Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung der Paralympischen Spiele Tokyo 2020

Von Friedhelm Julius Beucher

In dieser Woche haben in Tokio die Paralympischen Spiele begonnen. Sie bergen das Potential, die Welt besser zu machen. Denn sie werden immer mehr wahrgenommen. Auf der ganzen Welt entdecken Gesellschaften, wie sie mit Menschen mit Behinderung umgehen. Über das Sportereignis kommen sie zu der Erkenntnis, dass es nicht reicht, alle zwei Jahre im Sommer und Winter Athletinnen und Athleten zu den Paralympics zu schicken, sondern dass diese Spiele, so wie sie aus der Gesellschaft heraus gefördert werden, auch in sie hineinwirken. Von der Nachwuchsförderung über den Breitensport führt das zu der generellen Frage nach Teilhabe von Menschen mit Behinderung.

Japan, Gastgeber der Spiele, ist dafür ein gutes Beispiel. Hier sind Kinder in Schulen aufgefordert worden, sich in Rollstühle zu setzen und Sport zu treiben. So erlebten sie, dass es schwerer ist, einen Ball zu werfen oder eine Kugel zu stoßen, wenn man sitzen muss statt auf zwei Beinen zu stehen. Diese Erfahrung schafft Akzeptanz und Bewunderung für diejenigen, die das beherrschen. Und vielleicht spielen nun mehr Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Rollstuhlbasketball.

Leistungssportler mit Behinderung sind Leuchttürme unserer Gesellschaft. Sie zeigen, was Menschen zu leisten in der Lage sind. Sie widerlegen, dass Menschen mit Behinderung weniger leisten, sie strafen das Wort Invalide Lügen.

Wer kann sich schon vorstellen, dass jemand, dem ein Unterschenkel fehlt, mit Prothese 8,62 Meter weit springt? Bis er Markus Rehm sieht. Bei seinem Weltrekord ist Rehm weiter gesprungen als der Olympiasieger von Tokio. Das muss auch der klassische, der olympische Sport lernen, vom Weltverband bis in die Vereine: sich zu öffnen für Menschen mit Behinderung. Wir im Deutschen Behindertensportverband können mit unseren 6500 Vereinen doch gar nicht abdecken, was sich an Sport und Lebensfreude entwickeln will. Für Bewegungsfreude darf es keine Grenzen geben. Die Paralympics hätten ihren Sinn verfehlt, wenn es sie lediglich als Leistungsvergleich alle zwei Jahre gäbe. Sie sind keine Show und kein Refugium. Die Paralympischen Spiele sind Treiber der Entwicklung.

Die Urform des Sports ist der Vergleich. Das gilt für paralympische Sportlerinnen und Sportler genauso wie für olympische. Deren Lust am Wettkampf ist nicht zu unterschätzen. Sie soll anstecken. Sie soll ausstrahlen von Top-Athleten auf alle Teile der Gesellschaft. Sport ist schon deshalb wichtig, weil er Kinder lehrt, mit Niederlagen umzugehen. Sport bereitet auf das Leben vor.

Diejenigen, die durch einen Unfall ihre Einschränkung erlitten haben oder mit ihr geboren wurden, zeigen uns beispielhaft, wie man mit einer solchen Situation umgeht. Sie zeigen durch Willensstärke und mit Hilfe des Sports unmissverständlich, dass sie starke, wertvolle und eben nicht benachteiligte Mitglieder der Gesellschaft sind. Dies hat Vorbildfunktion.

Die Paralympischen Spiele sollten eine Quelle der Inspiration sein, hat in dieser Woche Eva Loeffler im Interview einer japanischen Zeitung gesagt. Den Japanern schrieb sie ins Stammbuch, dass sie noch viel leisten müssten zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung. Eva Loeffler ist die Tochter von Ludwig Guttmann, dem Mediziner, der vor den Nazis nach England floh und dort, bei seiner Arbeit mit Menschen, die durch Kriegsverletzungen querschnittgelähmt waren, 1948 die Stoke Mandeville Games gründete, die Keimzelle der Paralympics. Anlässlich der Olympischen Spiele von Rom 1960 fanden diese am selben Ort statt: die ersten Paralympischen Spiele. Seit London 2012 haben

Olympische und Paralympische Spiele dasselbe Organisationskomitee. Ein hoch dotierter Fernsehvertrag sorgte im selben Jahr wirtschaftlich für den Durchbruch.

Seitdem transportiert das Fernsehen die Botschaft: Schaut her, was wir leisten! Menschen mit Behinderung brauchen kein Mitleid. Paralympische Athletinnen und Athleten verschaffen sich Respekt bei Milliarden Fernsehzuschauern, weltweit. Bei mir erzeugt es Freude und Demut, mitzuerleben, wie 4400 Sportlerinnen und Sportler mit ganz verschiedenen Behinderungen und ganz unterschiedlichen Talenten aus 160 Ländern hier in Tokio zusammengekommen sind, um sich kennenzulernen und sich zu messen. Die Flamme im Stadion, das olympische Feuer, wird nicht nur weiter gereicht. Wie bei den Olympischen Spielen hat der Tenno die Eröffnung vorgenommen. Das paralympische Feuer lodert neu auf.

Das zunehmende Auftreten von ehemaligen Soldaten, die dabei schwere Verletzungen erlitten haben, betrachte ich als gutes Zeichen. Als Signal dafür, dass man sie nicht fallen lässt, sondern gesellschaftlich und wirtschaftlich auffängt. Sie leben Teilhabe. Gerade Briten und Amerikaner gehen unverkrampft mit Kriegsversehrten um. In ihren Ländern verehrt man diese Veteranen als Helden.

Der Deutsche Behindertensportverband hat gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium sportliche Angebote geschaffen für Soldaten, die in Auslandseinsätzen wie z.B. in Somalia und Afghanistan Verletzungen erlitten haben. Einsatzgeschädigte werden im Rehabilitationszentrum in der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf aufgefangen. Ich empfinde es daher als konsequent, dass Deutschland 2023 in Düsseldorf Gastgeber der Invictus-Games ist – eine adäquate und überfällige Anerkennung dessen, dass diese Menschen außerhalb Deutschlands für unsere Werte und Überzeugungen gekämpft haben. Tim Focken, der beim Einsatz in Afghanistan die Funktionsfähigkeit seines Arms verloren hat, hat sich als Sportschütze für unser Team in Tokio qualifiziert. Dafür gebührt ihm Respekt.

Unsere Herausforderung in Deutschland können wir aus dem Teilhabebericht der Bundesregierung ableiten mit dem erschreckenden Befund, dass – schon vor der Pandemie – mehr als die Hälfte der Menschen mit Behinderung nicht Sport treibt. Die Paralympics schaffen auch dafür ein Bewusstsein: das Recht auf Teilhabe durch Sport. Verständnis, Akzeptanz, Toleranz und nicht zuletzt Bewunderung verändern die Welt. Den elf Millionen Menschen mit Behinderung in unserem Land wünsche ich, dass sie Lebensfreude durch Sport erleben. Nicht exklusiv, sondern inklusiv.

Friedhelm Julius Beucher ist seit 2009 Präsident des deutschen Behinderten-Sportverband. Nach einem Pädagogik Studium war er zunächst in der Lehrerausbildung und später im Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen tätig. Von 1990-1998 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. In dieser Zeit leitete er den Sportausschuss des Bundestages.

Letzte Bearbeitung: 1.September 2021