Streitkultur im Sport

Ein Vereinsjubiläum, das trotz stolzer Bilanz Nachdenkliches offenbart

Ein Gastbeitrag von Ewald Walker

Angefangen hat es im Januar 1970: in der 5000 Seelen-Gemeinde Pliezhausen (im Dreieck Stuttgart-Tübingen-Reutlingen), hatte man die Zeichen der Zeit erkannt. Mit der Gründung von Leichtathletik-Gemeinschaften aus kleineren Vereinsabteilungen wollte man Kräfte bündeln und damit die Wettbewerbsfähigkeit leistungsorientierter Vereine erhöhen. Die LG Pfrondorf-Pliezhausen war die vierte LG im Württembergischen Leichtathletikverband und deshalb noch etwas recht ungewöhnliches. Neben der sportpolitischen Dimension stand hinter der Entwicklung auch ein junger Bürgermeister, der eine moderne Profilierung seiner Gemeinde beabsichtigte. Nach Stuttgart, Heidenheim und Sindelfingen baute der kleine Ort Pliezhausen die vierte Kunststoffbahn im Land. Die Sensation lockte zur Einweihung zweitausend Menschen ins Stadion, das in der Folge fünf Jahrzehnte lang zum Austragungsort nationaler und internationaler Großveranstaltungen wurde.

Sportliche Erfolge kamen rasch hinzu: das schnelle Geschwisterpaar Christa und Heidelinde Xalter holte Deutsche Meisterschaften an den Schönbuchrand. Sprinter Herbert Mutschler wurde Junioren-Europameister und später Deutscher Meister mit Salamander Kornwestheim. Das kleine Dorf landete bundesweit in den Medien. Man verstand die Erfolge in großer Eintracht zu feiern („Aber eins das ist gewiss, vor uns haben alle Schiss“). Die Vereinsphilosophie war schlicht aber erfolgreich: schaffig, schwäbisch, solide, kompetent, leistungsorientiert im sportlichen wie im organisatorischen Bereich und viel Sinn fürs Vereinsleben. Für das Image des Dorfs ist die Leichtathletik auf diese Weise wichtig geworden.

Mit einer neuen Autobahn von Stuttgart hinaus ins Land hatte sich dann der Ort auf eine äußerst dynamische Weise verändert. Viele Neubürger kamen in die Gemeinde und drängten auch in die Vereine. Die Auswirkungen dieses bevölkerungspolitischen Wandels waren sehr schnell zu verspüren: viele junge Mitglieder im Verein verschoben die Philosophie hin zum Breitensport, der Verein wuchs in kurzer Zeit, die Mitgliederzahl erhöhte sich um mehr als die Hälfte auf 180 Mitglieder. Die Leistungsorientierung geriet in Bedrängnis, die Schüler-Leichtathletik verdrängte die (Hoch-)Leistungssportler – ein Richtungsstreit war damit ausgelöst. Der Mitgliederzuwachs veränderte die soziale Struktur des Vereins. Der Verein wurde zum Dienstleistungsbetrieb, die Ansprüche an die Ehrenamtlichkeit stiegen. „Ich will, dass mein Sohn Zehnkampf-Olympiasieger wird“, meldete ein überehrgeiziger Vater seine Ansprüche an die sportliche Leitung an, „dann bekommt er einen Porsche“.

Die heile Welt im einstigen Leichtathletik-Vorzeigedorf war vorbei. Egoismen traten in den Vordergrund, der Ton wurde schärfer. Die Situation eskalierte, der Verein, und mit ihm der Ort, wurde gespalten.  Das Ganze gipfelte in einem turbulenten Herbst im Jahr 1991. Ein Hauen und Stechen war angesagt.

Die Leichtathletik-Gemeinschaft (LG) Schönbuch, wie sie seit fast zwanzig Jahren hieß, hatte fortschrittlich die Forderung „Frauen an die Spitze ins Ehrenamt“ mit der Studienrätin Barbara Mayer als Vorsitzende, erfüllt. Doch dies stand zu den konservativ-traditionellen (Männer)Vorstellungen im Widerspruch. Bei der Mitgliederversammlung folgte der offene Bruch. Polizist Klaus Pieles stand an der Spitze des Umbruchs und löste die Vorsitzende ab. Es war ein demokratisch legitimierter „Putsch“, der erhebliche Emotionen frei setzte. Zwei Dutzend vorwiegend junger Leistungssportler verließen sofort die Versammlung und gründeten bereits wenige Tage später unter der Leitung von Sportamtsleiter und Trainer Thomas Jeggle mit viel Mut den LAC „Attempto“ Pliezhausen. Der Ort mit gerade 8000 Einwohnern hatte von da an zwei Vereine – ein Novum in der deutschen Leichtathletik-Vereinsgeschichte.

Dies war der Startschuss für erbitterte Auseinandersetzungen. Persönliche Diffamierungen, Ausschlussverfahren, Boykottverhalten, Telefonterror und Sabotageakte im Stadion waren Mittel und Methoden im Pliezhäuser Leichtathletik-Streit. Die Gemeindeverwaltung stellte den geplanten Millionenbetrag für die Stadionsanierung in Frage.

Der alte Verein bewegte sich von nun an eher auf der breitensportlichen Schiene. Der nur 50 Mitglieder umfassende, leistungsstarke neue LAC schaffte es hingegen in kurzer Zeit, Fuß zu fassen und wurde Repräsentant der Gemeinde. Der Weg zu Neuem legte ungeahnte Kräfte im Ehrenamt frei. Sportliche und organisatorische Erfolge, u.a. mit dem deutschen Hindernismeister Filmon Ghirmai, sowie dem Internationalen Läufermeeting („Meeting der krummen Strecken“), waren die Folge. Mit der Bildung einer Startgemeinschaft SG Gomaringen-Pliezhausen folgte eine weitere innovative Entscheidung, die den Verein zu einem der erfolgreichsten im Land gedeihen ließ.

Mit den Erfolgen normalisierte sich das Verhältnis der beiden Vereinsgruppierungen. Die „Rebellen“ fanden Anerkennung als „normale“ Leichtathleten, die Gemüter beruhigten sich, die Verantwortlichen kamen miteinander ins Gespräch. 2012, elf Jahre nach der Trennung, gingen die beiden Vereine LG Schönbuch und LAC Pliezhausen im LV Pliezhausen auf.

2020 feiert man am Schönbuchrand „50 Jahre Leichtathletik in Pliezhausen“. Die Erstellung einer Festschrift offenbarte jedoch: trotz beachtlicher Erfolge sind die außergewöhnlichen Ereignisse noch immer in den Köpfen, die Verarbeitung dauert an.

Über den Autor.
Ewald Walker (64), Pliezhausen, ist seit vielen Jahren als „Freier Mitarbeiter“ in verschiedenen Tageszeitungen tätig. Ehrenamtliche Tätigkeiten in Vereinen und Schule bilden die Grundlage seines sportjournalistischen Engagements. Zuletzt arbeitete er für die Leichtathletik-EM 2018 in Berlin im Bereich Kommunikation.