Otto Peltzer – ein herausragender Athlet und eine bemerkenswerte Persönlichkeit

Ein Gastbeirag von Theo Rous

Dr. Otto Peltzer (1900-1970), vielfacher Deutscher Meister, Olympiateilnehmer 1928 und 1932, Weltrekordler über 800 und 1500 m, KZ-Häftling

Das Jahrhundertereignis

„Alles ist wieder so nahe als sei es erst vor zwei oder drei Jahren gewesen. Vier Läufer sammelten sich am Start: Paavo Nurmi, der auf dieser 1500-m-Strecke Olympiasieger und der amtierende Weltrekordler war. Edwin Wide, der Schullehrer aus Schweden, der dessen und der anderen Finnen großer Gegner im 5000-m-Lauf war. Herbert Böcher, ein großes Talent, aber noch nicht ausgereift. Und schließlich Otto Peltzer, dessen Bestzeit in diesen letzten Augenblicken vor dem Start auf 3:58,6 Minuten stand.“ Dies schreibt fast ein halbes Jahrhundert später ein Augenzeuge, der Berliner Heinz Cavalier, Chefredakteur der Zeitschrift „Leichtathletik“, aus Anlass des 70.Geburtstages von Otto Peltzer.

Es muss für die damalige Sportwelt ein Jahrhundertereignis gewesen sein. 30.000 Zuschauer füllten an jenem 11. September 1926 lange vor Beginn dieses Laufes den Platz des ruhmreichen SCC am Funkturm in Berlin. Viele Tausende, erinnerte sich Peltzer selbst, die keinen Platz mehr fanden, bevölkerten den naheliegenden Bahndamm.

Für den SCC Berlin war es eine absolute Sternstunde in seiner Vereinsgeschichte. Die beiden Brüder Karl A. und Willy Henk, der Vater des langjährigen SCC-Präsidenten und Schatzmeisters Dr. Klaus Henk – beide SCC-Urgestein und in vielen Funktionen über Jahrzehnte im Verein aktiv – waren damals Zeitzeugen und vor allem stolz auf ihren SCC. Willy Henk zitiert in der Vereinszeitung den großen schwedischen Sportjournalisten Torsten Tegner: „Quer über feinsandiges Feld kommt man zur geradezu gigantischen Sportplatzanlage des Sportclubs Charlottenburg, kämpft sich durch für 2,50 D-Mark und trifft auf freundliches Volk.“ Aber auch andere Berichterstatter schwelgten in Superlativen: „Die gewaltige Tribüne knackte in ihren Fugen unter der Schwere der Menge. Stühle wurden vermietet zu unerhörten Preisen. Als diese ausverkauft waren, kletterte man mit Todesverachtung auf Kisten, Tonnen, Bretter und Mauersteine.“

Und Bruder Karl, der in den Jahren 1929-1943 die Frauenmannschaft des SCC zu dreizehn Deutschen Mannschaftsmeisterschaften geführt hat, schreibt in derselben Ausgabe der SCC- Mitteilungen: „Hoffentlich haben die beiden großen Tage, die einen jeden wahren SCCler mit Stolz erfüllen dürfen und müssen, auch dazu beigetragen, die Liebe zum Klub zu festigen. Mit unserem herrlichen Sportplatz… ist uns ein Mittel an die Hand gegeben, aus dem SCC eine einzige einige Familie zu machen.“

Die Bedeutung dieses Laufs ging weit über den SCC und Berlin hinaus. Der Ablauf dieses Rennens, aber auch der Stellenwert eines Sportereignisses in einer Zeit, in der die Menschen in Deutschland ähnlich wie nach 1945 sich wieder nach Anerkennung und Aufnahme in die internationale Völkerfamilie auf allen Gebieten sehnten, spiegelt sich in einer Berichterstattung wider, wie sie für jene fernsehlose und rundfunkarme Zeit charakteristisch war. Die schreibenden Journalisten wollten und mussten den Millionen, die nicht vor Ort waren, aber dennoch dem Ausgang dieses Rennens entgegenfieberten, über das einzige Medium, das allen Menschen zugängig war, die Zeitung, die Dramatik des Ereignisses überbringen: „Die letzte Runde wird eingeläutet… Noch vor dem Einbiegen in die vorletzte Kurve stürmt Edvin Wide, der fliegende Schulmeister, an Nurmi und Peltzer vorbei. Man hört nur noch, gemischt mit dem schwedischen „Heja“, alle Stimmen „Wide! Wide!“ rufen. 200 m vor dem Ziel hat Wide schon einen Vorsprung von 10m erlaufen. Aber was ist das? Ein Aufschrei des Entzückens. Peltzer geht an Nurmi vorbei. Das Getöse wächst mehr und mehr. Peltzer fegt mit seinen langen Schritten das letzte Ende der Kurve herum, und seine Beine scheinen förmlich den Boden zu fressen. Und das Unfassliche wird Ereignis. Peltzer erreicht Wide 50m vor dem Ziel und zieht in großen, weiten Sätzen dem Ziele zu, völlig entspannt und nur glücklich, Sieger zu sein. Der unbeschreibliche Jubel und Beifall für Peltzers große Kampfleistung haben sich noch nicht gelegt, als der Ansager verkündete, dass Deutschlands großer Mittelstreckenmeister mit der unwahrscheinlich großartigen Zeit von 3:51,0 Minuten Nurmis Weltrekord unterbot. Die Zuschauer sind von diesem Ereignis so tief erschüttert, dass vielen die Tränen in die Augen kommen. Stehend wird die Nationalhymne angestimmt. Dieser 11. Septemberabend des Jahres 1926 wird in die Geschichte des deutschen Sports mit goldenen Lettern eingetragen bleiben. Ein Olympiasieg konnte nicht annähernd diese Bedeutung haben.“

So endete der Bericht über ein Ereignis, bei dem die Wogen der Begeisterung über Peltzer zusammenschlugen. Er selbst berichtet: „Es wurde zur Siegerehrung aufgerufen. Da erschien plötzlich ein niedrig kurvendes Flugzeug über dem Platz und warf einen riesigen Lorbeerkranz ab.“ In der Tat: Welchem Olympiasieger ist solches zuteil geworden?


Weiterführende Literatur zu Otto Peltzer:

His own man: The Biography of Otto Peltzer, Champion, Athlete, Nazi Victim, Indian Hero
Autoren
: Tim Jonston und Donald Macgregor
ISBN 978-1-78531-190-1


Otto Peltzer Superstar

Otto Peltzer war in jenen Jahren der Star der deutschen Leichtathletik, ja des deutschen Sports. Wer die Berichterstattung in den Fachzeitschriften der damaligen Zeit nachliest, kann sich – obwohl es andere großartige Leichtathletinnen und Leichtathleten gab – dieses Eindrucks nicht erwehren. Das gilt vor allem auch für seine Reputation im Ausland. Seine Auftritte in aller Welt genossen höchste Aufmerksamkeit auf höchster politischer und gesellschaftlicher Ebene. Solche Auftritte außerhalb der Grenzen Deutschlands, die er regelmäßig mit einer Reihe viel beachteter öffentlicher Vorträge begleitete, so z.B. im Jahre 1927 in den USA, hatten nahezu die Bedeutung eines Staatsbesuchs. Zumindest hatte es, so drückte es der weltbekannte Leichtathletikexperte und New Yorker USA- Korrespondent der Zeitschrift „Der Leichtathlet“ Arthur E. Grix aus, den Stellenwert eines – so wörtlich – „Gesandten, der durch seine Anwesenheit die Bande zwischen den deutschen und amerikanischen Sportlern enger schlingen soll.“ Peltzer erinnert sich: „Es schneite förmlich Einladungen…“ An erster Stelle standen Empfänge beim Präsidenten Coolidge im Weißen Haus und beim New Yorker Oberbürgermeister Walker. So verstand Peltzer sich selber als Botschafter des Sports, und Sport war für ihn – neben seiner pädagogischen Funktion – Medium der Völkerverständigung.

Es war die Zeit, in der Deutschland nach dem ersten Weltkrieg geächtet war, politisch wie sportlich isoliert. Von den Olympischen Spielen 1920 in Antwerpen und 1924 in Paris war Deutschland ausgeschlossen. Umso bedeutsamer war das Auftreten deutscher Sportler bei internationalen Ereignissen. An sie vor allem legte das Ausland, die internationalen Sportgremien und Sportführer die Messlatte an, wenn es um Entscheidungen ging, die zur Wiederaufnahme des deutschen Sports in die internationale Sportfamilie, vor allem zur Zulassung zu den Olympischen Spielen führen sollten.

Die Leichtathleten trugen wesentlich zum wachsenden Ansehen des Sports bei, allen voran Otto Peltzer. Drei Weltrekorde stellte er im Jahre 1926 auf: Zu Beginn der Saison 1926 lief er auf der allerdings nicht sehr häufig gelaufenen 500-m-Strecke am 06.06.1926 in Budapest mit 63,6 Sekunden seinen ersten Weltrekord. Einen Monat später gab es den ersten großen Paukenschlag des Otto Peltzer, der weltweites Aufsehen erregte. Bei den Englischen Meisterschaften im Londoner Vorort Stamford Bridge schlug er den englischen 800-m-Olympiasieger und Nationalhelden Douglas G. Lowe über 880 Yards in 1:51,6 Minuten. Damit verbesserte er vor 30.000 Zuschauern nicht nur den Weltrekord über 880 Yards, sondern auch, obwohl die Yard-Strecke im Vergleich zu den 800m 4,5m länger ist, den über 800 m, der seit über einem Jahrzehnt mit 1:51,9 Minuten vom amerikanischen Olympiasieger und Hanns Braun-Bezwinger von 1912, James Meredith, gehalten wurde. Die 800-m-Durchgangszeit hatte man offiziell nicht gestoppt. Private Uhren zeigten 1:50,6 bzw. 1:50,7 Minuten. Es war der erste Weltrekord eines deutschen Läufers auf einer olympischen Distanz. Der Beifall der Engländer für Peltzer war trotz ihrer Enttäuschung über die Niederlage ihres Helden Lowe gewaltig. Geehrt wurde er mit einem riesigen Pokal von niemand Geringerem als der englischen Königin.

Otto Peltzer war überzeugt mit seinen Erfolgen, gerade mit denen im Ausland, auch einen sportpolitischen Beitrag geleistet zu haben: „Ich hatte mein Ziel erreicht, Englischer Meister zu werden, und ich hatte der Welt bewiesen, dass ohne Beteiligung Deutschlands keine Olympischen Spiele als das Treffen der Weltbesten bezeichnet werden konnte.““

Eine ähnliche Konstellation wie in London gab es ein Jahr später beim Aufeinandertreffen Peltzers mit dem französischen Weltrekordmann über 1000m, Sera Martin. Ort des Geschehens war das Pariser Olympiastadion „Stade de Colombes“. Peltzer schlug nicht nur den Franzosen, sondern stellte mit 2:25,8 min einen weiteren Weltrekord auf. Das Echo war ähnlich überschwänglich wie in Berlin und London. Die französische Zeitung „Echo des Sports“ schrieb: „Peltzer hat seine beste Form wiedergefunden. Er war vollendet! Die Ovation, die ihn nach seiner Leistung begrüßte, war, wie man sich leicht vorstellen kann, ungeheuerlich. Es war schon mehr ein Toben vor Enthusiasmus.“

Peltzer sah sich in seiner Meinung bestätigt, das vor allem international erzielte Erfolge die Integration des deutschen Sports beförderte, umso mehr, als die totale Akzeptanz und der Jubel der Franzosen einem Deutschen, dem traditionellen Erzfeind, entgegenschlug: „Ich hatte das Gefühl, dass die Franzosen nicht nur von meinem Kampf begeistert waren, sondern auch über sich selber, nämlich, dass sie es vermocht hatten, an diesem Tag, der zu einer Feier für den Sieg über ‚die Deutschen‘ bestimmt war, einem Angehörigen dieser Nation solche Ovationen bringen zu können. Der Sportgedanke hatte sich durchgesetzt. Nationale Gegensätze waren zu nichts zerronnen. Selbst bei meinem Sieg über Nurmi und Wide in Berlin habe ich nicht solche Begeisterung wie hier in Paris erlebt.“

Otto Peltzer war in jenen Jahren auf dem Zenit seines Könnens, seines Ruhms und seines Popularität. „Ihm gehört der Ruhm“, so ein Sportkamerad aus dieser Zeit über ihn, „der beste Sportsmann Deutschlands zu sein“. Die Sportpresse charakterisierte ihn als den König unter den Mittelstrecklern, der, so wörtlich – „das Unmögliche möglich zu machen verstand, weil ein Maß an Energie angesammelt war, das ihn Leistungen zu erzwingen gestattete, die über seine Leistungsfähigkeit hinauszugehen schienen.“

Was leistete dieser Peltzer? Auf einen kurz gefassten Nenner gebracht: Von 1922 bis 1934 15 Deutsche Meisterschaften, vier internationale Meisterschaften, Reisen in vier Erdteile, im Durchschnitt 70 Starts pro Jahr. In Verbindung mit seinen Starts hielt er Reden und Vorträge in aller Welt zu sportfachlichen, pädagogischen und politischen Themen, daneben sein Studium und 1925 – als 25-Jähriger – eine Promotion. Nahezu gleichzeitig war er Verfasser dreier Bücher mit internationaler Reputation in den Jahren 1925 bis 1927 und im Hauptberuf arbeitete er als Lehrer und Erzieher an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. In China wurden Wanderpokale nach ihm benannt, in Indien Gedächtnisläufe zu seinen Ehren veranstaltet. Und nicht zuletzt: In diesen Jahren lief er fünf Weltrekorde.

Der Absturz

Scheinbar ein Leben, in dem sich problemlos Höhepunkt an Höhepunkt, Erfolg an Erfolg zu reihen schien, Otto Peltzer, ein Mensch auf der Sonnenseite des Lebens, einer der strahlenden Helden des Sports. Nichts täuscht mehr als dieser Eindruck. Den Höhen dieses Lebens standen Tiefen gegenüber, wie sie nur wenige Menschen zu durchschreiten hatten und die ihn eher zu einer tragischen Figur machten als zu einem unumstrittenen Helden. Einen dramatischeren Fall aus höchster Höhe des Erfolgs in tiefste Tiefen menschlichen Elends kann man kaum erfinden. Mauthausen, eines der berüchtigtsten Konzentrationslager der Nazizeit, hieß der Kontrapunkt in Otto Peltzers Leben. „Auf dem Tiefpunkt des Lebens“, so überschreibt er das Kapitel über Mauthausen in seiner Autobiographie „Umkämpftes Leben“: „Ich habe erfahren, dass ich in eines der furchtbarsten Konzentrationslager eingeliefert werden sollte“, berichtet er uns. Die ersten Verhöre endeten mit Fausthieben und dem Hinweis, dass für ihn der einzige Weg aus dem Lager wieder herauszukommen, der durch den Schornstein sei. Als er nach drei Monaten entgegen aller Erwartung noch lebte, schickte ihn der Kommandant mit der Bemerkung: „Was, Sie leben noch“, in den berüchtigten Steinbruch, den sogenannten „Wiener Graben“: „Ich musste meine läuferischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Ein Zigeunerkapo hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mich zu Tode zu hetzen. Ich musste, mit Ziegelsteinen beladen, immer wieder im Laufschritt etwa 1500m zurücklegen. Der Aufsichtführende Kapo lief dabei neben mir her und schlug, so oft er konnte, mit seinem Knüppel auf meinen kurz geschorenen Schädel. Ich war bald so zugerichtet, dass mir das Blut (fast wohltuend kühlend) den Nacken herunter lief.“ Als die Amerikaner ihn und die anderen Häftlinge 1945 befreiten, war er für den Rest seines Lebens in vieler Hinsicht ein gezeichneter Mann. Sowohl die Zeiten vor dem Krieg, die glanzvollen zwanziger Jahre, als auch die Zeit nach 1945, als er wieder Fuß fassen wollte in der Gesellschaft und im Sport, waren alles andere als harmonisch: „Umkämpftes Leben“, auch für diese Zeiten trifft der Titel seiner Autobiographie aus dem Jahre 1955 zu, ist heute so gut wie nicht mehr greifbar. Man sollte jemanden finden, der sie neu auflegt.

Otto der Seltsame

Otto Peltzer war nie unumstritten. Sein Verhältnis zur organisierten Leichtathletik, zu den Funktionären und zur damaligen „Deutschen Sportbehörde für Athletik“ war – vorsichtig ausgedrückt – ein zwiespältiges. Seine hohe Fachkompetenz auch schon als blutjunger Athlet, der sich mit allen Fragen und Problemen seiner Sportart auseinandersetzte, sein kritischer Verstand, vor allem sein eigenwilliges Auftreten verschafften ihm den Beinamen „Otto der Seltsame“. Und Eigenheiten hatte er schon. Nicht allen seinen Konkurrenten gefiel es, dass er nahezu bei jedem Rennen bewusst einen Fehlstart provozierte, genüsslich die Schuhbänder noch mal schnürte und sein Umfeld in Unruhe stürzte. Sein Fehlstart-Tick hätte ihn fast seinen 1500-m-Weltrekord gekostet. Er machte bei jenem denkwürdigen Lauf gegen Nurmi und Wide nicht nur einen, sondern zwei Fehlstarts. Nur der Großzügigkeit des Starters Richard Rau, dem Sprintermeister in den Jahren zwischen 1910 und 1920, hatte es Peltzer zu verdanken, dass er nicht disqualifiziert wurde, was einer Katastrophe gleichgekommen wäre. Rau schob die Schuld für den zweiten Fehlstart auf lästige Photographen, die Peltzer in seiner Konzentration beim zweiten Startversuch gestört hätten. „Peltzer ist wieder auf dem bestem Wege, sich alle Sympathien zu verscherzen“, hieß es anlässlich seiner Amerikareise, zu der ihm der Verband ursprünglich sogar die Genehmigung versagen wollte, ähnlich wie zu seinem Weltrekordlauf bei den Englischen Meisterschaften, weil er angeblich nicht in Form war. „Die Presse“, so hieß es, „ist mit Peltzer nicht zufrieden, und die deutsche Sportgemeinde ist es auch nicht“. Journalisten versuchten, das Phänomen „Otto der Seltsame“ zu deuten: „Die Sportgemeinde liebt den Star, aber sie will nicht, dass er als Mensch besonderer Art gilt, der sich Extravaganzen erlauben darf, die einem gewöhnlichen Menschen nicht gestattet sind“. Und in einem anderen Bericht heißt es: „Nicht alles ging glatt auf seinen Reisen. Peltzer ist in vielen Kreisen Widerspruch begegnet, aber wie man sich auch zu seinem Auftreten stellen mag, das können ihm auch seine Gegner nicht nehmen, den Verdienst, der deutschen Leichtathletik zu einer Vormachtstellung in Europa verholfen zu haben.“ Ein zwiespältiges Bild einer zwiespältigen Persönlichkeit.

Die Mehrheit der Leichtathletikgemeinde, die einfachen Leute, mochten ihn. Als er wieder einmal von der „Deutschen Sportbehörde für Athletik“ gesperrt wurde (er durfte an den Deutschen Meisterschaften 1930 nicht teilnehmen), veranlasste dies den Journalisten des „Leichtathlet“, stellvertretend für viele, zu dem Stoßseufzer: „Alles wird aufatmen, wenn der Schlussstrich unter diese Sache Peltzer gezogen wird.“ Wenn er sich im Berliner Sportpalast warmlief, hörte er vom Heuboden die Anfeuerungsrufe der Berliner Fans, die sich nach seinem Rheuma auf ihre Art erkundigten: „ Na, Otto, wat macht de Mauke in de Beene?“ Eigenwillig, auch eigensinnig, kämpfte er seinen Kampf gegen – für Athleten – nicht immer verständliche Entscheidungen der Sportbürokratie, nicht immer zu Recht, aber häufig auch nicht ohne Grund. Vor allem zu Recht gegen eine Sportführung in einer sich immer stärker abzeichnenden Nazi-Diktatur, die den Sport und den Sportler missbrauchten. Dabei bemühte sich Peltzer durchaus nachhaltig, seine fachlichen Gedanken in die Konzeptionen der damaligen Sportführung einzubringen. Seine freisinnige Grundhaltung, sein Eintreten für seine Freie Schulgemeinde Wickersdorf, für andere freiheitliche Gruppen, auch für Juden, seine Auffassung von der „Internationalität“ und der friedensstiftenden und Völker versöhnenden Funktion des Sports, sein Mut, Kritik offen zu äußern und dabei auch eigenständig und eigenverantwortlich, auch eigenbrötlerisch zu handeln, brachten ihm den Unmut und die Distanz der Führer des Sports ein, z.B. des Reichssportführers von Tschammer und Osten. Ohne einsichtigen Grund schloss man ihn, den 800-m-Meister des Jahres 1934, von der Teilnahme an den ersten Europameisterschaften 1934 aus. Eine Karriere als Funktionär im Dritten Reich blieb ihm versagt, obwohl er durchaus Ambitionen auf ein Amt wie das des Reichssportführers hatte. Er nahm Einfluss auf die Leichtathletik, auf die Trainingslehre, vor allem auf viele Leichtathleten, inoffiziell von Lutz Long bis Rudolf Harbig, gefragt aber auch ungefragt, die er in ihrem Training beriet, ob sie es wollten oder nicht.

Für immer umstritten

Ausgangspunkt seines Leidenswegs ins Konzentrationslager und der Schwierigkeiten, die sich ihm auch später in den Weg stellten, waren – so hat es Walter Jens in seiner Festrede zum 100. Geburtstag des DLV dezent umschrieben – seine „hellenischen“ Neigungen. Der Vorwurf der Homosexualität brachte ihm, wie er selbst meint zu Unrecht, eine Gefängnisstrafe ein. Als er nach der Verbüßung – die Nazis hatten ihn aus Anlass der Olympischen Spiele 1936 vorzeitig entlassen – Beweise für seine Unschuld sammelte und verbreitete, wurde er erneut verurteilt und erst wieder auf Bewährung freigelassen, als er sich schriftlich verpflichtete, alle Schritte zu seiner Rehabilitierung zu unterlassen. Die Vorwürfe nahmen seine Widersacher im Dritten Reich Jahre später, als er sich aus dem Exil in Schweden kritisch zum Naziregime äußerte, zum Anlass, ihn, den unliebsamen Kritiker, mundtot zu machen und ihn 1941 nach seiner Rückkehr durch die Einlieferung ins KZ auch physisch zu vernichten. Wenn Otto Peltzer Schuld auf sich geladen hat, so hat er über Gebühr dafür gebüßt. Das „Umkämpfte Leben“ dieses Otto Peltzer ging nach dem Krieg weiter. Er wollte seinen Beitrag zum Aufbau des Sports und zur Gesellschaft in Deutschland, aber auch in aller Welt leisten, diesmal nicht – wie in seiner aktiven Zeit – in erster Linie als Athlet, sondern als Trainer und Berater, als der er sich schon als Aktiver verstanden hatte, als kenntnisreicher Sportexperte, Pädagoge und Soziologe. Die Gesellschaft, die Gemeinschaft des Sports, vor allem die in seinem Heimatland, machte es ihm nicht leicht.

Zu seinem 60. Geburtstag beschrieb ihn „Leichtathletik“ so: „Ein Ruheloser, der es nicht verstand, in der Heimat sein Glück zu finden. Sein sportliches Leben hat ihn auf stolze Höhen geführt, sein privates durch Tiefen.“ Wie ihn offizielle Vertreter des Sports im Nachkriegsdeutschland sahen, gerade auch solche Funktionsträger, die ihm schon in seiner aktiven Zeit, den Zeiten des aufziehenden Nationalsozialismus, nicht sonderlich grün waren, die aber den Übergang in eine neue Gesellschaft häufig weitaus besser überstanden hatten als das Opfer Otto Peltzer, macht ein „Fachgutachten“ in den vertraulichen Akten des Verfassungsschutzes der Bundesrepublik aus dem Jahr 1957 deutlich: „P. gehört zu den früher ausgezeichneten Läufern, die leider menschlich sehr schwierig sind. Es gehören dazu u.a. die sehr peinlichen Vorkommnisse, die ihn vor Gericht gebracht haben. Er ist ein Monomane des Sports und wird auch als Lehrer keinen Erfolg haben. Darüber hinaus ist bekannt, dass er sich mit sowjetzonalen Sportstellen eingelassen hat.“ Verfasser war Carl Diem. Aus Akten des Auswärtigen Amtes geht hervor, dass man sich auf diese Beurteilung Diems berief und deutsche Botschaften im Ausland davor warnte, Peltzer bei seiner Suche nach Gastlehrer- und Trainerverträgen im Ausland zu unterstützen. Botschaften wurden, wie es hieß, um Berichte über Auftauchen und Tätigkeiten von Dr. Otto Peltzer im Ausland gebeten.

Das Misstrauen gegenüber Otto Peltzer in den Zeiten des sich in den fünfziger Jahren entwickelnden Kalten Krieges wurde auch dadurch geschürt, dass er seine Meinung unverhohlen und wie immer ohne Rücksicht auf ihm entstehende Nachteile äußerte: „Deutschland befindet sich noch in einer schweren nationalen Krise. Die fehlende Einheit bedroht den Frieden unserer Nation und den in der Welt. Wie dürfte ich daran vorbeigehen. Ich muss mich dafür einsetzen, was notwendig scheint: die Überwindung der Gegensätze zwischen Ost und West. Ich bin weder Ostler noch Westler. Für mich gibt es nur ein Vaterland und das heißt Deutschland.“ Das klingt pathetisch, romantisch, vielleicht naiv und unrealistisch. In der damaligen Zeit, zu Beginn der fünfziger Jahre, als es durchaus gesamtdeutsche Initiativen und Aktivitäten gab, begannen sich die politischen Realitäten hart im Raum zu stoßen. Gesamtdeutsche Träume schienen mehr und mehr ausgeträumt. Aber, wie häufig in unserer Geschichte, waren nicht eigentlich die Träumer die wahren Realisten? Haben nicht doch die Romantiker, die scheinbar Naiven, die Weltfremden, eben die „Seltsamen“ wie dieser Otto Peltzer gleichen Beinamens, die für Abrüstung, für Frieden zwischen verfeindeten Völkern, für eine saubere Umwelt, für einen sauberen Sport und auch für die Wiedervereinigung gekämpft haben und kämpfen, Entwicklungen zum Guten auf den Weg gebracht, und die Welt, wenn auch nicht völlig verändert, so doch ein wenig besser gemacht? Die Wiedervereinigung, bei der der Träumer Peltzer in seinem, mit seinem und für sein Metier, den Sport, mithelfen wollte, ist Wirklichkeit geworden.

Peltzer meinte es zeit seines Lebens ernst mit seinen sportpolitischen Gedanken und er handelte im wohlverstandenen Sinne solidarisch. Er war als Athlet und später als Trainer und Lehrer, auch und gerade wenn er im Ausland war, ein deutscher Patriot. Seine Solidarität galt weniger den Organisationen und Verwaltern des Sports, sondern – sicher auf seine exzentrische, zuweilen auch egozentrische Weise – dem Sport, der Leichtathletik und den Leichtathleten selbst.

Vor allem dachte er nicht an Abrechnung mit seinen Widersachern aus dem Dritten Reich, was ein Leichtes gewesen wäre. „Otto Peltzer wollte am Ende der Leidensjahre Friede, Versöhnung und Ausgleich zwischen Ost und West schaffen“, sagte Walter Jens in seiner Jubiläumsrede. Aber solche Träume brachten Peltzer in Ost und West keine dauerhaften Freunde ein. Der Verfassungsschutz im Westen vermerkte voller Misstrauen, dass er an Treffen kommunistischer Organisationen teilnahm und zeitweise dem „Komitee für Einheit und Freiheit im deutschen Sport“ des Manfred von Brauchitsch angehörte, im Übrigen ein Kapitel deutscher Sportgeschichte, das der angemessenen Aufarbeitung durch Sporthistoriker noch bedarf. Fehler, die er machte, wurden mit unvergleichlicher Strenge geahndet. In einem Verfahren im Jahre 1950 wegen „Ziehung“ eines Athleten, an dem er nur am Rande beteiligt war, wurde er vom DLV mit einer Sperre belegt, die ihn zwei Jahre kein Traineramt im DLV ausüben ließ. Soweit ich weiß ein einmaliger Fall in der Geschichte des DLV.

Aber auch im Osten fasste er nicht Fuß. In erster Linie nahm man ihn nicht an, weil seine verhängnisvollen Neigungen, derentwegen er im Dritten Reich verurteilt worden war, Barrieren aufbauten. Viele Kollegen aus der Zeit vor dem Krieg, die als Trainer und Funktionäre nach dem Krieg in der DDR den Sport und die Leichtathletik wieder aufbauten, lehnten ihn deswegen ab. Sie wollten ganz einfach mit ihm nichts zu tun haben. Auch im Osten lastete das Stigma der Homosexualität auf ihm, nicht offiziell aufgearbeitet, aber häufig in hämischen Witzen auf Stammtischniveau thematisiert.

Es ist eine Ironie des Schicksals: Peltzers Ansehen im Ausland dagegen blieb ungeschmälert. In einer Umfrage in den USA gehörte er mit Max Schmeling, dem Reichskanzler und dem späteren Botschafter in den USA Hans Lutter zu den drei bekanntesten Deutschen des 20. Jahrhunderts. Und dies nicht etwa zu seinen Glanzzeiten als Läufer, sondern im Jahre 1950. In Indien wurde er während und noch lange nach seiner überaus erfolgreichen Trainertätigkeit (immerhin gewann Indien 1962 einen Länderkampf gegen eine gar nicht mal so schlechte DLV-Auswahl) nahezu wie ein Heiliger verehrt.

Kein strahlender Held

Otto Peltzer, ein einmaliger Athlet, aber auch ein Mann zwischen Fronten, wo immer es welche gab. Umstritten, dies nicht immer zu Unrecht. Ein Mensch mit Schwächen, der aber selbst von seinen Gegnern als jemand angesehen wurde, der gleichsam im Alleingang dem deutschen Sport nach dem Ersten Weltkrieg wieder Weltgeltung verschaffte. Geschunden, durch die KZ-Haft körperlich gebrochen, nicht aber geistig. Hoch qualifiziert als Experte in trainingstheoretischen Fragen, der sich zeit seines Lebens mit pädagogischen, soziologischen und politischen Fragen rund um den Sport und seine Werte befasste. Eine Persönlichkeit, wie sie in ihrer Vielfalt im deutschen Sport nach ihm kaum mehr auftauchte, die enthusiastische Zustimmung erntete, aber auch unverhohlene Ablehnung, ja Hass hervorrief, kurzum: Ein Mensch, an dem sich die Geister schieden und möglicherweise heute noch scheiden, und an den sich – wie ich meine, zu Unrecht – viele Menschen in unserem Land, auch wir Leichtathleten, kaum noch erinnern.

Ich will der Frage nicht ausweichen, ob dies alles eine Ehrung rechtfertigt, wie sie Walter Jens in jener Rede beim Jubiläum in Berlin vorgeschlagen hat: „ Der Deutsche Leichtathletikverband sollte ihn heimholen, diesen liebenswertesten Ketzer, den Träumer, der im Augenblick tiefster Demütigung nicht von dem Gedanken lassen mochte, dass die Leichtathletik nach der Überwindung nationalsozialistischer Herrschaft auferstehen werde, wie Phönix aus der Asche. Ja, er sollte seiner gedenken, indem er eine Ehrung nach ihm benennt.“ Ehrung für einen Menschen, der kein strahlender Held war, wenn man sein Leben alles in allem betrachtet, kein Idol ohne Fehl und Tadel, kein makelloses Vorbild für die, die nach ihm kamen und kommen? Nein, ein solches Idol war Otto Peltzer nicht.

Sein Leben hatte eine andere Dimension. Es sollte uns mahnen, auch solchen Menschen gerecht zu werden, die großartige, ja einmalige Leistungen vollbracht haben, dabei ihren eigenen Weg gegangen sind, die unseren Respekt und unsere Erinnerung, unsere Toleranz und unser Verzeihen auch dann verdienen sollten, wenn sie nicht den Weg gehen, den andere für den geraden und einzig richtigen halten. Ein Schicksal und einen Leidensweg wie den des Otto Peltzer, dessen überragende Leistungen für den Sport und darüber hinaus vergessen sind, dessen kritischer Geist und menschliche Schwächen von Politikern und Bürokraten als Instrumente zu seiner Disziplinierung benutzt und unmenschlich hart geahndet wurden, darf es nicht noch einmal geben. Daran sollten wir erinnert werden, wenn im DLV über eine besondere Ehrung zugunsten von Otto Peltzer zu entscheiden ist.

Die Verleihung einer Otto-Peltzer-Medaille an jene Persönlichkeiten, die sich um die Leichtathletik auf ihre besondere Weise durch hervorragende Leistungen als mündige Bürger und Sportler in kritischer und wohlverstandener Solidarität verdient gemacht haben, hat sich als eine nicht durchsetzbare Idee erwiesen. Eine größere Ehrerweisung könnte jedoch wohl sein, wenn wir Otto Peltzer als eine interessante und herausragende Persönlichkeit der Leichtathletik in unserem Gedächtnis bewahren könnten.

Über den Autor.
Theo Rous ist DLV-Ehrenpäsident,  Autor und Vortragsredner. Der pensionierter Gymnasiallehrer für Latein und Sport war Vorsitzender der Anti-Dopingkommission des DLV, Anti-Doping-Beauftragter, DLV-Vizepräsident und Delegationsleiter bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen. Er gilt als souveräner Funktionär, umsichtiger Teamchef und brillanter Redner. Er ist Täger des Hanns-Braun-Gedächtnispreises.