von Wolfgang Schlicht
Das ist ernüchternd: Wir schneiden in Deutschland in wichtigen Gesundheitszielen schlechter ab als unsere europäischen Nachbarn, obwohl wir fast 13% des Bruttosozialprodukts für die Gesundheit der Bevölkerung aufwenden und damit hinter den USA die Länder-Liste der Gesundheitsausgaben anführen. Die Lebenserwartung und die Gesundheitsspanne sind kürzer und die 30-Tage-Überlebensrate nach einem kardialen Ereignis (z. B. Myokardinfarkt) ist geringer als in Staaten, die weniger Geld für die Versorgung ausgeben. In keinem anderen Land werden mehr Hüften operiert und die Zahl der Krankenhauseinweisungen ist um 40% höher als im Durchschnitt der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Gründe für das schlechte Abschneiden gibt es viele. Sie sind in der Abbildung 1 angedeutet.

Einflussfaktoren auf die Bevölkerungsgesundheit
Muss mehr Geld ausgegeben werden, damit die Bilanz positiver wird? Müssen die Mittel anders verteilt werden? Muss also mehr Geld in die Prävention und weniger in die Versorgung fließen?
Ausgaben für präventive Maßnahmen beziffern sich auf einen Anteil von ungefähr 10% der Gesamtleistungen, die in das Gesundheitssystem investiert werden. Der Anteil könnte gerne größer sein. Mit mehr Geld gewönnen wir aber nicht unbedingt mehr Bevölkerungsgesundheit, wenn sich der aktuell vorherrschende Ansatz der Prävention nicht ändert, der sich auf die Änderung des individuellen Verhaltens konzentriert. Zukünftig müssen die Lebenswelten mehr in den Blick genommen werden; Eine Forderung die von der WHO bereits Mitte der 1980er Jahren in der „Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung“ erhoben und bis heute nicht konsequent umgesetzt wurde.

Differente Ansätze in der Prävention und Gesundheitsförderung
Ausgangslage
Die mäßige Bilanz der finanziellen Aufwendungen im deutschen Gesundheitssystem führen Autorinnen und Autoren epidemiologischer Arbeiten auf Herzkreislauferkrankungen (HKL) zurück, die in der Bevölkerung Deutschlands bereits im mittleren Lebensalter (45 bis 60 Jahre) verbreitet sind. Die Risiken für HKL und Stoffwechselerkrankungen mehren und verstärken sich im Alternsgang. Sie führen zum metabolischen Syndrom mit Bluthochdruck, Zucker- und Fettstoffwechselstörungen, krankhaftem Übergewicht (Adipositas) oder zum Prä-Diabetes. Diabetes Mellitus Typ 2 (DT2), Herzinfarkt oder Schlaganfall sind die Folgen. Die Zahl der adipösen und der an DT2 erkrankten Personen nimmt in Deutschland zu. Nach Survey-Daten des „Robert Koch Instituts“ leiden etwa 7 Millionen Menschen in Deutschland am DT2. Die Zahl der Erkrankten hat von der Jahrtausendwende bis heute um 2% zugenommen.¹ Früher wurde der DT2 als „Altersdiabetes“ bezeichnet, heute sind bereits junge Menschen betroffen. Die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist in Deutschland leicht rückläufig, aber wie auch der DT“ höher als der EU-Durchschnitt.² HKL sind nach wie vor die häufigste Todesursache in Deutschland. Ein Viertel der Männer (23%) und Frauen (24%) sind adipös (BMI ≥30 kg/m2.
„Nicht-übertragbare Erkrankungen“ werden maßgeblich durch riskantes Verhalten bedingt: Nikotinrauchen, körperliche Inaktivität, ungesunde Ernährung, Alkoholkonsum. Hinzu kommt der berufliche Stress, der – so die OECD – in Deutschland Menschen im mittleren Lebensalter stärker trifft, als in vergleichbar finanziell ausgestatteten Staaten.
Aufgrund der nachgewiesenen Wirkung des Verhaltens liegt es nahe, an Menschen zu appellieren und sie zu motivieren, ihre riskanten Gewohnheiten zu ändern. Stress sollten sie mit Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen verarbeiten. Sie sollten mehr Sport treiben, täglich Gemüse und Obst essen, den Fleischkonsum deutlich reduzieren und Alkoholika allenfalls in homöopathischen Dosen konsumieren. Vor allem sollten sie nicht rauchen. Appelle, nicht selten agitatorisch vorgetragen, das Verhalten zu ändern, sind das vorherrschende Mittel der Prävention und Gesundheitsförderung, sichtbar an Kursen der gesetzlichen Krankenkassen, Volkshochschulen und anderen Einrichtungen, die sich in der Prävention und Gesundheitsförderung engagieren.
Das ist nicht falsch, hat es doch die/den Einzelnen, die/der ihr/sein Risiko reduziert, davor bewahrt, zu erkranken und vorzeitig zu versterben. Mit Blick auf die Bevölkerungsgesundheit (Public Health) ist aber auch hier Ernüchterung zu konstatieren: Die Wirkungen der edukativen Einflussnahme, auf riskante Gewohnheiten zu verzichten und sich stattdessen eine risikomindernde Lebensweise anzueignen, ist durch epidemiologische Studien zwar gut gedeckt. Appelle, das Verhalten zu ändern, haben aber weder die im Alter gesund verbrachten Lebensjahre (Gesundheitsspanne), noch die Lebenserwartung der Bevölkerung verlängert.
Risiken zu kennen, bedeutet noch nicht, umsichtig und vorsichtig zu handeln. Jugendliche rauchen wieder mehr als in den vergangenen Jahrzehnten, obgleich alle wissen, das Nikotinrauchen krank macht. Die Zahl an Hautkrebserkrankungen steigt, obgleich allen die Gefahr intensiven „Sonnenbadens“ bekannt ist. Die Flasche Bier gehört nach wie vor zum Feierabend. Das Glas Rotwein am Abend wird immer noch als Beitrag zur Herzgesundheit gepriesen, obgleich wissenschaftliche Studien durchgängig zeigen, dass Alkohol bereits in niedriger Dosierung schädigt. Wurst- und Fleischwaren werden in einer Menge verzehrt, als gäbe es keinen Klimawandel und als hätten Studien nicht schon längst gezeigt, dass der hohe Verzehr von rotem Fleisch das Risiko für den Darmkrebs erhöht.
Offenbar fällt es Menschen schwer, gewohnte Lebensweisen aufzugeben. Sie ändern ihr Verhalten meist auch nur kurz, bevor sie im Alltagstrott und angesichts von „Alltagszwängen“ zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehren. Manchmal entscheiden sich Menschen auch bewusst für ein riskantes Verhalten, weil direkte Belohnungen, die das Verhalten begleiten oder aus ihm resultieren, mehr wiegen als wahrscheinliche gesundheitliche Zugewinne in der ferneren Zukunft („lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach“). Tut man das eine, verzichtet man auf das andere. Tut man das eine und hofft dafür in der Zukunft belohnt zu werden (Belohnungsaufschub), verzichtet man auf das andere und auf die direkte Belohnung. Verhaltensänderungen sind mit Opportunitätskosten verbunden. Die werden nicht nur rational gegen Gewinne abgewogen, sondern auch emotional „verbucht“.
In gleichem Maße wie von emotionalen Abwägungen werden Menschen durch ihre Lebensumstände daran gehindert, sich gesund zu verhalten. Gesundheitsverhalten variiert sozialschicht-abhängig. Menschen, die in der meritokratischen Schichtung unten stehen (niedriges Einkommen, niedrige Bildung, niedriger Sozialstatus), verhalten sich riskanter als jene, die oben stehen. „Unten“ in der Sozialhierarchie sind die Menschen kränker und sterben früher. Die höhere Betroffenheit von Personen mit geringerer formaler Bildung zeigt sich in der Prävalenz der „nicht-ansteckenden Erkrankungen“ und der Adipositas.
Die Chancen, bis ins hohe Alter gesund zu leben, sind in der Bevölkerung ungleich verteilt. Für die soziale Unwucht ist nicht in erster Linie ursächlich, dass „die da unten“ Verhaltensappelle nicht verstehen, dass sie zu träge sind, um Gewohnheiten aufzugeben oder sich wider besseren Wissens bewusst für ein riskantes Verhalten entscheiden. Vielmehr sind ihre Chancen, sich gesund zu verhalten, durch fehlende finanzielle Ressourcen, fehlende Bildung, Gruppendruck oder in der Kindheit erworbene Denkstile (mangelnde Fähigkeit zum Belohnungsaufschub) und Einstellungen (mechanistische Köperkonzepte) geringer. Während die einen sich gesund verhalten wollen und es auch können, wünschten sich andere das auch, können es aber nicht, weil sie durch Lebensumstände und mangelnde Fähigkeiten daran gehindert werden.
Appelle von Krankenkassen und anderen Institutionen, die sich in der Prävention engagieren, sich doch bitte vernünftig zu verhalten, werden auch „unten“ in der Sozialhierarchie gehört. Änderungen der Lebensweise sind dort aber nicht ohne Weiteres möglich, passen auch nicht immer zum schicht- oder klassentypischen Lebensstil. Manchmal stehen sie sogar im Konflikt zu den Erwartungen des sozialen Umfelds, der Eltern, der peers, der Arbeitskolleginnen und -kollegen („Nun mach mal halb lang, gegen ein „ordentliches“ Stück Fleisch und zwei/drei Bier zum Grillabend lässt sich doch nichts einwenden“).
Die kommunale Lebenswelt systemisch policy-basiert gestalten
Wenn also edukative Maßnahmen für die Bevölkerungsgesundheit weniger bringen als erwartet, was könnte dann mehr bewirken? Das Bemühen um die Bevölkerungsgesundheit muss sich auf die Bedingungen der Menschen konzentrieren, die es ihnen ermöglichen, sich gesund zu verhalten. Die Bedingungen müssen so beschaffen sein, dass sie risikoarmes und gesundheitsförderndes Verhalten erleichtern: “Make the healthy choice the easy choice” heißt es dazu in der einschlägigen Literatur. Dazu braucht es einen systemischen Ansatz, mit dem man Lebenswelten (z. B. Kommunen) und Settings (z. B. Betriebe, Schulen) „gesund“ entwickeln will.
Der Ansatz adressiert das gesundheitsermöglichende Verhalten kommunal-politischer Akteurinnen und Akteure. Sie schaffen, öffnen oder schließen mit den politischen Inhalten (Policies), die sie auf die Agenda der kommunalen Gremien setzen, „Möglichkeitsräume“ (z. B. Radwege, Sport-, Freizeit-, Erholungsanlagen, Bibliotheken) für ein Verhalten, das geeignet ist, gesundheitliche Risiken zu senken und Chancen zu erweitern, um ein „gutes Leben“ zu leben. Auf die kommunalpolitische Agenda gehören „faire kommunale Umwelten“, natürliche, gebaute, technische und soziale Umwelten, die den Bürgerinnen und Bürgern Verwirklichungschancen bieten, gesund zu bleiben und zu leben.
Stromaufwärts handeln
Die Idee eines systemischen policy-basierten Zugangs der Prävention und Gesundheitsförderung lässt sich mit einem Bild illustrieren, das der britische Public Health Forscher John B. McKinlay gemalt hat. Er beschreibt darin eine wiederkehrende Szene: Flussaufwärts wagen sich Menschen auf eine morsche Brücke, um an das andere Ufer zu gelangen, stürzen in die Fluten und werden vom Strom mitgerissen. Unten werden sie vor dem Ertrinken gerettet und versorgt. Oben wurde vor der Überquerung gewarnt, unten wird mit viel Geld und Aufwand zu retten und zu heilen versucht.
Effektiver und effizienter, um die Bevölkerungsgesundheit zu steigern, wäre es, flussaufwärts Brücken zu reparieren, also Bedingungen gesundheitsförderlich zu gestalten, statt vornehmlich vor Gefahren zu warnen, die aus dem Verhalten resultieren. Wird Menschen keine Chance gelassen, riskantes Verhalten zu meiden, werden sie dazu sogar angestiftet (z. B. durch Werbekampagnen für Alkohol, Zucker, Nikotin) und werden sie auch noch, wenn sie erkranken, des falschen, schuldhaften Verhaltens geziehen, dann ist das zynisch.
Derzeit überwiegt in den Strategien der Prävention und Gesundheitsförderung Risikokommunikation mit erhobenem Zeigefinger, oft mit einer impliziten moralischen Attitüde vorgetragen: Lass das, tu das nicht, beweg dich mehr, iss weniger Fleisch, rauch nicht, trink keinen Alkohol und kauf das Mittel, von dem wir wissen, dass es dir gut tut! Schon vor Jahrzehnten hat Hagen Kühn einer Risikokommunikation, die sich am individuellen Lebensstil orientiert und dabei die Lebenslage ignoriert, das Etikett „Healthismus“ angeheftet. Gemeint hat er damit eine ideologische Orientierung, die den Einzelnen für die Gesunderhaltung verantwortlich macht und eine Lebensweise als Ideal anpreist, die den Zugriff auf Kapital (Geld, Bildung, sozialen Rückhalt etc.) voraussetzt.
In den Kommunen wird „gutes Leben“ gestaltet
Menschen leben und sterben in Städten und Dörfern. Eine flussaufwärts agierende systemisch policy-basierte Strategie der Gesundheitsförderung mit der Kommune erachtet auch solche Politikfelder als gesundheitlich bedeutsam, die mit Gesundheit scheinbar nichts zu tun haben (z. B. Verkehrs-, Wirtschafts-, Kulturpolitik etc.).
Zum Beispiel können Verkehrskonzepte dem Fuß- und Radverkehr mehr Raum gewähren, können bauliche Eingriffe alte Menschen vor Hitzestress schützen, kann die dörfliche Bibliothek Bildung auch für Erwachsene, können Parks, Grünanlagen oder Sportstätten Bewegung, Begegnung und Erholung ermöglichen. Das sind Beispiele für „Möglichkeitsräume“, die „Verwirklichungschancen“ für ein „gutes Leben“ bieten.
Kommunen, die sich dem „Gesunde-Städte-Netzwerk“ angeschlossen, Gemeinden, die Inklusion als Leitgedanke ihrer Politiken definiert haben oder Städte, die resilient werden wollen (z. B. Köln) und solche, für die die „17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen“ in einem „Agenda 2030-Prozess“ das politische Handeln bestimmen und das „gute Leben“ als politisches Ziel definieren, verfolgen eine systemisch policy-basierte Strategie der kommunalen Gesundheitsförderung . Sie schauen bei Entscheidungen über Baugebiete, Mobilitätskonzepte, Wirtschaftsförderung, Sozial-, Kulturpolitik oder andere Politikfelder durch eine „Gesundheitslinse“. Sie fragen nach den gesundheitlichen Konsequenzen kommunal-politischer Entscheidungen.
Gesundheit wird hier nicht medizinisch, als normgerechter Befund einer klinischen oder Laboruntersuchung verstanden, sondern – im Sinne der „Internationalen Klassifikation von Funktion und Krankheit“ der Welt-Gesundheitsorganisation – als die „Bedingung der Möglichkeit“, grundlegende körperliche und psychische Bedürfnisse zu befriedigen, nach persönlich wichtigen Zielen zu streben und am sozialen Leben teilzuhaben, mithin „gut zu leben“.
Gesundheit ist ein „konditionales Gut“, ein Kriterium, an dem sich die Wirksamkeit politischen Handelns bemisst. Eine gesunde Bevölkerung ist Voraussetzung und Folge funktionierender kommunaler Strukturen und des Zusammenlebens in einer Gemeinde. Der Harvard-Philosoph Norman Daniels hat Gesundheit als ermöglichende Bedingung definiert, um persönlich wichtige Lebensziele anzustreben und zu erreichen. Gesundheit ist damit ähnlich voraussetzend für die Verwirklichung persönlich und gemeinschaftlich wichtiger Ziele wie es Frieden, Sicherheit oder Freiheit sind. „Konditionale Güter“, so der Berliner Philosoph Stefan Gosepath, bilden „… die notwendige Bedingung aller Lebenspläne.“ Was mit Frieden und Freiheit groß und global gedacht ist, gilt kleiner auch für das Alltagsleben in den Städten und Dörfern.
Politisch-theoretischer und gesetzlicher Hintergrund
In ihren Ansätzen der „Befähigung“ oder der „Verwirklichungschancen“ fordern der Harvard-Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen und die politische Philosophin Martha Nussbaum von der Universität Chicago von politischen Akteurinnen und Akteuren, Bedingungen zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen, Chancen auf ein „gutes Leben“ zu verwirklichen. Politik soll „faire Umwelten“ gestalten, die – neben anderem – befähigen, sozial teilzuhaben und das Leben selbstbestimmt zu gestalten. Die Forderung „Verwirklichungschancen“ zu etablieren, steht in der Tradition von John Rawls, für den „die erste Tugend sozialer Institutionen Gerechtigkeit“ (hier als gesundheitliche Chancengleichheit definiert) ist.
Weniger philosophisch voraussetzungsvoll hat die Forderung mit der „kommunalen Daseinsvorsorge“ zu tun, die im Artikel 28, Abs. 2 GG als Auftrag an die Kommunen formuliert ist. Mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der „Daseinsvorsorge“ sind kommunale Pflichtaufgaben geregelt, die teilweise von der nächsthöheren staatlichen Ebene (z. B. Bundesland) angewiesen werden. Neben pflichtigen können Kommunen freiwillige Aufgaben (z. B. Gesundheitsförderung) erledigen. Ob und wie sie das tun, darüber entscheiden kommunalpolitische Akteurinnen und Akteure nicht zuletzt im Lichte eines auskömmlich finanzierten Haushalts. Derzeit sind die Kommunen weder für pflichtige Aufgaben (z. B. Unterbringung von Geflüchteten) noch für freiwillige Leistungen der Daseinsvorsorge (v.a. Kultur und Sport) auskömmlich finanziert.
Das Leben in den Kommunen ist mit dem Klimawandel und der demografischen Entwicklung krisenanfällig(er) geworden. Verwerfungen der COVID-19 Pandemie (z. B. die Zunahme psychischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter) und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine (z. B. Unterbringung von Geflüchteten und Investitionen in den Zivilschutz) kommen hinzu und die demografische Entwicklung bedingt eine Zunahme der Pflegelasten. Scheitern die Kommunen an den Herausforderungen, werden ihre kommunalen Strukturen dysfunktional, fragil und es drohen Verwerfungen im sozialen Gefüge. Wird auf die Herausforderungen nicht oder falsch geantwortet, wird das Gemeinwesen überfordert. Bürgerinnen und Bürger verlieren das Vertrauen in die Steuerungsfähigkeiten des Kreistags, des Stadt-/Gemeinderats oder der Kreis-/Gemeindeverwaltung und büßen die Chance ein, in der Kommune „gut aufzuwachsen“, „gut zu altern“, kurzum, „gut zu leben“.
Das Ziel der kommunalen Entwicklung
Ziel einer systemisch policy-basierten Strategie der kommunalen Gesundheitsförderung ist die „ökologische Resilienz“ der Kommune. Mit „Resilienz“ wird ein abstrakter Begriff und ein unbestimmtes Ziel benannt. In den Ingenieurwissenschaften gilt ein Material als resilient, wenn es – durch Spannung (Druck oder Zug) – verformt, wieder in seinen ursprünglichen stabilen Gleichgewichtszustand zwischen äußerem Druck und innerer Widerstandsfähigkeit zurückkehrt. Auch in der Psychologie und Medizin wird Resilienz als Anpassungs-, Widerstandsfähigkeit oder Invulnerabilität verstanden; als Fähigkeit, nach Krisen die psychische Gesundheit wiederzuerlangen. Im Kontext gesundheitswissenschaftlicher Debatten ist das Modell der „Salutogenese“ von Aaron Antonovsky mit dem Konzept der „generalisierten Widerstandsressourcen“ ein Resilienz-Ansatz. Im policy-basierten Ansatz ist Resilienz „ökologische Resilienz“. Deren inhaltliche Fassung geht vor allem auf die Arbeiten des Ökologen Crawford Stanley „Buzz“ Holling zurück. Beobachtungen natürlicher Ökosysteme über die Anpassung von Arten an feindliche Umwelten lassen sich auf soziale Systeme übertragen. Stabile Gleichgewichtszustände sind dort nicht per se von Vorteil. Die Rückkehr zum status quo ante ist für Kommunen nicht immer und unter allen Umständen wünschenswert. Antworten, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, taugen kaum, um die Zukunft zu bewältigen. Angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen kann es wirksamer sein, kommunale Strukturen und Umwelten grundlegend zu verändern. Soziale Systeme müssen immer auch darauf gefasst sein, dass zukünftige Zustände unerwartet eintreffen (schwarze Schwäne) und zerstörerisch wirken können.
Neben der individuellen Anpassung der Bürgerinnen und Bürger an zukünftige Herausforderungen in ihrer Umwelt braucht es die Mitigation der kommunalen Umwelten. In ihrer gebauten Umwelt, um die als Beispiel zu nehmen, müssen Städte und Dörfer hitzerobuster werden, durch mehr „grün“ (Bäume, Sträucher), mehr „blau“ (offene Wasserflächen), Albedo-Oberflächen auf Straßen und Plätzen, unverbaute Luftschneisen, reduzierten PKW-Verkehr und anderen Maßnahmen. Der europäische Klimawandeldienst Corpernicus konstatiert, dass die kombinierte Wirkung von Klimawandel, Urbanisierung und Alterung hitzebedingte Gesundheitseffekte verstärken wird. Herkömmliche Maßnahmen, um Hitzestress abzuwehren, von denen derzeit schon zu wenige erfolgen (z. B. Beschattung durch Bäume), werden – so der Bericht – in absehbarer Zukunft nicht mehr ausreichen, um Gesundheitskrisen abzuwehren. Und der bloße Hinweis an alte Menschen, mehr zu trinken und die Wohnung nicht zu verlassen, wenn das Thermometer30° C erreicht hat, lösen das Problem nicht, schaffen sogar ein neues, wenn damit die Aktivität und die soziale Teilhabe alter Menschen eingeschränkt wird. Resilienz entsteht nur durch Adaptation und Mitigation. Es ist nachgerade ein sozial-ökologisches Diktum, dass Veränderungen nur dann nachhaltig wirken, wenn die untrennbare Wechselwirkung von Person-Faktoren und Umwelt-Bedingungen adressiert wird und nicht nur die Person oder die Umwelt.
Man muss kein Orakel bemühen, um zu erkennen, dass sich unsere Lebensweise in 20 Jahren verändert haben wird. Bürgerinnen und Bürger werden nicht nur mit mehr und extremeren Hitzetagen umgehen müssen. Sie werden auch die Energieversorgung regionaler und lokaler gestalten, auf den Verlust an Biodiversität reagieren und die Nahrungsmittelproduktion umstellen müssen. Den Verkehr vor allem in den Städten werden sie anders lenken müssen.
Wenn Kommunen „ökologische Resilienz“ vor dem Hintergrund der notwendigen transformativen Wenden anstreben und ihre Lebenswelt dynamisch gestalten, statt sich der bloßen Rückkehr zum Zustand vor Krisen versichern, werden sie als politisch-administrative Einheiten ob der Entwicklungen und drohender „schwarzer Schwäne“ robust, flexibel und antifragil bleiben. Nur dann bieten sich Verwirklichungschancen für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger.
Für die „ökologische“ oder „transformative Resilienz“ brauchen kommunale Akteurinnen und Akteure eine Haltung, die gesellschaftliche Herausforderungen auch als Gestaltungspotenziale begreift und nicht nur als Bedrohungen. Alle, die politisch und administrativ Verantwortliche und die Bürgerinnen und Bürger, müssen sich aneignen, reflexiv, aporetisch (kritisch-zweifelnd), befähigend und systemisch zu denken.
Woran könnten sich kommunale Akteurinnen und Akteure orientieren, um ihre Gemeinde resilient zu gestalten?
Kommunale Kapitalsorten
Eine Kommune kann sich an sieben Kapitalsorten orientieren, um ihr Gemeinwesen zu gestalten: Human-, Sozial- und Finanzkapital, politisches, natürliches, gebautes und kulturelles Kapital

Kommunale Kapitalsorten
Selten hat eine Kommune in allen Kapitalsorten nur Schwächen. Die allermeisten sind schwach in einigen, aber stark in anderen Kapitalsorten. Im analytischen Vorgehen des „Politik-Zyklus“ gilt es die Schwächen und Stärken in jeder Kapitalsorte zu detektieren. Dazu eignen sich partizipative Formate, an denen sich kommunale Entscheidungsträgerinnen und -träger als auch zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure, zum Beispiel aus den lokalen Vereinen, den Elternbeiräten, den Kirchen oder ortsansässigen Wirtschaftsbetrieben beteiligen. Je nach Befund der Problem-Analyse wird der Änderungsbedarf auf die Agenda gesetzt, werden Politiken entwickelt, mit denen die Stärken gestärkt und die Schwächen geschwächt werden.
Im policy-basierten Ansatz steht die Förderung der Bevölkerungsgesundheit quer zu den typischen Politikfeldern kommunaler Daseinsvorsorge. Dass Bürgerinnen und Bürger „gut und lange leben“, gesund aufwachsen und altern, resultiert aus Entscheidungen in Politikfeldern, die nicht direkt mit gesundheitlicher Versorgung, Prävention und Gesundheitsförderung zu tun haben. Wenn der motorisierte Individualverkehr Lärm erzeugt und Feinstaub emittiert, wenn Böden versiegelt und dadurch Starkregen nicht versickern kann, wenn schattenspendende Bäume und Sträucher fehlen, die bei Hitze Temperaturen senken, wenn Wasser nicht vorhanden ist, das verdunsten und dadurch kühlen kann, wenn pflege- oder hilfsbedürftige alte Menschen nicht angemessen betreut und versorgt werden können, weil unterstützende Einrichtungen und Angebote fehlen, wenn Bürgerinnen und Bürger am Ort keinen Arbeitsplatz finden und lange zum Arbeitsplatz pendeln müssen, wenn die Dorfgemeinschaft kein Gefühl von „wir“ und keine Solidarität zu Schwächeren entwickelt, wenn das Institutionenvertrauen bröckelt und Bürgerinnen und Bürger das Gefühl von Sicherheit verlieren, leidet das „gute Leben“. Dann werden Menschen krank an Leib und Seele
Noch ein Blick auf die gebaute Umwelt, die in vielen Städten und Dörfern bewegungshinderlich gestaltet ist. Kinder finden kaum mehr öffentliche Räume, um sich im Spiel auszutoben. Sportstätten sind außerhalb von Trainings- und Wettkampfzeiten gesperrt (siehe Abbildung 3). Der Autoverkehr genießt Vorrang vor dem Zufußgehen und dem Radfahren. Straßen und Wege sind für Fußgänger und Radfahrer unzulänglich verbunden, führen an unattraktiven Orten vorbei und die immer gleichen Fassaden in städtischen Zentren bieten nichts als architektonisches Grauen und Langeweile.

Gesperrte Anlage – wohin aber mit dem Ball?
Attraktive Bewegungsräume für die Alltagsmobilität und den kindlichen Bewegungsdrang zu schaffen, ist nur eine freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe der kommunalen Daseinsvorsorge, mit der viel für die Bevölkerungsgesundheit geleistet würde.
Wolfgang Schlicht war von 2001-2018 Inhaber des Lehrstuhls für Sport- und Gesundheitswissenschaften an der Universität Stuttgart. Seit seiner Emeritierung leitet er das unabhängige Beratungsunternehmen „Evident – Research“.
¹ https://diabsurv.rki.de/Webs/Diabsurv/DE/diabetes-in-deutschland/2-111_12_Praevalenz_bekannter_und_unerkannter_Diabetes.html; letztmalig zugegriffen, Dezember 2024.
² https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/Focus/JHealthMonit_2024_04_Gesundheitszustand_EHIS.html; letztmalig zugegriffen, Dezember 2024.