Interview mit Helmar Gröbel zur Situation des deutschen Eissschnellaufs

„Das einzig Gemeinsame war die deutsche Sprache“

Helmar Gröbel hat den Trainerschein aus zwei Systemen und bedauert den Niedergang des deutschen Eisschnelllaufs. Dabei gibt es genügend Hallen.

Eisschnelllaufen war für Deutsche ein olympischer Medaillen-Garant. Helmar Gröbel erlebte diese Zeit als Verbands- und Bundestrainer in der DDR sowie im vereinten Land. Von Podestplätzen waren Athleten der deutschen Eisschnelllauf- und Shortrack-Gemeinschaft bei den Winterspielen in Peking weit entfernt. Im Interview mit der Sächsischen Zeitung erzählt der 70-Jährige, der Trainerdiplome im Ost- und West-System erwarb, wie es dazu kommen konnte, was ihn nach der Wende wunderte und warum ein DDR-Rennanzug auf den Kili soll.

Herr Gröbel, was war das für ein Auftritt deutscher Eisschnellläufer in Peking?

Ein enttäuschender, der nicht verwundert. Das waren in Peking die dritten Winterspiele in Folge ohne Olympiamedaille. Platz sieben sichert Patrick Beckert als einzigem die Optimal-Förderung. Für Förderplätze sind Medaillen oder Ränge unter den besten acht nötig. Ich bin gespannt, ob der DOSB dieses Förderprinzip beibehält. Dagegen gingen neun der zwölf deutschen Olympiasiege auf das Konto eines Verbandes, von Bob-, Schlitten- und Skeleton-Sportlern.

Die hätten alleine Rang zwei in der Medaillenwertung belegt.

Erfolge im Eiskanal überdecken einen Niedergang im deutschen Wintersport. Aber künftig sollten auch andere Verbände weiter gefördert werden. Das wäre wichtig für die Gesamtwicklung des deutschen Sports. Normalerweise müsste Eisschnelllauf in die letzte Förderstufe fallen. Hoffentlich differenzieren die Verantwortlichen.

Wie blicken Sie auf die Leistungssportreform?

Darüber wurde jahrelang gestritten. Was danach herauskam wirkt kompliziert und endet in einer Quotenzahl. Nach der erfolgt die Einstufung der Verbände. Eine echte Reform müsste viel tiefer gehen.

Was ist falsch gelaufen im Eisschnelllaufen?

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es beginnt beim Personal. Der erfolgreiche Trainerstamm ist weg. Die großen Trainingsgruppen in den Leistungszentren, wo es Reibungsflächen für Athleten gab, existieren nicht mehr in Berlin, Erfurt, Chemnitz, Dresden. Zwar öffnete sich der Verband endlich für Inline-Skating. Doch alleine damit lässt sich die Basis nicht erweitern. Es müssten neue Trainer qualifiziert, eine neue Kaderpyramide aufgebaut werden. Es fehlt an allem.

Außer an Traditionen.

Was bitter ist. Die Traditionen sind weggebröckelt. Claudia Pechstein ist die Letzte aus der großen Zeit. Die Tragik in Peking war, dass dabei nicht die Leistung im Mittelpunkt stand, sondern vor allem über ihr Alter gesprochen wurde – und es fiel kaum ein Wort zum Nachwuchs.

Sagt das nicht alles über den Verband, wenn eine 50-Jährige die Gallionsfigur unter den Aktiven ist?

Das ist traurig. Sie hat mich immer wieder überrascht. Aber dem Alter läuft niemand ewig davon. Ich staune, was sie mit 50 noch auf die Bahn bringt. Mir war klar, dass Claudia Pechstein auf Einzelstrecken nicht mehr unter die besten zehn laufen kann. Aber dass sie abgeschlagen Letzte wird, ihr Maßstab „Teilnahme“ lautet, hat mich enttäuscht. Im Massenstart gelang mit Routine Rang neun, ein Achtungserfolg.

Wie erklären Sie sich, dass es nicht aufwärts geht?

Die Verbands-Führung wechselte mehrmals, es gab Probleme. Nun ist Matthias Große Chef, der Lebensgefährte von Claudia Pechstein. Ich fand das erst mal nicht schlecht. Ob er es schafft, eine neue Basis zu organisieren, Leute zu qualifizieren und zu motivieren, das kann ich nicht beurteilen. Die Besten müssten konzentriert werden. Wir haben gute Bedingungen mit drei Eisschnelllauf-Hallen in Deutschland, die Voraussetzungen sind da, dazu die zentrale Diagnostik in Berlin mit einer Datenbank von über 40 Jahren in der Test-, Wettkampf- und Trainingsleistung internationaler Spitzenathleten erfasst wurden und von denen Prognosen und damit auch der Anspruch kommender Test- und Trainingsergebnisse abgeleitet werden können. Das ist ein „praxisnaher sportwissenschaftlicher Schatz“, um den uns jeder Sportverband beneiden würde. Aber es müsste neuer Schwung rein.

Und andere Ansprüche?

Sicher, Claudia Pechstein steht bei den Medien noch ganz oben. Aber es sind andere Maßstäbe nötig – Weltspitze. Wir stehen inzwischen schlechter da als das BRD-Niveau vor der Vereinigung war. Das und die DDR-Methodik sind weg. Wenn alle an einem Strang ziehen, wenn die Systematik stimmt, dann ist viel möglich. Die DDR hat es gezeigt, als Eishockey auf Sparflamme gesetzt wurde. Da machten Ex-Eishockey-Experten ab Mitte der 1970-er Jahre wie Rainer Mund, Ernst Luding und Joachim Franke den Eisschnelllauf durch konzentrierte, intensive Arbeit stark. Sie legten Grundlagen für kommende Erfolge, gaben Ihre Erfahrungen weiter. In nur wenigen Jahren wurden 1975 mit Karin Kessow der WM-Titel im Mehrkampf und mit Heike Lange der 2.Platz bei den Sprint-WM erzielt. Die nachfolgende Trainergeneration, welche vorwiegend aus der Leichtathletik kam und dort Ihre trainingsmethodische Ausbildung erfuhren, wie in Erfurt Gabi Fuß mit Gunda Niemann-Stirnemann, Heike Warnicke, Constanze Moser-Scandolo – oder Stephan Gneupel mit Sabine Völker, Franziska Schenk, Daniela Anschütz. Oder wie in Berlin Thomas Schubert mit Jaqueline Börner, Monique Garbrecht und auch der Chemnitzer Klaus Ebert nahmen sich diesem methodischen Aufbau an, entwickelten ihn weiter und konnten auf nahezu allen Distanzen Spitzenleistungen und Erfolge bei Olympischen Spielen, WM und EM erzielen.

Müsste eine völlig neue Basis geschaffen werden?

Das ist schwer. In den nächsten vier Jahren müsste mehr passieren, als möglich ist. In einigen Disziplinen nahmen wir in Peking gar nicht teil. Das zeigt die großen Lücken. Ich sehe keine Entwicklung seit 2018, die Hoffnung wecken könnte. Deshalb glaube ich an keine Eisschnelllauf-Medaille bei den Spielen in Cortina 2026. Es müssten Talente gefunden werden, die hohe Ansprüche an sich stellen. Und ich frage mich, wie es neben den Förderleistungen mit Sponsoren weiter geht? Denn ohne Erfolge keine TV-Präsenz, damit keine Werbe-Chancen. Es wird immer schwieriger, aus dem tiefen Tal herauszukommen.

Wie oft waren Sie bei Winterspielen?

Zwei Mal – 1992 in Albertville und 1994 in Lillehammer. Ich wurde 1986 zum Verbandstrainer der DDR-Männer berufen. Nachdem die Frauen zur Weltspitze geführt wurden, sollte nun auch der Männerbereich mit einer personellen Verstärkung und einer wirksameren Kooperation von Trainingspraxis, Trainingswissenschaft und Forschung ebenfalls in die Weltspitze gelangen. Das war eine echte Herausforderung für mich, da ich einerseits erfahrene langjährig tätige Trainer und andererseits junge – aus dem Nachwuchs kommende Trainer – in einem „Trainerboot“ hatte. Ich kam aus der Sportmethodik, aus der Wissenschaft und hatte gemeinsam mit den Verbänden Rahmentrainingspläne erarbeitet. 1988 gehörte ich nicht zur Olympiamannschaft in Calgary, als Uwe-Jens Mey und André Hoffmann die 500m und 1500m gewannen. 1992 und 1994 durfte ich als Bundestrainer zu den Winterspielen, danach war ich Bundes-Diagnosetrainer, 1998 wurde mein Vertrag nicht verlängert.

Sie erlebten die Vereinigung der beiden Verbände. Wie verlief dieser Prozess?

Es war ein Herantasten zweier völlig unterschiedlicher Sportsysteme. Das einzig gemeinsame war die deutsche Sprache. Sie hatten in ihrer Struktur für vieles und viele aus dem Osten keine Verwendung, das war tragisch. Ich hatte Glück mit meinem Alter. Wir wollten im Osten die leistungsstärksten Trainingsgruppen mit ihren Trainern erhalten. Das passte schon nicht in die West-Struktur, wo Nachwuchssport ja Ländersache ist. Sie hatten wenig Kenntnisse über die Wirkungsweise und Zusammenhänge unsere Strukturen.

Welche Veränderungen registrierten Sie bei den Athleten?

Ich spürte es an Kleinigkeiten bei einem Weltcup. Unsere Sportler waren diszipliniert, kamen pünktlich zu den Mahlzeiten in Zivilsachen, es gab den gemeinsamen Trainingsbeginn. Wir hatten klare Regeln. Bei den West-Athleten war das so nicht üblich. Unsere Sportler siezten die Trainer, das war eine Frage des Respekts. Die Westdeutschen duzten sofort die Osttrainer. 1992 reisten beim ersten Höhen-Lehrgang in der Schweiz dann auch Ostsportler mit Mercedes oder Audi von ihren neuen Sponsoren an – jeder kam alleine. Das hätte unseren Etat gesprengt, regelte sich schnell intern. So änderte sich auch der Sport-Alltag schnell auf Westniveau.

Warum haben Sie nach dem Sportstudium in Leipzig noch den Trainerschein in Köln gemacht?

Weil es eine Quotenreglung für Verbände gab, ich gefragt wurde und mir sagte: Wer weiß, wofür das gut ist. Beim kombinierten Direkt- und Fernstudium an der Trainerakademie in Köln waren wir die Exoten, die ersten aus der DDR. „Was wollt ihr hier?“, wurden wir gefragt. „Wir lesen doch Eure Bücher aus Leipzig.“

Wie fiel Ihr Vergleich zwischen Köln und der Leipziger Hochschule für Körperkultur aus?

Grundsätzlich ist das für den deutschen Sport eine Einrichtung mit einem wichtigen Stellenwert für die Aus – und Weiterbildung für die Trainer aus und in der Praxis. Daran sollte festgehalten werden. Ich wurde im Rahmen der Exmatrikulationsveranstaltung gebeten, an der Kölner Trainerakademie die Abschlussrede zu halten. Für einen diplomatischen Vergleich grübelte ich lange und sagte: „Als Absolvent der DHfK in Leipzig habe ich gespürt, dass der trainingsmethodische Teil hohen wissenschaftlichen und sportpraktischen Ansprüchen gerecht wird. In Köln hat dann der pädagogische Teil einen großen Schwerpunkt eingenommen.“ Ich wollte „gut“ oder „schlecht“ vermeiden.

Was fehlte Ihnen im West-Sport-System?

Ich vermisse die Komplexität und Methodik eines langfristigen Trainings- und Leistungsaufbau – vom Nachwuchs bis zur Spitze. Plötzlich gab es auch keinen Erfahrungsaustausch mehr, keine wissenschaftlichen Seminare, in denen Programme und Trainingsergebnisse ausgetauscht und offengelegt wurden. Ich vermisste den interdisziplinären Austausch, den es in der DDR innerhalb der Sportartengruppe, wie zum Beispiel zwischen Rudern, Skiläufern, Eisschnelllauf und anderen gab. Der verschwand von heute auf morgen. Damit war jeder alleine. Zum Glück gab es noch Trainer, die vom alten Kenntnisstand lebten. Dieses Potenzial ist wohl nun aufgebraucht. Aus meiner Sicht gibt es einen gravierenden Unterschied im Prinzip der Förderung. Grundsätzlich gibt es in beiden Sportsystemen eine Förderung – und das ist gut so. In der BRD wird man gefördert nachdem man die Leistung erreicht hat. Der davon abgeleitete Kaderstatus ist Voraussetzung für die monatliche Förderung durch die Stiftung der Deutschen Sporthilfe und hat Einfluss auf die Höhe der Unterstützung für die zum Teil sehr umfangreichen Lehrgangmaßnahmen der Sportverbände. In der DDR wurde man gefördert um Leistung zu erreichen! Junge talentierte Sportler trainierten in den Lehrgängen gemeinsam mit den Spitzenathleten. So bekamen diese einen Vorschuss für Ihre sportliche Entwicklung. Das setzte eine verantwortungsvolle Führung durch den DOSB und des Verbandes voraus. Führung bedeutet für mich eine bewusste Einflussnahme auf die sportliche Leistungsentwicklung. Aus meiner Sicht wird der Sport in der Bundesrepublik verwaltet. Verwalten und Führen macht den Unterschied beider Sportsysteme aus.

Aber gab es nicht auch Kritik am DDR-System?

Es wäre alles Zwang gewesen, hörte ich seitens der „westdeutschen Funktionäre“. Ich erinnere mich genau, wie wir nach der Wende – 1990 – mit den Worten begrüßt wurden: „…herzlich willkommen in der Freiheit“, „…nun könnt ihr selbstbestimmt trainieren…“, „… und die Medaillen – Hascherei ist vorbei…“ Keiner unserer Sportler wechselte „die Fronten“. Jeder wusste, dass der Trainer, das methodische Konzept, die Trainingsgruppe und das enge Umfeld Ihm seinen Erfolg sicherte. In erster Linie waren es die Sportler – und nicht die Trainer – welche mit Unverständnis die neue „Strategie“ für den bundesdeutschen Spitzensport vernahmen. Ich erinnere mich an die Eisschnelllauf-WM 1983 in Karl-Marx-Stadt, als Andrea Ehrig vor Karin Enke gewann. Da drehten die beiden Dresdnerinnen vor der Siegerehrung mit den anderen DDR-Läuferinnen weitere Runden. Da staunte die Gegnerschaft, wie intensiv sie den Wettkampf nachbereiteten. Schade, dass davon so wenig geblieben ist.

Wie haben sie die Winterspiele in Peking erlebt?

Vor dem Fernseher. Sportlich waren es tolle Spiele, ich hörte von Sportlern viel Lob. Genervt war ich von den massiven politischen Kommentaren. Uns wurde vorgeworfen, dass in der DDR der Sport politisiert wird. Und was passiert jetzt? Ich will nicht, dass Negatives unter den Tisch gekehrt wird, aber es sollte fair zugehen und maßvoll. Den Organisatoren der Peking-Spiele – unter pandemischen Bedingungen so durchzuführen – gilt meine Anerkennung. Und uns wurde Medaillen-Kult vorgeworfen. Aber was ist das heute? Gold und Länderwertung sind doch ganz wichtig. Ich weiß, wie schwer sich viele nach der Wende getan haben, von Leistungszielen zu sprechen, als wäre das zu viel Druck und was Schlimmes. Aber so ist nun mal Leistungssport, zu dem niemand gezwungen ist. Fördern und fordern! Werte und Wertvolles erhalten und zielorientiert trainieren sind gesellschaftsunabhängige methodische Führungsprinzipien.

Haben Sie noch Kontakt zu den einstigen Kollegen und Athleten?

Ja. Am Wochenende (12./13.03.2022) war ich mit dem Dresdner Rainer Mund, der mal als erfolgreichster Frauen-Trainer der Eisschnelllauf-Welt galt und keinen Platz im vereinten deutschen Eisschnelllaufen fand, beim Weltcupfinale in Heerenveen. Da trafen wir viele Bekannte, Trainer, Athleten. Und wir erinnerten uns gern an alte Geschichten. Aus dieser Zeit habe ich noch einen DDR-Rennanzug, den letzten, den es gab.

Was machen Sie damit?

Der reist mit mir um die Welt. Ich habe ihn an 65 besonderen Orten getragen und dort Fotos machen lassen. 2002 begann es im Hain von Olympia, wo das olympische Feuer entzündet wird. Im Januar will ich ihn auf dem Kilimanjaro tragen, auch für diese Tour halte ich mich fit.

 

Das Interview führte Jochen Mayer (freier Journalist, bis 2018 Leiter der Sportredaktion der Sächsischen Zeitung).

Helmar Gröbel, Jahrgang 1951, studierte an der DHfK Leipzig und an der Trainerakademie in Köln. Als Diplommsportlehrer und Diplomtrainer war er Verbandstrainer Eisschnellauf Männer des DELV der DDR und Bundestrainer Eisschnelllauf der DESG der BRD. Seit 2009 ist er im Bereich der Betreuung von Rettungskräften selbstständig tätig.