Liegt unser Sport an der goldenen Kette des Staates?

Für die Beurteilung aktueller Entwicklungen des Sports und für die notwendigen Entscheidungen über dessen Zukunft können historische Befunde eine wichtige Hilfe sein. Deshalb ist „sport- nachgedacht.de“ immer wieder bemüht, relevante sporthistorische Dokumente zu publizieren. Am 16. Juni 1972 erschien im ZEITmagazin der nachfolgende Beitrag von Willy Weyer, dem wortgewaltigen und streitfähigen damaligen DSB- Präsidenten und Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Manche seiner Gedanken sind heute aktueller denn je.

Willy Weyer

Liegt unser Sport an der goldenen Kette des Staates?

Das Bild, das sich manchmal die Öffentlichkeit vom Deutschen Sportbund, seinen Verbänden und Organen macht, ist vielfach falsch. Wenn man den Meinungsmachern und ihren „Ondits“ glauben darf, soll es nicht allzu gut um diese Millionenbewegung stehen: In der Spitze strebe man auseinander, auf der unteren Ebene komme man nicht voran, überall müßten die öffentlichen Hände unter die Arme greifen.

Dieses Bild ist in Wahrheit verzerrt. Es macht allerdings deutlich, wer alles am olympischen Feuer sein Süppchen kochen möchte. Da ist zuerst der Staat. Die Olympischen Spiele 1972 im eigenen Lande haben vieles in Bewegung gebracht. Die großen Investitionen der öffentlichen Hände führten zu merklichen Verschiebungen des Verhältnisses zwischen Staat und Sport, der sich auch nicht immer als eine einheitliche Kraft präsentiert.

Bundesinnenminister Genscher meint zwar: „Nicht mitregieren, sondern mithelfen ist unser Ziel. Die Vorstellung, der Staat könne den Sport in eigene Regie übernehmen, ist … utopisch.“ Doch schon einer seiner Mitarbeiter denkt darüber anders; in einem Interview in Sapporo wurde folgendes erklärt: „Den Anspruch auf eine direkte Mitbestimmung würde der Bund von sich aus nicht stellen, ich glaube jedoch, daß die deutsche Sportführung gut beraten wäre, wenn sie selbst dem Staat ein Mitspracherecht einräumen würde.“ Der Beamte verweist in diesem Zusammenhang auf das Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972, in dem Sport und Staat paritätisch vertreten sind.

Der Minister und seine Bürokratie scheinen mir hier recht unterschiedliche Ziele zu vertreten, eine Tatsache, die sich zum Beispiel bei der Schaffung der Kuratorien für die Bundesleistungszentren in anhaltenden Kompetenzstreitigkeiten niederschlagen in der Frage, ob auch die Landessportbünde beteiligt werden sollen oder nicht. Und da es auch auf Seiten des Sports keine einmütige Haltung gibt, fällt es dem Staat gar nicht schwer, das „divide et impera“-Prinzip anzuwenden.

Der Erfolg der sportlichen Arbeit wird davon abhängen, ob es gelingt, alle Mittel und Möglichkeiten in abgestuften Maßnahmen optimal zu nutzen, kleinkarierten Egoismus und falsch verstandenen Föderalismus zu überwinden. Begreift der Deutsche Sportbund seine Führungsrolle nicht, so wird der Staat über den goldenen Zügel des Geldes führen, und es sollte mich nicht wundern, wenn die Sportler ihm zumindest partiell obendrein noch Beifall klatschen würden. Der deutsche Sport ist kein Bittsteller vor den Türen der Obrigkeit, und er darf es auch nie werden. Mit seiner Leistung in den zurückliegenden Jahrzehnten hat er bewiesen, daß er zu den bedeutenden gesellschaftspolitischen Kräften in unserem Lande gehört. Er benötigt nicht feierliche Lippenbekenntnisse. Er benötigt klare Entscheidungen nach innen und außen, kurze Wege des Handelns und eine unerschrockene Führung. Dies allein bietet die Gewähr dafür, daß die dem Sport in unserer Gesellschaft zufallenden biologischen, pädagogischen und sozialen Funktionen von den Turn- und Sportvereinen und den Verbänden wirkungsvoll ausgeführt werden können.

Staatliche Versäumnisse

Es geht dabei um das Recht des Menschen auf Sport und Spiel als ein Grundrecht aller Menschen im Lande, ganz gleich, ob jung oder alt, Männer oder Frauen, Starke oder Schwache. Ein so verstandener Sport ist „längst kein Privatvergnügen mehr“ (Mitscherlich), sondern „eine nationale Aufgabe von höchstem Rang“ (Kennedy). So gesehen ist unser Tun in Vereinen und Verbänden schon anders zu werten; wir füllen eine Lücke aus, die der Staat zum Beispiel durch fehlendes Handeln beim Schulsport aufgerissen hat.

Das Instrumentarium für die Welt von morgen – das haben die sozialistischen Länder längst begriffen – bleibt ohne Maßnahmen zur Erhaltung der vitalen Kräfte des Volkes unvollständig. Die Zukunftsstrategie wird sich deshalb nicht nur mit der Bildungsplanung, der Friedenssicherung und dem Kampf gegen den Hunger beschäftigen müssen, sondern auch mit der Bewältigung der Freizeit und hier ganz besonders mit ihrer sinn- und freudvollen Erfüllung durch den Sport. Aber im Gegensatz zu den sozialistischen Ländern sagen wir: Der Staat hat die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß der Mensch seine Freizeit nach seinem Willen gestalten kann. Es kann und darf nicht seine Aufgabe sein, diese Freizeit für den Bürger zu verplanen.

Der Deutsche Sportbund hat dies frühzeitig erkannt: das zeigen gezielte Initiativen zur Förderung des Schul-, Freizeit-, Breiten- und Leistungssports und zur wissenschaftlichen Durchdringung des Phänomens Sport in unserer pluralistischen Gesellschaft. Einzelne Detailerfolge konnten verzeichnet werden, der große Durchbruch aber blieb bisher noch aus, und wir werden von Konferenz zu Konferenz vertröstet.

Die politischen Führungskräfte im Lande irren sich, wenn sie meinen, daß dies alles nur eine Frage des wachsenden Einsatzes öffentlicher Mittel sein soll, daß man olympische Medaillen von der Stange kaufen könnte. Voran gehen Entscheidungen darüber, welchen Rang man dem Sport im Leben des Menschen unserer Zeit zumißt. Hier geht es nicht um Rekorde für das nationale Prestige, deren Wirkung weiß Gott nicht unterschätzt werden soll, hier geht es zuerst darum, das Leben unserer Bürger lebenswerter und glücklicher zu gestalten.

Die feinen Beziehungen der körperlichen Kräfte zu denen des Geistes, des Willens und des Mutes, zu jenen Leistungen also, die auch mit Freiheit und Frieden eng verbunden sind, werden immer noch nicht richtig erkannt, die erforderlichen Maßnahmen zur umfassenden Förderung des Sports – vor allen Dingen in der Bildungspolitik – versäumt, wenn nicht sogar – wie jüngst beim Aktionsprogramm für den Sport an-Schule und Hochschule – verhindert.

Es wird der Tag kommen, an dem diese staatlichen Versäumnisse als sozial-schädigendes Verhalten gewertet werden, spätestens dann nämlich, wenn der nationale Schaden des körperlichen und moralischen Niederganges eines Teils unserer Jugend irreparabel ist. Ähnliches erleben wir zur Zeit in der Umweltfrage. Geht diese Bilanz des Mißvergnügens eventuell auf die Tatsache zurück, daß politische Führungskräfte in allen Parteien aus ihrer fehlorientierten Einstellung, den Sport aus dem Blickwinkel von Flaggen, Hymnen, Emblemen und Alleinvertretungsansprüchen zu sehen, erst aufgeschreckt wurden, als die gewünschten Erfolge bei den Olympischen Spielen 1968 ausblieben?

Alle seit den frühen 50er Jahren immer wieder vorgetragenen erschreckenden Tatbestände über den Zerfall der vitalen Kräfte des Volkes und die bis heute nicht abgebaute Misere des Sports an unseren Schulen und Hochschulen waren für sie nicht so wichtig gewesen, wie das im Sport bedrohte nationale Prestige. Ja – manchmal habe ich den Eindruck, als sei das Bild mit dem Olympiasieger wichtiger als die innere Einstellung zum Sport.

Sportliche Höchstleistungen erwachsen nicht aus speziellen Förderungsmaßnahmen für eine geringe Anzahl von Spitzensportlern, sondern letztlich nur aus einer für den Sport eingenommenen leistungsfreudigen Jugend – wie wir es zum Beispiel in der DDR sehen. Die DDR spielt uns heute ihren Sport als politischen Trumpf für die Überlegenheit ihres sozialistischen Systems vor, und wir versuchen immer noch so zu tun, als ob dieser Test keinerlei weiterreichende Verbindlichkeit besäße.

Wie könnte der Sport Freiheit, Selbstsicherheit, individuelles Menschenrecht repräsentieren, wenn der demokratische Staat ihn nicht absolut ernst nähme oder gar Freiheit mit Fahrlässigkeit verwechselt und die Starken durch Desinteresse schwächt, anstatt die Schwachen durch sportliche Entwicklungshilfe stärkt? Unser Fortschritt würde im Sitzen stattfinden, gäben nicht die Turn- und Sportvereine der Nation den Nachhilfeunterricht zur Erhaltung ihrer vitalen Kräfte.

Angesichts der staatlichen Versäumnisse im Sport vom Kindergarten bis zum älteren Menschen, in Schule und Hochschule, in Randgruppen der Gesellschaft und in der Umwelt nimmt es sich eigenartig aus, wenn der Staat jetzt gerade dort mitbestimmen will, wo sich die Entwicklungen erfolgreich vollzogen haben, während er dort, wo er eigentlich regieren müßte, die längst fälligen Lösungen verzögert.

Woher kommt das Geld?

Mit diesen grundsätzlichen Feststellungen sollen die finanziellen Leistungen der öffentlichen Hände nicht geschmälert werden. Aber nicht derjenige, der die grellsten Farben plakatiert, leistet am meisten.

Gemessen an den Leistungen der Bundesländer und insbesondere den Leistungen der Gemeinden. ist der Bundesanteil an der Sportförderung jedoch nur ein ganz kleiner Teil, und es nimmt sich eigenartig aus, wenn gerade vom Bund jetzt Mitbestimmungsforderungen erhoben werden, während man in den Ländern dem Sport das Vertrauen schenkt, über das Geld in der eigener. Familie selbst zu verfügen. Leistungskataloge der Gemeinden gibt es leider nicht; es darf jedoch davon ausgegangen werden, daß ihre Sportförderungen noch weit über die der Bundesländer hinausgehen. Die Gemeinden tragen damit die Hauptlast und nicht etwa der Bund, wie es in der Öffentlichkeit gelegentlich erscheint, wenn von Sportministern, Generalbevollmächtigten für den Spitzensport, Bundeszentralen für Sport und anderem mehr gesprochen wird.

Wir wollen aber auch nicht mehr den Eigenanteil des Sports verschweigen, der als Gegenleistung präsentiert wird. Die freiwilligen Leistungen der Turn- und Sportvereine sind prozentual weit stärker angestiegen als die im gleichen Zeitraum ihnen zugeflossenen staatlichen Mittel. Nach der Analyse des Jahres 1968 stehen den

  • 119,7 Millionen Mark Zuschüssen, der öffentlichen Hände an die Vereine
  • 485,2 Millionen Einnahmen der Vereine aus Beiträgen, Spenden, Veranstaltungen u. a. m. und
  • 617,9 Millionen Eigenleistungen der Vereine aus ehrenamtlicher Tätigkeit, u. a. der Übungsleiter, Mannschaftsbetreuer, Bauhelfer, gegenüber.

Die Ausgaben der Vereine beziffern sich auf 1,5 Milliarden; davon wurden allein eine Milliarde für den Bau, Unterhaltung und Betrieb der Sportanlagen aufgewendet. Man kann eben nicht die Zuwendungen z. B. für den Spitzensport, separat werten und klammheimlich unter den Tisch fallen lassen, was der Sport selbst aufbringt, denn dann überbewertet man die staatlichen Leistungen und erweckt damit den Eindruck einer gewissen Abhängigkeit des Sports schon vom Gelde her.

Sport und Staat kommen nicht mehr ohneeinander aus. Der Sport benötigt die Hilfe der öffentlichen Hände, um seine stürmisch wachsenden Aufgaben erfüllen zu können, und der-Staat die demokratische Mitverantwortung unserer 10-Millionen-Bewegung, um das Leben in dieser Gesellschaft menschenwürdiger zu gestalten. Die Sportorganisation ist eine politische Kraft im Lande geworden, selbstbewußt und leistungsstark. Sie will ein gleichwertiger Partner sein – nicht Befehle geben – aber auch nicht Befehle empfangen. Dementsprechend ist das Verhältnis zwischen Sport und Staat neuzuordnen, die Stellung der freien Turn- und Sportbewegung zu den staatlichen Ämtern zu verdeutlichen und ein optimal abgestimmter Aufgabenkatalog für die Förderung des Sports zu entwickeln. Oberstes Gebot ist der vom Bundeskanzler formulierte Grundsatz, daß „der Sport von staatlicher Bevormundung frei bleiben muß“.

Die Sportorganisation verdient Respekt und Hilfen, aber nicht nur wegen der nicht abzugrenzenden Werte, die in ihrer freiwilligen Initiative liegen, sondern auch wegen ihrer „wichtigen sozialen Funktion der Auslese und Einübung sozial-aktiver Persönlichkeiten“ (Wurzbacher). Gäbe es diese Turn- und Sportbewegung nicht, müßten an ihre Stelle Behörden treten, so würden

  1. der Komplex des verwalteten und behördlich versorgten Menschen beträchtlich erweitert,
  2. ein gefährlicher Schritt zum staatsgelenkten Sport östlicher Provenienz getan,
  3. eine wichtige soziale Funktion der Bürger zum Erliegen kommen und
  4. die Kosten für den steuerzahlenden Bürger erheblich höher liegen.

Der Sport hat sein Wort gegeben, an der Entfaltung des Menschen und der Gestaltung der Gesellschaft mitzuarbeiten; er löst es ein, indem seine Organisation sich zu öffnen und neu zu orientieren beginnt: Aus der Gesinnungsgemeinschaft Verein wird die Dienstleistungsgesellschaft Verein. Das wird nicht abgehen ohne Ausweitung der Angebote, ohne Zusammenschlüsse zu größeren Gruppen, ohne fortlaufend verbesserte Führungsstrukturen und -stile. Es will mir einfach nicht einleuchten, daß unser demokratischföderatives System – trotz der sicherlich schwierigeren Entscheidungswege und

größeren Reibungsverluste – nicht eine ähnliche Effektivität im Freizeit-, Breiten- und Leistungssport erreichen sollte wie ein zentralistisches System, wenn die Rollen richtig verteilt, den vorhandenen Schwächen gezielt zu Leibe gerückt und die notwendigen Differenzierungen u. a. zwischen Leistungs- und Freizeitsport voll beachtet werden.

Neue Konzepte von unten her

In diesem neuen Spiel der Kräfte müssen angepaßte organisatorische Formen der Zusammenarbeit nach innen und außen und die gebotene Konzentration aller vorhandenen Mittel und Maßnahmen entwickelt, die ökonomischen Prinzipien des Managements mit ehrenamtlicher Führung (im Stile von Aufsichtsräten) und hauptamtlicher Leitung (nach dem Modell von Vorständen) auch auf den Sport übertragen und die wirtschaftlichen Möglichkeiten mit vollem Risiko wirksamer als bisher genutzt werden. Die Turn- und Sportbewegung wird nur bestehen können, wenn sie auf allen Ebenen zu einem „maßvollen Zentralismus“ kommt, ohne dabei die demokratisch-föderativen Prinzipien aufgeben zu müssen. Das gilt für die weitere Entwicklung des Freizeit-, Breiten- und Leistungssports, für Verein, Verband und Dachorganisation gleichermaßen, wenn auch mit differenzierten Ansätzen.

In einer Zeit der Spezialisten, des Managements und der Koexistenz läßt sich auch eine Sportorganisation, die jahrelang mit Armut und Machtlosigkeit geradezu kokettiert hat, ohne funktionsfähige gesamtverantwortliche Repräsentanz nicht mehr führen. Diese ermöglicht erst eine vernünftige und wirkungsvolle Kooperation zwischen Sport und Staat und verhindert letztlich, daß der Sport überhaupt an die Kette gelegt werden kann. Für den weiteren Weg ist also die Einheit von Freizeit-, Breiten- und Leistungssport unabdingbar.

Wenn auf dem Markt der Öffentlichkeit inzwischen Organisationsmodelle für die Zeit nach 1972 angeboten werden, dann ist mir nicht wohl dabei. Schnelldenker glauben z. B., den Leistungssport beim NOK mit der Stiftung „Deutsche Sporthilfe“, den Bundesausschuß zur Förderung des Leistungssports des DSB und die Spitzenverbände auf eine Art „Medaillenkolchose“ zusammenziehen zu können. Solche Pläne bedeuten Angriffe auf Leib und Seele des deutschen Sports, dessen Stärke in seinen fast 40 000 Turn- und Sportvereinen liegt.

Nicht von oben und getrennt nach Leistungs- und Breitensport werden die neuen Konzepte gestaltet, sondern allein von unten her, auf der Basis der Vereine. Wer dies übersieht, setzt auf die falschen Karten.

Der deutsche Sport darf seine Einheit nicht in Gefahr bringen. Der DSB muß seine innere Ordnung stärken, gegenseitiges Verständnis unter den Mitgliederorganisationen vertiefen und den entschlossenen Willen zur Einigkeit des deutschen Sports täglich beweisen.

Der Sport darf sich auch nicht zum Dienstmann des nationalen Prestiges degradieren lassen. Wir bekennen uns zum Höchstleistungssport. Dieses eindeutige „Ja“ ist nicht mit nationalem Ehrgeiz begründet, sondern in der Erkenntnis, daß eine Kultur nur dann stark und lebendig ist, wenn sie Raum und Ansporn für die Entfaltung aller Bestleistungen, also auch der sportlichen, gibt. Ein Sport ohne Streben nach der höchsten Leistung wäre unnatürlich, widerspräche sich selbst und dem Gesetz der Entfaltung aller Anlagen.

Und doch müssen wir im öffentlichen Bewußtsein die Rolle des Sports noch deutlicher machen. Es darf sich nicht der Eindruck verstärken, daß über den Rang eines Sportprogramms

in unserem Lande allein bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften entschieden wird. Ein neues Verständnis ist zu schaffen. Jede Leistung im Sport ist relativ, und auch die Leistung des Altersturners oder des Wanderruderers verdient Respekt.

Seit man den Sport aber nur noch unter dem Aspekt von Meistern und Medaillen wertet und dabei völlig übersieht, daß Niederlagen tägliches Brot des Sports sind, seit sportliche Rekorde zur Flagge für bessere politische Systeme werden, fällt es besonders auf, daß uns der DDR-Sport davonläuft. Wir beginnen zu vergleichen, was nicht vergleichbar ist, weil sich die gesellschaftlichen Systeme und sportlichen Strukturen in beiden Teilen Deutschlands diametral entgegenstehen. Darüber hinaus wissen wir allesamt,

  1. daß der Sport bei uns längst nicht die ihm zukommende gesellschaftspolitische Bedeutung erfährt,
  2. daß dem Sport auf Grund seiner Notlage an den Schulen und Hochschulen die feste Grundlage fehlt, und
  3. daß wir gar nicht – wie die DDR – eine Leistungsgesellschaft, sondern eine wohlfeile Erfolgsgesellschaft sind.

Der Leistungssport hat bei uns angesichts dieser Tatsachen einen schweren Stand. Die Medaillen von Sapporo sind gegen den Wohlstand errungen worden: Wer will sich denn noch schinden, das einfache Leben eines sportlichen Asketen führen und auf viele sonst so hoch gepriesene Annehmlichkeiten verzichten? Bei uns müssen wir die sportliche Höchstleistung nicht nur gegen Jusos, Sensomotoriker, Anti-Olympiade- und andere Komitees verteidigen, in unserem verweichlichenden Wohlstand hat sie auch sonst keinen festen Boden unter den Füßen. Das müssen wir erkennen, wenn wir die Prognosen für München und die Zukunft stellen.