht-schriftlich fixierte Regeln. Natürlich stellen Kodifizierung und Konvention keinen Gegensatz dar, doch wird mit dem Hinweis auf den konventionellen Charakter angedeutet, dass Regeln auf Konventionen beruhen. Folgt man weiter der Lexikonbeschreibung, so sieht man, dass sich Regeln auf verschiedenste Sachverhalte beziehen können. Einmal wird dadurch die Technik im Sportspiel geregelt, zum anderen werden durch sie die ethischen Züge des Verhaltens zum Gegner oder zu den Mitspielern beeinflusst.

Diese Interpretation kann freilich nicht verdecken, dass die Bedeutungserklärung des sportwissenschaftlichen Lexikons in sich sehr widersprüchlich ist und nur bedingt bei der Suche nach der Antwort auf die Frage, was eine Regel im Sport ist, weiterhilft. Es ist deshalb angebracht, sich an wissenschaftlichen Analysen zu orientieren, in denen zu beschreiben versucht wird, was man unter einer Regel im Allgemeinen und im Sport im Speziellen verstehen kann. Eine ganze Reihe sozialwissenschaftlicher Autoren, die sich zur Regel-, Norm- und Werteproblematik geäußert haben (vgl. u. a. COLLETT 1977; DE WACHTER 1983; HERMANN 1982), vor allem aber auch die Regeldiskussion, die sich auf den Sprachspielbegriff von WITTGENSTEIN bezieht, sind mir bei diesem Anliegen entgegengekommen (vgl. SEARLE 1971; HERINGER 1974; WAISMANN 1976; FRITZ 1982; MUCKENHAUPT 1976; ÖHLSCHLÄGER 1974; WIMMER 1982). Diese Diskussionen haben mich veranlasst, den Begriff der Sportregel in einer Weise zu gebrauchen, die weit über die im Sport übliche hinausgeht (vgl. DIGEL 1982a). Ich wende mich nämlich all jenen Regeln zu, die der Praxis des Sports zugrunde liegen und die für das Verständnis dieser Praxis wesentlich sind. Damit kommen weit mehr Regeln in das Blickfeld als lediglich jene, die die motorischen Aktionen in Sportspielen regeln. Zunächst bezieht sich der Begriff der Sportregel auf alle Sportarten. Doch damit nicht genug. Über den Begriff der regelgeleiteten Handlung erweitert sich die Perspektive noch ein zweites Mal. Die gegenseitige Begrüßung zweier Mannschaftskapitäne, der Glückwunsch eines Besiegten an den Sieger, die Entschuldigung nach einem Foul, die Manipulation mittels Doping stellen ohne Zweifel auch Handlungen im Sport dar, die jedoch nur bedingt solchen Regeln unterliegen bzw. dagegen verstoßen, die gemeinhin als Sportartenregeln bezeichnet werden. Aber selbst das Angreifen und Verteidigen sind Spielhandlungen, darauf weist GEBAUER zu Recht hin, die über die kodifizierten Sportartenregeln nicht festgelegt werden (vgl. GEBAUER 1983). Diese Beispiele können verdeutlichen, dass es im Sport neben den Sportartenregeln weitere Regelsysteme gibt, die unser Handeln leiten. Dies zu erkennen wird möglich, wenn man unter Regeln Handlungsmuster versteht, die vergleichbar mit der Funktion von Strickmustern eine Richtschnur für unser Handeln im Sport darstellen. Der Begriff der Regel wird deshalb auch vielfach ersetzt durch die Begriffe Standard, Norm, Maxime oder Prinzip. Ich wähle den Begriff Regel zum Zwecke der sprachlichen Präzisierung, wobei Regeln, so wie ich sie verstehe, den Charakter von sozialen Konventionen haben.

Was leisten nun aber Regeln für das menschliche Handeln? Diese Frage führt zu einer Regeltypik, die uns auch bei der Frage nach der Bedeutung der Sportregeln weiterhilft.

Wie lassen sich Regeln unterscheiden?

Für unser Handeln – das hat vor allem SEARLE gezeigt – können Regeln sehr unterschiedliche Funktionen besitzen. Lautet z.B. eine Regel im Sport: Im Kugelstoßen darf die Kugel lediglich mit einer Hand gestoßen werden, so wird mit dieser Regel zweierlei gewährleistet. Gäbe es diese Regel nicht, so könnte man erstens nicht Kugelstoßen im derzeit üblichen Sinne des Sports. Die Regeln konstituieren also eine sportliche Praxis. SEARLE spricht deshalb von konstitutiven Regeln. Stößt man die Kugel mit zwei Händen, so wird also nicht Kugelstoßen betrieben, sondern allenfalls eine dem Kugelstoßen ähnliche Sportart. In dieser Betrachtungsweise kann man von einem Regelmuster abweichen oder es realisieren. Die Abweichung hat zur Folge, dass man eine modifizierte Form von Kugelstoßen betreibt oder etwas völlig anderes tut.

Wenn man jedoch Kugelstoßathlet ist, sich in einem Wettkampf befindet und nach seinem ersten korrekten Versuch die Kugel plötzlich beidhändig aus dem Kreis schleudert, so begeht man eine Übertretung, die vom Schiedsrichter geahndet wird. In dieser Art von Betrachtung konstituiert nun die Regel nicht nur die Praxis, sie reguliert diese auch. Hier wird deutlich, dass Regeln einen Doppelcharakter besitzen. Sie definieren und regulieren (vgl. HERMANN 1982, 35-39).

Neben diesen beiden Aspekten der konstitutiven Regel scheint es mir nun sinnvoll zu sein, eine zweite Gruppe von Regeln zu unterscheiden, auf die der Begriff „Maxime“ verweist. Ich meine damit jene Fälle, die uns wie Empfehlungen zur Verfügung stehen, die es uns in einem konstitutiv festgelegten Handlungsbereich ermöglichen, klüger, erfolgreicher und angemessener zu handeln. Gemeint sind jene Regeln, die ich als strategische Regeln bezeichnet habe (vgl. DIGEL 1982a, 53-62). Es sind jene Regeln, auf die man sich bezieht, wenn man jemandem beibringen will, wie man etwas am besten macht, während die konstitutiven Regeln dann wichtig sind, wenn man jemandem beibringen will, wie man etwas macht, und wenn man angeben möchte, als welche Handlung man das versteht, was jemand gemacht hat.

Bezogen auf die Konsequenzen liegt der Unterschied zwischen den zwei Regelformen darin, dass, wenn einer eine konstitutive Regel nicht befolgt, er etwas anderes tut als das, was er zu tun vor gibt oder tun möchte. Wer eine strategische Regel nicht befolgt, geht ein erhöhtes Risiko des Misserfolges ein, falls es sich bei der strategischen Regel um eine vernünftige Regel handelt (vgl. FRITZ 1982, 60-69).

Meiner Unterscheidung in konstitutive und strategische Regeln liegt die Einsicht zugrunde, dass Regeln schriftlich niedergelegt sein können, aber nicht müssen. Es ist deshalb wichtig, dass man darauf hinweist, dass Regeln nicht notwendigerweise in einem Satz formuliert sein müssen. Wie überhaupt zu unterscheiden ist zwischen einer Regel und deren Formulierung bzw. Beschreibung. Eine Regel ist überhaupt kein Satz. Man kann nämlich einer Regel unbewusst folgen, ohne dass man sie explizieren kann (vgl. KELLER 1974). Für unseren Zweck bedeutet dies, dass, wenn von Sportregeln die Rede ist, man nicht nur jene Regeln beachten darf, die schriftlich in den Regelbüchern zu den Sportarten niedergelegt sind, sondern auch jene Regeln mitberücksichtigt, die im Sinne informeller Regeln das Handeln im Sport leiten. Im Sport wird über sie in erster Linie dessen Ethik, die Sportidee und das taktische Handeln in den einzelnen Sportarten festgelegt. Die folgende Abbildung kann zusammenfassend verdeutlichen, auf welchen Ebenen Regeln im Sport eine Rolle spielen.

Ebene der ethisch-moralischen Regeln

  • „Sei fair“
  • „Anerkenne deinen Gegner als Partner“
  • „Gewährleiste Chancengleichheit“
  • „Achte auf die körperliche und persönliche Unversehrtheit deiner Partner“
  • „Schütze vor allem die Schwächeren“
  • „Beachte die vereinbarten Regeln“

Ebene der Regeln zur Sportidee

  • Regel der Folgenlosigkeit
  • Regel der willkürlichen Hindernisse
  • Regel der körperlichen Lösungsmittel
  • Regeln des offenen Ausgangs
  • Regeln der Konkurrenz
  • Regeln des Wetteifers und der Leistungsbereitschaft

Ebene der Regeln zu den Sportarten

  • „Das Tor ist im Lichten 2m hoch und 3m breit“
  • „Der Ball besteht aus einer einfarbigen Leder- oder Kunststoffhülle“
  • „Die Spielzeit dauert für Männer 2h 30min“
  • „Eine Mannschaft besteht aus 12 Spielern“
  • „Es ist erlaubt, den Gegner mit dem Rumpf zu sperren“

Zunächst konstituieren Regeln das, was wir unter Sport als Idee verstehen. Sie konstituieren aber auch die sportliche Praxis in den einzelnen Sportarten. Dann regulieren die Sportregeln, was erlaubt und unerlaubt ist. Schließlich eröffnen sie Wege, wie man erfolgreich die Idee des Sports, aber auch eine erfolgreiche Praxis im Sport meistern kann. Die Regeln können dabei schriftlich fixiert sein, wie es z.B. bei den Dopingbestimmungen, bei den Sportartenregeln, aber auch bei einigen strategischen Regeln der Fall ist. Sie können aber auch informellen Charakter besitzen, wie es z.B. für die moralischen Maximen im Sport oder für die Wettkampfidee üblich ist. Schließlich beziehen sich die Regeln auf die verschiedensten Sachverhalte. Zeit, Raum, Inventar und Personal sind davon ebenso betroffen wie die motorischen Aktionen der Sportler. Sie leiten aber auch die Moral, den Sinn, der dem Sporttreiben zugrunde liegt. Mit dieser formalen Beschreibung ist es mir nun möglich, im nächsten Schritt etwas genauer auf die Bedeutung einzugehen, die Sportregeln für unser Sporttreiben besitzen.

Worin liegt die Bedeutung der Sportregeln für unser Handeln im Sport?

Die Sportregeln garantieren den Sporttreibenden die Befriedigung ihrer Bedürfnisse, und sie sind Grundlage für ein ethisch-moralisches Handeln im Sport

Regeln, das sollte mit dem Begriff der konstitutiven Regel verdeutlicht werden, sind Bezugspunkte für das Beschreiben einer Praxis und Ausgangspunkt für deren Veränderung. Auf den Sport übertragen, bedeutet dies, dass es diesen ohne seine Regeln nicht gäbe. Im Gegensatz zu VOLKAMER nehme ich also nach wie vor an, dass sich der Sport über seine Regeln konstituiert (vgl. VOLKAMER 1983). Allerdings, und dies verdanke ich u. a. auch der Kritik VOLKAMERs, darf dabei nicht nur von Sportartenregeln die Rede sein. Sie konstituieren den Sport immer nur im Verbund mit jenen Regeln, die sich auf die ethischen und moralischen Maximen und auf den allgemeinen Sinn sportlichen Tuns beziehen. Was der Sport ist, ist also nur aufgrund der zugrunde liegenden Regeln zu verstehen. Die Regeln der einzelnen Sportarten sind dabei meist kunstvolle Gebilde, die sich oft über Jahrhunderte herausgebildet und bewährt haben. Sie haben vielen Menschen die Ausübung der jeweiligen Sportart ermöglicht, und sie haben den Menschen die Befriedigung jener Bedürfnisse garantiert, die diese dem Sport gegenüber eingebracht haben. Regeln des Sports haben nicht zuletzt aus diesem Grund keineswegs nur, wie vielfach behauptet wird, lediglich befehlende oder einschränkende Funktionen für das Handeln. Sie unterliegen auch nicht bloßer Willkür. Sie haben vielmehr einen intersubjektiven Charakter. Dieser ermöglicht erst das gemeinsame Sporttreiben. Die Regeln garantieren, dass wir morgen so Fußball spielen können wie gestern, dass wir wissen, ob ein Speerwurf gültig oder ungültig ist, und dass wir beschreiben können, was zu tun ist, wenn man eine bestimmte Sportart erlernen möchte.

Ich habe zu zeigen versucht, dass die Regeln in erster Linie eine ermöglichende Funktion besitzen. Diese Funktion können Regeln jedoch nur dann erfüllen, wenn jeder Sporttreibende die Regeln befolgt und sich darauf verlassen kann, dass sich die anderen entsprechend verhalten. Insofern ist regelkonformes Verhalten im Sport notwendige Bedingung für das Sporttreiben mit Partnern.

Wer als Athlet an einem Wettkampf im organisierten Sport teilnimmt, stimmt unausgesprochen zu, eine bestimmte Sportart nach einem bestimmten Satz von Regeln zu befolgen und dabei auch all jene Regeln zu beachten, die sich auf die Idee des Sporttreibens und auf die Ethik der gesamten Sportbewegung beziehen. Bleibt diese Zustimmung aus, so kommt es zu einer Bestandsgefährdung des Sportsystems. Dies ist z.B. der Fall, wenn Athleten gedopt am Wettkampf teilnehmen, wenn beim Fußball die gegnerische Mannschaft den Ball bewusst mit der Hand spielt oder wenn ich Sportgeräte benutze, die meinem Gegner nicht zugänglich sind. Diese Beispiele deuten darauf hin, dass es offensichtlich für die Teilnehmer am Sport wie für jede andere gesellschaftliche Organisation eine Mitgliedschaftsbedingung gibt, die die Ethik dieser Organisation, den Sinn des Sporttreibens und die Aktionen in den Sportarten garantieren. Wer am Sport teilnimmt, muss – will er das System nicht gefährden – quasi ein Versprechen abgeben, dass er die Mitgliedschaftsregeln einhalten wird. Das Befolgen aller weiteren Regeln lässt sich aus den Grundregeln der Mitgliedschaft ableiten.

Im Sinne einer vorgeschalteten Regel für unser Handeln im Sport kann deshalb formuliert werden: Jeder Sportler muss davon ausgehen, dass sein Partner ebenso aufrichtig bemüht ist, die Regeln des Sports einzuhalten wie er selbst. Dieses gegenseitige Akzeptieren hat zu jenem fraglosen Vertrauen geführt, auf dem die spezifischen Erlebnismöglichkeiten im Sport basieren. Man muss nicht jeden Tag von neuem Regeln konstituieren, man kann sich darauf verlassen, dass das, was gestern gegolten hat, auch heute noch gilt. Das Vertrauen geht einher mit der Aufrichtigkeit der am Sport beteiligten Partner. Die Begriffe „Vertrauen“ und „Aufrichtigkeit“ weisen auf jene stillschweigenden Regeln hin, die den Sportregeln den Charakter eines Sozialvertrages geben. Verstoßen die Partner dagegen, so ist der Sport als ein Sozialsystem in Frage gestellt. Für die Sporttreibenden heißt das, dass der einzelne Handelnde die ethische Basis des Sports nur dadurch erhält, dass er ohne Rücksicht auf eigene Präferenzen die Forderung nach einer allgemeinen Konformität akzeptiert. Diese Forderung wird umso bedeutsamer, wenn man erkennt, dass die Sportregeln einen quasi-universalen Charakter besitzen. Die ethisch-moralischen Maximen des Sports und die Regeln zur Spiel- und Sportidee werden wie die Fachverbandsregeln weltweit anerkannt, sie haben eine interkulturelle Basis und sie bilden nahezu das einzige Regelsystem auf der Welt, das kulturübergreifend interpretiert werden kann.

Die Idee des Sports als eine Friedensidee zu interpretieren ist deshalb nur vor dem interkulturellen Hintergrund der Sportregeln verständlich.

Dieser Sachverhalt verweist auf die pädagogische Bedeutung, die den Regeln im Zusammenhang mit der Frage nach den Möglichkeiten einer Friedenserziehung durch den Sport zukommt. Das Friedensprinzip des Sports ist fundiert in den Moralregeln zur Fairness, die zumindest folgendes umfassen:

  • Anerkenne deinen Gegner als Partner!
  • Achte auf die körperliche und persönliche Unversehrtheit deiner Konkurrenten!
  • Gewährleiste Chancengleichheit!
  • Schütze vor allem die Schwächeren!

Das Friedensverfahren, das der Sport gleichsam rituell anbietet, ist das der Regelbefolgung und der angemessenen Ahndung bei Regelverstößen. Beides – das Friedensprinzip und das Verfahren nützen freilich erst dann, wenn das Fairnessprinzip im Sport selbst überzeugende Gestalt annimmt (vgl. HUBER 1983, 1-5).

So wie der Sport sich heute darstellt, ist er keineswegs eine Friedens- und Menschenrechtsbewegung eigener Art, wie konservative Politiker und Sportfunktionäre meinen, aber er könnte es sein und werden. Dazu ist jedoch erforderlich, dass es zur Revision all jener Konterregeln im Sport kommt, die sich im Widerspruch zu den selbst auferlegten ethischen Maximen in den letzten Jahren entwickelt haben. Will man dies, so ist ein bewusster erzieherischer Umgang mit den Regeln erforderlich.

Die Sportregeln bilden eine Schlüsselstelle für das Training von Technik und Taktik

Der Sport kann als ein Bereich aufgefasst werden, der sich wie andere gesellschaftliche Bereiche auch durch seine Regeln konstituiert bzw. durch diese reguliert wird. Dieser Sachverhalt wird in vielen Analysen zur Regelthematik beschrieben. Weniger offensichtlich scheint hingegen zu sein, dass die konstitutiven Regeln darüber hinaus auch der zentrale Bezugspunkt für all das sind, was wir in einer Sportart trainieren und was uns an technischen und taktischen Möglichkeiten beim Ausüben einer Sportart offengehalten wird. Über Regeln ist sowohl konstitutiv als auch regulatorisch festgelegt, welches Bewegungsziel in einer Sportart verfolgt wird, was dabei bewegt wird, wer was bewegt, in welche Räume, Zeit und materielle Umgebung sich das Bewegungsereignis einzuordnen hat. Der Grund, warum man für das Handballspiel spezielle Würfe für spezifische Situationen trainiert, liegt z.B. darin, dass durch die konstitutiven Regeln die Art des Torwurfes nicht festgelegt ist, so dass unterschiedliche Würfe in der Luft im Torkreis erlaubt sind. Aber auch die Frage, ob in einer Sportart Kraft, Schnelligkeit oder Ausdauer zu trainieren ist, kann immer nur vor dem Hintergrund der in der jeweiligen Sportart gültigen Regeln beantwortet werden. Selbst die Eignung bestimmter Trainingsmethoden kann letztlich ohne das zugrunde liegende Regelwerk nicht sinnvoll beurteilt werden. Die Bedeutung, die die Regeln in diesem Zusammenhang besitzen, ist vielfach sowohl den Trainern als auch den Sporttreibenden unbekannt. Dies liegt daran, dass man sich im Training nur im Ausnahmefall auf die Regeln einer Sportart bezieht. Man sieht die Sportarten und die darin zu erbringenden Fertigkeiten immer als Ganzes. Wird jedoch eine Regel verändert, wird z.B. ein neuer Stab im Stabhochsprung zugelassen, so wird die Bedeutung der Regel für das Training ganz unmittelbar erfahrbar. Die Trainingsmethoden sind auf die neue Regel auszurichten, indem die Technik des Sprunges geändert wird.

Zeigt sich an diesem Beispiel, wie die Regeln für die Technik und für das Trainieren in einer Sportart von grundlegender Bedeutung sind, so gilt das gleiche noch in stärkerem Maße für die Taktik. Unter Taktik kann man ein Verfahren verstehen, das den am Sport Beteiligten auf der Basis der konstitutiven Regeln prinzipiell offensteht. Der Vielfalt der taktischen Möglichkeiten in einer Sportart werden somit durch deren konstitutive Regeln Grenzen gesetzt. Je offener die Regeln einer Sportart sind – vergleicht man z.B. verschiedene Sportspiele mit dem Schwimmen oder den Leichtathletikdisziplinen, so wird dies deutlich –, desto umfassender sind die taktischen Möglichkeiten. Die Taktik einer Sportart ist also keineswegs beliebig. Dem taktischen Handeln unterliegen vielmehr ungeschriebene Regeln, die festlegen, was unter Einhaltung der konstitutiven Regeln ein Akteur bzw. eine Mannschaft tun soll oder nicht tun sollte. Diese Regeln beeinflussen die Strategien, die Athleten bei ihrem Sporttreiben befolgen. Ich habe sie deshalb als strategische Regeln bezeichnet. Sie werden allein entwickelt oder gemeinsam mit Wettkampfpartnern und mit Trainern unter Ausnutzung der Handlungsspielräume, die durch die konstitutiven Regeln eröffnet werden, informell vereinbart und in situativer Abhängigkeit angewendet. Manche dieser strategischen Regeln haben sich aufgrund ihrer Eignung zu taktischen Rezepten verdichtet, die dann in Trainings- und Methodikbüchern als feste Lehrmuster vorliegen. Dies gilt z.B. für den Fosbury-Flop als optimales technisches Muster für die in den Hochsprungregeln vorgegebenen Wettkampfaufgaben.

Die individuelle Wahl der Technik kann also als ein taktisches Instrument verstanden werden. Im Handball haben sich auf diese Weise verschiedene Abwehrmuster (6:6, 5:1, 4:2) standardisiert, und im Fußball spricht man deshalb vom WM- oder vom 4:2:4-System.

Die Beispiele verdeutlichen, dass es strategische Regeln gibt, die sich zum einen auf die Wahl der Technik beziehen und zum anderen die Auseinandersetzung mit dem Gegner betreffen. Dass dem Sporttreibenden nicht bewusst ist, dass er auch beim taktischen Handeln bestimmten Regeln folgt, liegt in erster Linie an der Dominanz der konstitutiven bzw. regulatorischen Regeln. Für Lernende erfordert es die ganze Aufmerksamkeit und Anstrengung, eine Sportart nach deren konstitutiven Regeln zu betreiben. Das taktische Handeln bleibt dabei meist dem Zufall überlassen. Wird hingegen der Zusammenhang zwischen konstitutiven, regulatorischen und strategischen Regeln bewusst erfahren und weiß man als Sporttreibender um die strategischen Möglichkeiten, die sich einem aus dem konstitutiven Regeln eröffnen, so kann erwartet werden, dass auch weniger Geübte taktische Handlungsspielräume im Sport mehr nutzen, als es bisher der Fall ist. Akzeptieren wir, dass z.B. Spielfähigkeit keineswegs nur durch motorisches Können definiert werden kann, sondern auch die Fähigkeit zur Regelinterpretation, (also einen kognitiven Aspekt) enthält, so ist dieser Sachverhalt auch unter pädagogischen Gesichtspunkten bedeutsam.

Die Sportregeln stellen eine abhängige Variable zu den menschlichen Bedürfnissen dar

Meine besondere Betonung der Notwendigkeit regelkonformen Verhaltens könnte die Vermutung nahelegen, dass es im Sport in erster Linie darum zu gehen hat, Schüler möglichst optimal zum Regelbefolgen anzuleiten. Angesichts der üblichen Sportpraxis ist diese Vermutung verständlich, für die weitere Entwicklung des Sports, vor allem aber aus noch darzulegenden pädagogischen Erwägungen heraus, wäre es jedoch schlimm, wenn der Schulsport sich auf diese Aufgabe beschränken würde. Neben ihrer ermöglichenden Funktion ist es nämlich so, dass die Sportregeln durchaus auch zu einer Gefährdung des Sports selbst werden können. Es ist deshalb angebracht, dass ich im folgenden unter dem Motto „Sportregeln sind keine Naturgesetze! auf Gefahren hinweise, die sich im Sportbetrieb in Bezug auf die Regelthematik beobachten lassen (vgl. ÖHLSCHLÄGER 1974).

Am Beispiel des Fußballspiels habe ich darauf hingewiesen, wie ausgetüftelt das Regelwerk eines Spiels sein kann, das vielen Menschen eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse ermöglicht. Betrachtet man das Fußballspiel von Schülern oder ein Fußballspiel am Strand, so muss jedoch eingestanden werden, dass die positive Bewertung des offiziellen Regelwerks der Sportverbände nur bedingt aufrecht erhalten werden kann, ja dass es häufig sogar so ist, dass die Regeln der Sportverbände eine Teilnahme am Sport bzw. das sportliche Handeln verhindern. Wie ist das möglich?

Man darf zu Recht annehmen, dass die Sportregeln, vor allem die kodifizierten Regeln der Sportarten, ihre soziale Anerkennung erworben haben, weil sie sich institutionell auf die Zustimmung einer beschlusskompetenten Mehrheit berufen können. Ferner kann unterstellt werden, dass in diesem Konsensbildungsprozess die Mehrheit, die diesen Regeln zugestimmt hat, diese Zustimmung nicht erteilt hätte, wenn die speziellen Sportregeln nicht als wohlbegründet betrachtet worden wären. Damit ist aber keineswegs ausgemacht, dass jene Gründe, die zu den Mehrheitsentscheidungen geführt haben, auch sinnvolle Gründe sind für all jene Situationen, in denen die Sportart heute betrieben wird (vgl. LÜBBE 1978).

Dies zeigt sich, wenn man z.B. die Situation des Schul- und Freizeitsports unter dem Aspekt der Regelbegründung betrachtet. Zunächst kann man dabei feststellen, dass eine Regelbegründungspraxis sowohl im Freizeit- als auch im Schulsport nicht anzutreffen ist. Sie findet außerhalb der Schule statt und wird von den Sportfachverbänden vorgenommen. Das Regelein- und -durchsetzungsverfahren ist im Normalfall bereits abgeschlossen, bevor die Regeln an die Schule kommen, wo es letztlich also nur noch um das Regelbefolgen geht. D.h., die Schule vertraut, dank der vielfältigen, mehr oder weniger sinnvollen Verflechtungen zwischen Wettkampf- und Schulsport, auf die Begründungskompetenz der außerschulischen Partner. Dass dieses Verfahren pädagogisch gesehen kaum sinnvoll ist, lässt sich schon im ersten Blick daran erkennen, dass in der außerschulischen Begründungspraxis die Logik der Begründungen immer an der Prämisse gemessen wird, ob die einzelnen Regeln der zentralen Leitidee des außerschulischen Sports entsprechen. Diese Leitidee ist darauf ausgerichtet, dass über Regeln ein attraktiver, spannender, leistungsbezogener Wettkampf erzeugt wird, der sich durch das Merkmal der Konkurrenz auszeichnet und bei dem mit Beginn des Wettkampfes gleiche Chancen herrschen.

Wenn der Schulsport pädagogische Ansprüche erhebt, so dürfte es unmittelbar einsichtig sein, dass diese eindimensionale Begründungslogik für das sportliche Handeln im Schulsport nicht ausreichend sein kann. Übernimmt der Schulsport die Regeln der Sportfachverbände, so wird er solange fremdbestimmt, solange er diese Regeln ohne Prüfung übernimmt. Prüfen heißt aber, dass auch in der Schule der in den Regelkommissionen übliche Vereinbarungsprozess zwischen den Betroffenen stattfinden muss. Eine derartige Prüfung führt zu der Vereinbarung, dass die Regeln für die Belange des Schulsports tauglich und deshalb zu befolgen sind, oder sie führt zu dem Entschluss, dass zur Erfüllung der Schulsportbelange neue Regeln an Stelle der außerschulischen Regeln zu treten haben. Solch ein Verfahren schließt aus, dass den Schülern, die Regeln durch die Sanktionskraft des Lehrers zur Kenntnis gebracht werden, denn dies birgt die Gefahr in sich, dass Regeln ihre befähigende Funktion verlieren und von dem Schüler lediglich als Befehle erfahren werden.

Die heute übliche Begründungspraxis ist auch für das Handeln all jener Menschen fragwürdig, die nicht nur oder nicht mehr im Schulsport, aber auch nicht im Wettkampfsport ihre Bewegungsbedürfnisse befriedigen möchten. Heute wollen sich mehr Menschen als zu allen früheren Zeiten sportlich betätigen, ihren Körper erfahren, sich durch aktive Bewegung gesund erhalten, gemeinsam mit Partnern und gemischtgeschlechtlich spielen, um nicht zuletzt Anschluss an Gleichgesinnte, um Kommunikation mit Menschen zu finden, die ihnen außerhalb dieser Sport- und Spielsphären so häufig verstellt wird. Diese Beispiele deuten darauf hin, dass Menschen unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Fähigkeiten sehr verschiedene Bedürfnisse mit dem Sport verbinden. Sollen diese verschiedenen Bedürfnisse befriedigt werden, so gelingt dies kaum, wenn gleichsam über ein „Strickmuster“ Sport, wenn also nur über kodifiziert geregelte Sportarten versucht wird, den vielfältigsten Interessen gerecht zu werden. Da es um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse beim Sporttreiben geht, können nicht diese dem Sport, sondern der Sport muss an die Bedürfnisse der Menschen angepasst werden.

Dies ist deshalb möglich, weil alle Regeln prinzipiell veränderbar sind. Bei den kodifizierten Regeln kommt hinzu, dass die Kodifizierungen von Menschen gemacht sind, deshalb auch von diesen verändert, ja abgeschafft werden können. Regeln sind also veränderbar in jenem Sinne, dass sie tatsächlich gewählt worden sind, was sich darin zeigt, dass stets die Möglichkeit besteht, sie aufzuheben und durch andere zu ersetzen.

Die Möglichkeit der Abweichung von einer Regel ist konstitutiv für den Begriff der sozialen Regel. Nur weil die Sportregeln diese Eigenschaft besitzen, war es z.B. möglich, dass sich das Fußballspiel über viele Stationen zu jenem Spiel entwickelt hat, das heute bekannt ist und geschätzt wird. D.h. aber auch, dass morgen Fußball nicht so gespielt werden muss, wie es heute für sinnvoll gehalten wird, und dass heute Partner anders Fußball spielen können, wenn sie sich darüber geeinigt haben. Bringt man diese Beobachtungen zu den eingangs gemachten Hinweisen zur Bedeutung der Sportregeln in Bezug, so kann man resümierend feststellen, dass die Möglichkeit, von Regeln abzuweichen, und die Offenheit des Zusammenhangs zwischen Regel und Regelbefolgung bzw. Handeln zwei Gesichter hat: Ein kreatives, das zu neuen Formen führen kann, aber auch ein gefährliches, das die intersubjektive Basis der Regeln in Frage stellt.

Mit meinem Hinweis auf die prinzipielle Veränderbarkeit der Sportregeln habe ich eine Möglichkeit angedeutet, wie der Sport den Bedürfnissen der Menschen angepasst werden könnte. Bezogen auf die aktuelle Situation muss jedoch konstatiert werden, dass die Befriedigung jener Bedürfnisse, die die Menschen in so vielfältiger Weise an den Sport herantragen, heute nicht immer gelingt und dass noch immer viele Menschen von einem aktiven Sich-Bewegen ausgeschlossen werden. Woran liegt das, und was müsste getan werden, wenn man diesen Zustand verändern möchte?

Ich möchte zwei Gründe nennen: Einmal scheint es so zu sein, dass die erwähnten Unterschiede zwischen Naturgesetz und Regel von vielen Menschen nur selten gesehen werden. Dies führt häufig dazu, dass nicht nur im Sport die durch Regeln festgelegten Bereiche unserer Gesellschaft den Anschein erwecken, als seien es Naturgesetze, die unser menschliches Handeln ein für allemal festgelegt hätten. Sport wird gleichsam biologisch als eine Naturkonstante betrachtet. Da wir diese Annahme häufig auch bei Sportlehrern, bei Sportwissenschaftlern und bei Sportlern antreffen, ist es besonders wichtig, dass man den Irrtum offenlegt, der dieser Annahme zugrunde liegt.

Ein zweiter Grund könnte sein, dass das Regelbewusstsein z.B. der Schüler, aber auch vieler erwachsener Freizeitsportler heute sehr stark durch jene Sozialisationsagenturen beeinflusst wird, denen sie besonders zugeneigt sind. Diese Agenturen stellen den Sport jedoch in einer nahezu absolutistischen Ausprägung dar. Im Fernsehen wird Kindern und Jugendlichen ein Sport gezeigt, der sich unter Regelaspekten durch das Merkmal der Konstanz auszeichnet. Diese Konstanz ist freilich nur virtuell. Sie entsteht, weil das historische Gewachsensein des Sports und insbesondere seiner Sportarten in der Gegenwart nicht ersichtlich ist und weil man als aktiver Sporttreibender in der Regel an der zukünftigen Gestaltung des Sports nicht beteiligt wird.

Die zwei von mir genannten Gründe sind wichtig. Bedeutsamer jedoch erscheint mir zu sein, dass wir vor dem Hintergrund dieser Gründe und der dadurch gewonnenen Einsichten zu einer neuen Regelbegründungspraxis im Sport finden. Meines Erachtens kann nicht länger akzeptiert werden, dass die Sportfachverbände festlegen, wie in unserer Gesellschaft Sport zu betreiben ist, wenn sich junge Menschen im Feld sportlicher Bewegung betätigen wollen. Die Sportverbände tun dies in ihrer Reichweite weit über jene Grenzen hinaus, unter denen deren Regelbegründungs- und Durchsetzungsinstanzen antreten. Möglicherweise tun sie dies unbewusst. Sie tun dies vor allem, ohne dass sie ausdrücklich in Kontakt treten mit jenen Personen, die ihre Regeln zu befolgen haben. Im Bereich des Schulsports ist dieser Zusammenhang gefährlich und für den Freizeitsport nicht weniger bedenklich. Akzeptiert man meine Bewertung, so muss geprüft werden, ob es auch für den Sport möglich ist, adressatenspezifische, informelle Begründungs- und Durchsetzungsverfahren, d.h. bedürfnisorientierte Regelfindungsprozesse zu entwickeln.

Zur Bedeutung der Sportregeln für das erzieherische Handeln

Meine bislang gemachten Ausführungen und die eingangs erläuterte Regeltypik deuten darauf hin, dass sich das Phänomen des Sports mittels seiner Regeln äußerst exakt beschreiben lässt. Dies ist aber eher ein nebensächlicher Aspekt der Regelthematik. Wichtiger ist, dass eine regelanalytische Betrachtung auf eine ganze Reihe von Möglichkeiten verweist, die die Sportpädagogik und dort vor allem das Lehren und das Lernen im Sport betrifft. Einige habe ich in meinen Ausführungen bereits erwähnt. Zum Schluss möchte ich nun zentral auf die Bedeutung von Sportregeln für das erzieherische Handeln im Schulsport eingehen. Was lässt sich anhand von Sportregeln im Unterricht erfahren? Für welche erzieherischen Absichten könnten die Sportregeln bedeutsam sein?

Ganz allgemein kann auf diese Fragen geantwortet werden, dass sich jedes Lehren und Lernen bestimmter Bewegungsmuster an den Regeln zu orientieren hat, die der Lernende befolgen soll. Ihre eigentliche pädagogische Bedeutung erhalten die Regeln jedoch in erster Linie vor dem Hintergrund jener Absichten, die uns veranlasst haben, den Sport als einen Bildungs- und Erziehungsanlass zu betrachten und ihn deshalb zu einem Unterrichtsfach in der Schule zu machen. In der Sportpädagogik wird zwar in unterschiedlicher Weise, doch im Allgemeinen anerkannt, dass es eine zentrale Aufgabe des Sports ist, Schüler zu handlungsfähigen Partnern im und außerhalb des Sports zu erziehen. Die Handlungsfähigkeit im Sport von Schülern wie auch von anderen Menschen zeichnet sich vor allem dadurch aus, was sie im Sport machen (leisten), was sie über Sport sagen und vom Sport verstehen, was sie vom Sport wissen und was sie beim sportlichen Tun erleben und fühlen können. In unterrichtlichem Handeln geht man üblicherweise davon aus, dass die Handlungsfähigkeit der Schüler in einem oder mehreren der genannten Bereiche nicht ausreicht, d.h. dass die Handlungsfähigkeit der Schüler noch erweiterungsbedürftig ist. Aus diesem Grund lehrt und trainiert man die Schüler in technischer und taktischer Hinsicht, und die Handlungsfähigkeit der Schüler erhöht sich dadurch in erster Linie im Bereich dessen, was sie im Sport leisten können. Das praktische Handeln beschränkt sich dabei meistens nur auf die jeweils ausgeübte Disziplin. Ob die jeweilige Technik oder die jeweilige Spielinteraktion Ähnlichkeiten zu Techniken oder Interaktionen anderer Disziplinen aufweist oder ob es gar Strukturgleichheiten innerhalb der verschiedenen Disziplinen gibt, wird dabei allenfalls unbewusst vom Schüler erfahren.

Will man Schüler nur auf das Ausüben einer gewählten Disziplin vorbereiten, soll ein Schüler z.B. lediglich Volleyball lernen, so ist dies kein Nachteil. Will man hingegen mittels Schulsport die Schüler in die Lage versetzen, als Schüler und zukünftige Erwachsene in Sportdisziplinen mitmachen zu können, die es zum Zeitpunkt des Sportunterrichts noch nicht gab bzw. die im Sportunterricht nicht unterrichtet werden können; will man die Lernenden in die Lage versetzen, mit Partnern Sport zu treiben, sportbezogene Aufgaben in eigener Regie zu bewältigen, beim motorischen Lernen Partnern zu helfen, d.h. selbst zu lehren, sollen Schüler die Welt des Sports verstehen und Sportwettkämpfe als passive Zuschauer kompetenter betrachten können, so wäre das aufgezeigte Vorgehen von Nachteil.

Für das Lehren einer Sportart ist die Übersicht über die verschiedenen Möglichkeiten der Regelveränderung grundlegend. Erst diese Übersicht versetzt uns in die Lage, eine Sportart planvoll zu vereinfachen oder auch schwieriger zu gestalten. Diese Übersicht ist aber auch dann vonnöten, wenn man z.B. ein Spiel spannender und interessanter machen, wenn man sich in einer Sportart mehr belasten möchte, eine Sportart weniger gefährlich sein soll oder wenn man sich im Sport an eine aktuelle Situation anpassen muss. Die Spielregeln müssen z.B. an die Zahl der verfügbaren Spieler, an unvollständiges Spielgerät oder an ein ungenügendes Spielfeld angepasst werden.

Diese Beispiele machen deutlich, dass es notwendig ist, dass die Regelhaftigkeit des Sports im Unterricht bewusst reflektiert wird. Die Schüler müssen die Regeln kennenlernen, die ihr Handeln leiten und über einen spielerischen Umgang mit den Regeln müssen sie in die Lage versetzt werden, die aufgezeigten Fähigkeiten im Unterricht zu erproben. Tut man dies, so kann ein nicht weniger wichtiges Ziel möglicherweise gleich miterreicht werden.

Ich habe darauf hingewiesen, dass die am Wettkampfsport orientierten Regeln nur begrenzt den Anforderungen der schulischen Sportwirklichkeit bzw. den Interessen und Bedürfnissen von Sporttreibenden entsprechen. Zum Teil rufen solche Regeln Konflikte zwischen Lehrern und Schülern oder zwischen Schülern hervor. Ein Teil der Schüler wird durch das offizielle Reglement bevorzugt, der andere Teil eher benachteiligt. Will man solche, aber auch andere Unterrichtskonflikte lösen, so müssen u.a. auch immer die Regeln verändert werden, die die Konflikte mitbedingt haben. Wenig sinnvoll erscheint es dabei zu sein, dass der Lehrer Regelveränderungen einbringt, ohne den Schülern die Sinnhaftigkeit solcher Änderungen erläutert zu haben. Vielmehr ist es erforderlich, dass Schüler erfahren, wie der Schwierigkeitsgrad einer Sportart dadurch verringert werden kann, dass die betreffenden Regeln verändert werden. Sie müssen herausfinden können, welche Regeln es sind, die in einer Sportart an verschiedene Altersstufen angepasst werden müssen, und sie müssen lernen, wie die komplexe Struktur einer Sportart durch systematische Regelvereinfachung durchschaubarer und eine Sportart auf diese Weise lehr- und lernbar wird.

Dadurch kann der Sport auch sozialer gemacht werden. Ausgeschlossene könnten wieder in ein Spiel miteinbezogen werden, und Erlebnisse, die die ursprünglichen Regeln nicht zugelassen haben, werden erfahrbar. Durch Kombination verschiedener Regeltypen aus verschiedenen Sportarten lassen sich darüber hinaus neue Sportarten kreieren, und hat man dies erfahren, so ist es meist leicht, eigenständig neue Bewegungsmuster zu schaffen. Die Regelthematik hat damit eine wesentliche Bedeutung auch im politischen Sinne im Hinblick auf die Veränderung des Sports in der Gesellschaft, abhängig von den jeweiligen Interessen und Bedürfnissen von Menschen.

Wer hingegen den unreflektierten Regelvollzug der Schüler fordert, wie es auch heute noch einige Sportpädagogen tun, der stellt sich diesen Aufgaben nicht, der verhindert die freie Interessenäußerung der Schüler. Sport wird nur reaktiv erfahren, eigeninitiatives, kreatives Handeln wird in einem derartigen Sportunterricht unterschlagen. Insgesamt betrachtet, ist damit die pädagogische Chance vertan, die sich uns über die Sportregeln eröffnet.


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letzte Überarbeitung: 25.03.2018

Erstveröffentlichung: Zur pädagogischen Bedeutung von Sportregeln. In: ADL (Hrsg.): Schüler im Sport – Sport für Schüler. Schorndorf 1984, 199-213. / Zur pädagogischen Bedeutung von Sportregeln. In: Landessportbund Hessen (Hrsg.): Sportwissenschaft in Hessen. Frankfurt/Main 1986, S. 28-40.