von Helmut Digel
- Vorbemerkungen
Das Thema dieses Essays ist faszinierend und schwierig zugleich. Schwierig ist es, weil man bei der Behandlung des Themas auf nur wenige Vorarbeiten zurückgreifen kann, man also in gewisser Weise Neuland betritt. Faszinierend ist das Thema vor allem deshalb, weil das Phänomen der Ungleichzeitigkeit unter kulturwissenschaftlichen und soziologischen Gesichtspunkten ohne Zweifel eine besondere Faszination ausübt. Würde sich alles zur gleichen Zeit ereignen, so wären unsere Kulturen und unsere Gesellschaften uniforme und konforme Entitäten. Unsere Welt, in der wir leben wäre langweilig und eintönig. Ungleichzeitigkeit ist deshalb vermutlich die Bedingung, dass wir jene Vielfalt erfahren können, durch die sich menschliche Kulturen auszeichnen.
Es scheint deshalb eine besondere Paradoxie zu sein, dass man sich mittels politischer Maßnahmen von der Ungleichzeitigkeit verabschieden möchte und einen Zustand der Gleichzeitigkeit anstrebt, der jedoch nicht nur unter anthropologischen Gesichtspunkten niemals erreicht werden kann. Er erscheint auch aus einer normativen Perspektive kaum als wünschenswert. Wer wie ich sich nunmehr über mehr als 40 Jahre im Feld der Entwicklungszusammenarbeit des Sports bewegt hat, für den hat das Phänomen der Ungleichzeitigkeit den Charakter einer alltäglichen Realität. Ungleichzeitigkeit wird dabei im Alltag der Entwicklungszusammenarbeit meist als störend empfunden, ohne dass erkannt wird, dass im Phänomen der Ungleichzeitigkeit möglicherweise die entscheidende Chance für eine wünschenswerte Entwicklungszusammenarbeit liegen könnte. Damit wir dies verstehen, ist es notwendig, dass wir uns etwas genauer mit dem Phänomen der Zeit auseinandersetzen.
- Soziologische Anmerkungen zum Phänomen der Zeit
Auf der Grundlage moderner Zeitmessung ist es uns heute möglich, zu einem definierten und bemessenen Zeitpunkt an jedem Ort der Welt eine bestimmte Handlung gleichzeitig zu vollziehen. Bei der Live-Übertragung des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft betrachten Milliarden von Zuschauern zeitgleich überall in der Welt dasselbe Sportereignis. Für die einen ist es dabei Nacht, für die anderen ist es Tag, die einen haben tropischen Sommer, die anderen eiskalten Winter, die einen befinden sich auf Meereshöhe, die anderen in 4.000 m Höhe, die einen sind Christen, die anderen sind Moslems, die einen sind Jugendliche, die anderen sind Senioren, die einen Frauen, die anderen Männer. Ihnen allen ist gemein, dass sie zum gleichen Zeitpunkt exakt dasselbe tun. Diese Art von Gleichzeitigkeit ist zum Glück äußerst selten. Sie wird wohl immer wieder aus verschiedenen Interessenslagen heraus angestrebt, so zum Beispiel durch das IOC, durch Sponsoren, durch das Fernsehen. Je mehr Menschen man an eine Sache gleichzeitig binden kann desto eher können ökonomische Interessen erfolgreich realisiert werden. Normal für das menschliche Zusammenleben ist diese Art von Gleichzeitigkeit jedoch nicht. Normal ist vielmehr, dass ich jetzt etwas anderes tue als der Leser dieser Zeilen. Normal ist, dass wir in einer Schule etwas anderes tun als in einer Fußgängerzone. Dass den Menschen zu jedem Zeitpunkt eine Vielfalt von Handlungsoptionen offenstehen und sie diese auch wahrnehmen, dies scheint eine sinnvolle anthropologische Errungenschaft zu sein.
Verwenden wir den Begriff der Ungleichzeitigkeit im Zusammenhang mit der Entwicklungszusammenarbeit, so wird der Begriff der Zeit auf eine andere Weise verwendet, als dies unter dem Aspekt der Gleichzeitigkeit üblich ist. Der Zeitbegriff bezieht sich auf Zeiträume und es werden dabei historische Konstellationen miteinander verglichen. Der Vergleich unterliegt einer normativen Perspektive. Es gibt dabei unter zeitlichen Gesichtspunkten einen fortgeschrittenen Zustand, der zeitlich sich später ereignet im Vergleich zu einem weniger fortschrittlichen Zustand, der zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat. „Schlechter-besser“, „primitiv-modern“, „einfach-komplex“, „prä und post“ sind die dabei meist implizit vorhandenen normativen Gegensatzpaare.
An einem Beispiel lässt sich dies erläutern. In einem Entwicklungsland beobachtet der deutsche Experte Kinderarbeit und hält dies unter ethischen Gesichtspunkten für nicht akzeptabel, weil dies in seiner Heimatgesellschaft als nicht akzeptabel gedeutet wird. Er erinnert sich jedoch, dass noch in seiner eigenen Kindheit Landarbeit von Kindern in Deutschland üblich gewesen ist und dass es auch im 19. Jahrhundert in Deutschland Kinderarbeit gegeben hat. Aus der Sicht des Entwicklungsexperten ist das Entwicklungsland in einem vergleichbaren Zustand wie Deutschland im 19. Jahrhundert, es befindet sich nicht auf der Höhe der Zeit. Auf diese Weise kommt es zur Unterscheidung zwischen modern und unmodern, zwischen unterentwickelt und entwickelt, zwischen primitiv und fortschrittlich. Der Gradmesser für die Ungleichzeitigkeit ist dabei ganz offensichtlich eine normative Konzeption von Gesellschaft, die der eine Partner in der Entwicklungszusammenarbeit für angemessen hält und deshalb dem anderen Partner zur Nachahmung empfehlen möchte. Mit Blick auf die Entwicklungszusammenarbeit, so wie sie sich für Berater in diesem Feld darstellt, ist damit das Dilemma gekennzeichnet, das sich aus der Perspektive des Phänomens der Ungleichzeitigkeit ergibt.
- Stereotype der sportbezogenen Entwicklungszusammenarbeit
Die Entwicklungsberatung auf dem Gebiet des Sports kann viele Bereiche umfassen. Zu Beginn der internationalen Entwicklungsberatung hatte die Bildungsberatung ein Alleinstellungsmerkmal. Die Beratung reichte und reicht bis heute von der Kindergartenberatung bis zur Universitätsberatung. Es geht dabei um die Einführung neuer sportbezogener curricularer Inhalte, um die Entwicklung und Herstellung von Schulsportgeräten und um die Einrichtung neuer sportbezogener Lehrerbildungsstätten. Der Sport soll dabei auch zum Bestandteil außerschulischer Bildung werden. Es wird die Errichtung sportwissenschaftlicher Lehrstühle initiiert, aber auch der Bau und die Entwicklung sportwissenschaftlicher Forschungseinrichtungen sind beispielhafte Projektthemen, die in dieser Zusammenarbeit bearbeitet wurden. USA und Europa waren dabei die Modellgeber. Später waren es vermehrt auch kommunistische Staaten; an der Spitze die Sowjetunion und die DDR. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Warschauer-Pakt-Staaten hat sich die Modellgeberlandschaft verändert. Europa und USA spielen nach wie vor eine vorrangige Rolle, hinzugekommen sind Australien, Japan, China und Kanada. Das Vorgehen ist dabei immer dasselbe: Der Entwicklungsberater empfiehlt dem Entwicklungspartner Strukturen und Inhalte, wie sie sich in fortgeschrittenen Gesellschaften, in der Regel in der eigenen Heimatgesellschaft bewährt haben.
Ein zweiter Beratungsschwerpunkt bezieht sich auf die Organisationsentwicklung im Sport. Hierbei werden den Verantwortlichen in den Entwicklungsländern der Aufbau von Organisationsstrukturen nahegelegt, wie sie sich in erfolgreichen Sportnationen bewährt haben. Dazu gehören die Gründung einer Vereins- bzw. Clubstruktur, die Einrichtung einer Wettkampfstruktur und eines Schiedsrichterwesens, der Aufbau einer zentralen Verbandsverwaltung und einer nationalen Dachorganisation für alle Sportverbände. Auch hier handelt man unter der Annahme, dass eine Geschäftsstelle, wie sie sich für einen Verband in Europa bewährt hat, auch eine geeignete Geschäftsstelle für einen afrikanischen Verband sein könnte, dass ein Lizenzwesen für Übungsleiter in vergleichbarer Weise in Asien oder Afrika aufgebaut werden sollte und dass zur Organisation des Sports ein Zusammenspiel zwischen ehrenamtlich und hauptamtlich Tätigen in Lateinamerika wünschenswert sei wie in Deutschland.
Ein dritter Bereich in der Beratung bezieht sich auf die Kommunikationsberatung, die sowohl die Kommunikation im Sport als auch die Kommunikation über Sport einbezieht. Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Sportjournalisten, für Verantwortliche im Bereich des Sportfernsehens, Beratung beim Aufbau von Websites können dabei beispielhaft ebenso erwähnt werden, wie die Entwicklung von Vereinszeitschriften und Verbandsmagazinen etc. Auch in diesem Bereich holt der Berater seine Vorschläge aus der Kommunikation der Wissensgesellschaft der fortgeschrittenen Staaten. Der Experte ist meist deshalb vor Ort, weil er über entsprechende kommunikative Erfolge in jenem Land verfügt, das ihn entsandt hat.
Als vierter Sektor lässt sich der ökonomische Beratungssektor kennzeichnen, in dem die Event-, Marketing-, Promotion- und Sponsoringberatung eine wichtige Rolle spielen. Internationale Verbände, wie zum Beispiel die FIFA oder die IAAF bzw. World Athletics, führen zu diesem Zwecke Marketingseminare in ihren Mitgliedsorganisationen der Dritten Welt durch, bilden Generalsekretäre fort und versuchen dabei neue Kompetenzen aufzubauen. Sie möchten auf diese Weise den Mitgliedsorganisationen neue Einnahmequellen erschließbar machen. Im günstigsten Falle soll damit eine Event- und Wettbewerbsstruktur begünstigt werden, die den jeweiligen Sport zu einer weltweiten Anerkennung führt. Auch hier haben die Experten und Dozenten, die auf diesem Gebiet tätig sind, ihre Ausbildung in der ersten Welt erhalten, ihre Erfahrungen dort in Event- und in Marketingunternehmen der erfolgreichen Sportnationen gemacht und ihr Wissens- und Erfahrungsschatz ist auf die Fragestellungen fortgeschrittener Industrienationen ausgerichtet.
- Nachhaltigkeit – das ungelöste Problem
Fast all diese Beratungsleistungen zeichnen sich durch ein gemeinsames Merkmal aus: Findet die Beratung statt, so findet sie höchste Anerkennung bei den Partnern, sie stößt auf Resonanz und erzeugt auch kurzfristige Erfolge. Mittel- und langfristig erleben die Berater ihre Tätigkeit jedoch als frustrierend. Die Impulse, die die Berater geben, haben meist keine nachhaltige Wirkung. Überprüft man die Intervention zu einem späteren Zeitpunkt, so stellt man fest, dass keine neuen Strukturen zu erkennen sind, die die Umsetzung der Beratungsleistungen möglich machen. Fast immer waren die Beratungsleistungen punktuell ausgerichtet, vernachlässigen die Interdependenzen, in denen sich das zu beratende „System“ im Verhältnis zu seiner Umwelt befindet. Vor allem wird nur selten oder meist gar nicht berücksichtigt, dass jede gelingende Entwicklung letztendlich an perspektivische-ökonomische Voraussetzungen gebunden ist. Da der produktive Sektor in den Nehmergesellschaften in der Regel nicht jene Leistungskraft aufweist, die es ermöglicht, Dienstleistungsstrukturen zu gewähren und abzusichern, wie sie in fortgeschrittenen Gesellschaften üblich sind, sind die Beratungsleistungen der Berater, die ja vorrangig auf Dienstleistungen ausgerichtet sind, in nahezu schicksalhafter Weise einem Scheitern unterworfen. Wie sich dies in der Praxis zeigt, soll an einigen Beispielen erläutert werden.
- Da beraten Fußballexperten Afrikas Fußballverbände seit mehr als 50 Jahren und empfehlen den Aufbau von Übungsleiterkursen, stellen Modellkurse vor, bauen selbst eine erste Lizenzstufe auf und erreichen, dass während ihrer Abwesenheit ein mehrstufiges Ausbildungssystem im nationalen Fußballverband eingeführt wird. Bereits bei der ersten sorgfältigen Evaluation muss jedoch erkannt werden, dass das, was der Experte während seiner Anwesenheit beraten und aufgebaut hat, nach kurzer Zeit nicht mehr angetroffen werden kann. Wenige Jahre später kommt der nächste Experte ins Land. Nahezu auf identische Weise werden von ihm die Problemanalyse und die notwendigen Maßnahmen zur Lösung des Problems durchgeführt und vorgeschlagen. Auch er weist kurzfristige Erfolge auf. Nach Ablauf seiner Projektzeit fällt sein Projekt jedoch dem gleichen Schicksal anheim, wie das seines Vorgängers. Solche Vorgänge können sich in Afrika in manchen Ländern bereits zum vierten oder fünften Mal wiederholen, ohne dass man die grundlegende Frage stellt, warum derartige Projekte keine nachhaltige Wirkung in Nationen haben können, die schwierige ökonomische und politische Verhältnisse aufweisen, wie dies z. B. in Afrika in der Regel der Fall ist.
- Der internationale Leichtathletik-Verband berät in seiner Entwicklungszusammenarbeit seine 210 Mitgliedsverbände. Seine Förderprogramme sind dabei vorrangig auf die unterentwickelten Nationen ausgerichtet. Auf eigene Kosten bildet er Leichtathletiktrainer in so genannten regionalen Entwicklungszentren (RDC) aus. Jährlich steigert er seinen Output, mehr als 5.000 so genannte „Level One Coaches“ wurden seit der Begründung dieses Programms ausgebildet. Überprüft man die Nachhaltigkeit dieser Ausbildung, so muss man allerdings feststellen, dass von den ausgebildeten Trainern nur sehr wenige tatsächlich als Trainer tätig sind. Dies hält den Verband nicht davon ab, seine Entwicklungszusammenarbeit über die Ausbildungszahlen zu dokumentieren, um zu zeigen, wie engagiert und verantwortungsvoll er in der Welt in der Entwicklungszusammenarbeit handelt.
- Ein nationaler europäischer Sportdachverband lädt jährlich die Repräsentanten von NOKs aus Entwicklungsländern ein. Sie werden dabei in Bezug auf deren Organisationsprobleme beraten, lernen das Verbands- und Vereinswesen des Gastgeberlands kennen und es wird ihnen empfohlen, Ehrenamtsstrukturen auf der Ebene der Vereinsarbeit aufzubauen. Vor Ort in den Entwicklungsländern kann man jedoch beobachten, dass auch nach Jahrzehnten derartiger Beratung keine Ehrenamtsstrukturen entstehen können, beziehungsweise entstanden sind. Angesichts der Überlebenskämpfe, die die Menschen täglich zu führen haben, ist es vielmehr normal, dass die Mitarbeiter in den Sportverbänden neben ihrer Tätigkeit im Verband mehreren bezahlten Tätigkeiten nachgehen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Die Gründung freiwilliger Vereinigungen oder gar ein ehrenamtliches Arbeiten in diesen Vereinen, ohne dass eine entsprechende Vergütung erfolgt, sind angesichts der widrigen Lebensumstände, in denen sich die Menschen befinden, nahezu abstruse Vorstellungen.
- Vermutete Ursachen des Scheiterns
Die Liste der Beratungsbeispiele könnte fortgeführt werden, ohne dass dadurch ein neuer Erkenntnisgewinn entstehen würde. Die Diagnose ist vielmehr eindeutig. Internationale Entwicklungsberatung ist heute nach wie vor eine Einbahnstraße. Erkenntnisse, Erfahrungen, Modelle, Methoden, Wissensbestände, Wertemuster, Organisationsformen und teilweise auch ganze Systeme werden aus der ersten in die Dritte Welt transportiert. Angesichts der kolonialen und kulturellen Beeinflussung der dort anzutreffenden nationalen Eliten und der gebildeten Schicht wird damit kurzfristig eine positive Resonanz erzielt. Entwicklungsberatung kann dabei auch politisch als Erfolg bilanziert werden. Mittel- und langfristig ist solche Beratung jedoch eher erfolglos und teilweise sogar schädlich. Das strukturelle Phänomen der Ungleichzeitigkeit wird dabei nicht beachtet. Die Frage nach der geeigneten Kopplung zwischen bestehenden und den zu ergänzenden Strukturen, wird nicht angemessen gestellt. Das, was den Begriff der Zusammenarbeit auszeichnet, wird in dieser Beratungskonzeption häufig oder fast immer mit Füßen getreten.
Für die Projekte des Sports muss mit Blick auf die Erfahrungen der Vergangenheit konstatiert werden, da sie meist nur sehr unzureichend vorbereitet und auf äußerst fragwürdige Weise evaluiert wurden. Es ist dabei festzustellen, dass die als positiv bezeichneten Ergebnisse der Entwicklungszusammenarbeit im Bereich des Sports auf einer unzureichenden empirischen Evidenz basieren. Die Methoden, die dabei zur Anwendung kommen, weisen organisatorisch, institutionell und inhaltlich erhebliche methodische Schwächen auf. Meist wurde und wird dabei nur ein sehr vereinfachter „Input-Output-Vergleich“ vorgenommen. Vor allem die nachhaltigen Wirkungen in Bezug auf die definierten Zielgruppen werden bislang so gut wie gar nicht erfasst. Die Evaluierung selbst findet meist fragmentiert statt. Dies liegt vorrangig an den unzureichenden finanziellen Mitteln, die dabei genehmigt werden. So kommt es häufig zu sehr begrenzten Evaluierungen, die wiederum sehr verzerrte Ergebnisse zur Folge haben. Für die Sportprojekte muss dabei grundsätzlich festgestellt werden, dass es ihnen an verlässlichen Messinstrumenten mangelt. So genannte „Baseline-Studien“ zu Projektbeginn, wie man sie heute erwarten müsste, haben nur äußerst selten oder gar nicht stattgefunden. Sie sind aber Voraussetzung für einen Prä- und Post-Interventionsvergleich. Auch für die Sportprojekte stellt sich dabei als zentrale methodische Herausforderung die Frage, ob sich die erhobenen empirischen Befunde einer kontrafaktischen Argumentation stellen können. Wie hätte sich die Situation entwickelt, wenn es die entwicklungspolitische Intervention mittels des Medium Sport nicht gegeben hätte. Damit ist ein bedeutsamer Aspekt genannt, der bei einer modernen Evaluierung der Entwicklungszusammenarbeit grundsätzlich zu beachten ist. Innerhalb der OECD Geberländer gibt es auf der Grundlage der nach wie vor sehr lesenswerten „Paris-Agenda 2005“ noch weitere methodische Empfehlungen, die in der Evaluierungsmethodik zu beachten sind. So wird empfohlen, randomisierende Experimente durchzuführen, so dass eine statistisch fundierte kontrafaktische Argumentation möglich wird und dass es neben den Interventionsgruppen auch Kontrollgruppen zu geben hat und für beide Gruppen das Prinzip der Zufallsauswahl zu gelten hat. Für die Sportprojekte, so wie sie uns bekannt sind und deren Anzahl ja auch sehr begrenzt ist, scheint dieser Anspruch nicht realistisch zu sein. Dennoch muss auch für den Bereich des Sports beachtet werden, dass randomisierende Experimente prinzipiell qualitativen Verfahren, wie teilnehmender Beobachtung, Fokusgruppeninterviews, etc. überlegen sind. Diese Verfahren werden in der Regel bei der Evaluierung von Sportprojekten genutzt. Zu einer Kombination harter und weicher Methoden, wie sie prinzipiell wünschenswert ist, ist es bislang hingegen nur ganz selten gekommen.
Ein weiteres Problem der Überprüfung der Sportprojekte liegt in der Unabhängigkeit der Evaluation selbst. Sie sollte zukünftig gesichert werden. Dann würde es sich von selbst verbieten, dass Projektexperten sich selbst evaluieren. Doch genau dies war in der Vergangenheit häufig der Fall. Fanden externe Evaluationen statt, so hatten sie meist eine zu große Nähe zum Projekt selbst und es kamen häufig nur jene Ergebnisse zum Tragen, die vom Projektauftraggeber erwünscht wurden. Deshalb war es zu begrüßen, dass im Jahr 2008 die Organisation „International Initiative for Impact-Evaluation“ (3IE) gegründet wurde. Über diese Organisation können Zuschüsse für Evaluierungsmaßnahmen und für die Publikation der Ergebnisse beantragt werden. Es wäre wünschenswert, dass auch der Sport sich diesem Verfahren stellt, um auf diese Weise mittel- und langfristig die Nachhaltigkeit der Entwicklungszusammenarbeit auf dem Gebiet des Sports zu sichern.
- Forderungen an zukünftige Entwicklungszusammenarbeit
Wer sich heute verantwortungsvoll mit der Entwicklungszusammenarbeit auf dem Gebiet des Sports auseinandersetzen möchte, der hat zunächst und vor allem auch die Erkenntnisse der entwicklungstheoretischen Forschung der vergangenen Jahrzehnte zur Kenntnis zu nehmen. Dazu gehört die warnende Einsicht, dass Transferleistungen in der Entwicklungszusammenarbeit zur Alimentierung korrupter Strukturen führen können. Diese Einsicht resultiert aus den allgemeinen Erfahrungen in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Sie gilt ohne Zweifel auch für den Bereich des Sports. Auch in Bezug auf die Makroebene einer Gesellschaft wissen wir heute etwas genauer, dass Transfers der Entwicklungszusammenarbeit eine hohe Abhängigkeit bewirken können. Diese Abhängigkeit hat negative Auswirkungen auf die Qualität des politischen Handelns der Nehmerländer. Dies gilt auch für die Transferbereiche Bildung, Gesundheit und Sport. Auch hier hat der Entwicklungstransfer zur Folge, dass das Nehmerland die hierzu vorgesehenen Ressourcen anderweitig verwendet und deshalb nachhaltige Strukturen eher gefährdet als festigt.
Will man dem Prinzip der Ungleichzeitigkeit in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit entsprechen, so muss ein politischer Dialog zum Tragen kommen, der sich durch ganz neue Qualitäten auszeichnet. Die Grundlage des Dialogs muss eine schonungslose Analyse der sich begegnenden Kulturen sein. Der sich angeblich oder tatsächlich langsamer entwickelnde gesellschaftliche Bereich darf im Vergleich zum angeblich oder tatsächlich schneller sich entwickelnden Bereich nicht als minderwertig definiert sein. Die „Ungleichzeitigkeit zur gleichen Zeit“ bedarf einer besonderen Kennzeichnung. Eine ökonomische Bedingungsanalyse ist dabei unverzichtbar und es muss die Möglichkeit bestehen, dass im Prozess des Dialogs und der Zusammenarbeit von der vorgegebenen Modellvorstellung abgewichen werden kann. Die Beratung selbst muss sich dabei durch eine verbesserte Qualität auszeichnen. Der Berater muss die Fähigkeit zur Beobachtung haben, er muss sich selbst und andere beobachten. Der Berater muss die Fähigkeit des Zuhörens besitzen und seine Empathie hat sich möglichst über das Feld hinaus zu richten, in dem er beratend tätig ist. In der Entwicklungstätigkeit muss Ambiguitätstoleranz das herausragende Merkmal sein, durch das sich die Experten auszuzeichnen haben. Rollenübernahme, Rollendistanz und die Bereitschaft zum interkulturellen Lernen sind weitere Kompetenzmuster, die von Entwicklungsberatern erfüllt werden müssen. Mit Hilfe dieser Muster könnte es möglich sein, dass internationale Entwicklungsberatung den eingeschlagenen Weg der Einbahnstraße verlässt. Dass an deren Stelle kultureller Gegenverkehr tritt und dass man auch im Sport vermehrt von jenem interessanten Sachverhalt profitieren kann, dass zur gleichen Zeit die Menschen viel Verschiedenes tun können und dass dabei auch nicht alles so zu sein hat, wie wir es uns selbst vorstellen.
Letzte Bearbeitung: 27.11.2024
Literatur:
Borrmann, Axel/Stockmann, Reinhard: Evaluation in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. München 2009.
Caspari, Alexandra; Barbu, Ragnhild: Wirkungsevaluierung. Zum Stand der internationalen Diskussion und deren Relevanz für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. BMWZ Bonn 2008.
Faust, Jörg: Wirkungsevaluierung in der Entwicklungszusammenarbeit. In: Aus Politik und Zeitgeschehen 10/2010, 41-46.
Faust, Jörg; Leiderer, Stefan: Zur Effektivität und politischen Ökonomie der Entwicklungszusammenarbeit. In: Politische Vierteljahresschrift, 49 (2007) 1: 129-152.