Im folgenden Gastbeitrag wird ein pädagogisches Problem behandelt, das vermutlich nicht nur mir bislang nicht bekannt gewesen ist, das jedoch unsere allerhöchste Aufmerksamkeit verdient. Es wäre wünschenswert, wenn die Leser dieses Beitrages auch ihre Freunde und Bekannten auf den Beitrag aufmerksam machen, damit eine Bildungspolitik, die sich diesem Problem widmet, bei der Lösung dieses Problems eine möglichst große Unterstützung erhält. H.D.
von Birgid Oertel / Volker Istadt
Statt „Du gehörst zu uns“! waren und sind sie bis heute „Gefallene Mädchen“
„Das Schlimmste, das man der Wahrheit antun kann, ist, sie zu kennen und dennoch zu ignorieren.“ (Jacques Benigne Bossuet)
Sexualstraftäter bleiben 7 – 10 Jahre im Gefängnis – Opfer von sexuellem Missbrauch bleiben ihr Leben lang Gefangene ihrer Gefühle.
Bericht der Bundesministerin des Innern und für Heimat, Nancy Faeser, zum sexuellen Missbrauch:
Das Bundeskriminalamt (BKA) verzeichnet weiterhin einen Anstieg der Fallzahlen bei Sexual-delikten mit Kindern und Jugendlichen. Insbesondere in den Bereichen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und der Herstellung, Verbreitung, des Erwerbs und Besitzes kinder- und jugendpornografischer Inhalte sind die Fallzahlen deutlich angestiegen. Dies geht aus dem am 8. Juli 2024 vorgestellten Bundeslagebild 2023 hervor.[1]
Der tägliche sexuelle Missbrauch
Noch einmal sind die Missbrauchsfälle angestiegen – 16.375 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern – 5,5 Prozent mehr als im Jahr 2022. Diese Zahlen deuten auf „ein viel gefragtes Geschäft“ hin. – Auffällig ist, dass die Tatverdächtigen in vielen Fällen selbst minderjährig sind (bei kinderpornografischen Inhalten: 38 Prozent; bei jugendpornografischen Inhalten: 49,5 Prozent); der überwiegende Teil ist weiblich. Missbrauch in kriminellen Vereinigungen wie Gladbeck, Lügde, in Kirchen, Schulen, beim Sport, in der eigenen Familie, etc. ist seit Jahren fester Bestandteil der Berichterstattung in den Medien, ebenso die Präventionsprogramme gegen sexuelle Übergriffe. Missbrauchsbeauftragte auf Bundes- und Landesebene geben sich mittlerweile für Interviews die Klinken in die Hand, tauschen sich über Programme für Einrichtungen und für die Stärkung (Prävention) von Kindern aus. Auch in dem aktuell vorliegenden Bericht der Innenministerin geht es um den Schutz der Kinder. Das ist gut so!
Kinder und Jugendliche können überall zu Opfern von Missbrauch werden: in der Familie, in der Schule, beim Sport, in Vereinen. Fast täglich erscheinen Berichte in den Medien. Besondere mediale Beachtung finden – neben den „Fällen“ in kirchlichen Einrichtungen und Schulen – dabei die Missbrauchsfälle im Sport, die in den letzten Jahren nicht nur im eher breitensportlich ausgerichteten Vereinssport bekannt wurden, sondern immer wieder auch im Hochleistungssport aufgedeckt wurden und werden:
- So hat der Sportarzt Larry Nassar in seiner mehr als zwei Jahrzehnte währenden Tätigkeit bei USA Gymnastics und an der Michigan State University mehr als 265 Frauen und Mädchen sexuell missbraucht. Unter seinen Opfern waren auch mehrere Olympia-Teilnehmerinnen, unter ihnen die Goldmedaillen-Gewinnerinnen Simone Biles, Aly Raisman und McKayla Maroney.[2]
- Der viermalige Europameister und Olympia-Silbermedaillengewinner von 1996, Jan Hempel, hatte in einer ARD-Doku am 20.8.2022 über sexuellen Missbrauch durch seinen damaligen Trainer – unter anderem während der Olympischen Spiele 1992 in Barcelona – gesprochen. Die Verbandsspitze hatte Hempel nach eigener Darstellung bereits 1997 von den Vorgängen unterrichtet.
Am 23.10. 2023 berichtet schließlich (u.a.) „zdf-heute“[3] über eine außergerichtliche Einigung zwischen den Anwälten des Athleten und dem Deutschen Schwimmverband über die Höhe einer finanziellen „Entschädigung“; Hempels damaliger Trainer war inzwischen verstorben.
- Noch immer nicht abgeschlossen ist ein Verfahren gegen einen ehemaligen Fußball-Jugendtrainer aus Hattersheim (in der Nähe von Frankfurt a.M.), der wegen Körperverletzung, schwerer Vergewaltigung und des Anfertigens kinder- und jugendpornografischen „Materials“ angeklagt ist, und vom Landgericht Frankfurt a.M. zu einer Gesamtstrafe von 12 Jahren und drei Monaten mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteil wurde. Trotz des Geständnisses des Täters gehen dessen Anwälte nun vor dem Bundesgerichtshof gegen das Urteil vor, um die Sicherungsverwahrung abzuwenden.[4]
Insbesondere die bekanntgewordenen Missbrauchsfälle im Hochleistungssport wurden und werden – mitunter auch in „reißerischer“ Aufmachung – durch die Medien öffentlich gemacht – es handelt sich schließlich um „Personen des öffentlichen Lebens“. Andererseits sind es aber gerade auch die Medien selbst, die durch voyeuristische Fotos und Kameraeinstellungen im Rahmen ihrer Sportberichterstattung immer wieder sexistische Aufnahmen von Sportlerinnen veröffentlichen und damit gegen Persönlichkeitsrechte ebenso verstoßen wie gegen Ethik und Moral! Einen Großteil „Mit-Schuld“ daran haben sicherlich auch die Verbände, die in ihren Wettkampfausschreibungen entsprechende „Regelungen“ getroffen haben/treffen, die zu immer „knapper“ werdender Wettkampfkleidung z.B. bei Beach-Volleyballspielerinnen, Leichtathletinnen, RSG-Sportlerinnen und Turnerinnen führten. Erste „Reaktionen“ darauf zeigen inzwischen einige Sportlerinnen durch das Tragen von langen Hosen im Training und auch beim Wettkampf.
Infolge der gehäuften Fälle im Sport haben sich der DOSB und die Deutsche Sportjugend im Zusammenwirken mit politischen Entscheidungsträgern inzwischen der Thematik „Schutz vor Gewalt im Sport“ angenommen und sowohl Arbeitshilfen als auch Materialien für Verbände und Vereine erarbeitet und „ins Netz“ gestellt:
- „Safe Sport Code“ – verabschiedet vom Präsidium des DOSB am 23. Oktober 2024 und auf der 21. Mitgliederversammlung des DOSB am 07. Dezember 2024 in Saarbrücken beschlossen [5]
- Handlungsleitfaden „Safe Sport“ [6]
- Leitlinien zur Aufarbeitung [7]
- FAQS zum „Safe Sport Code“ [8]
- Weitere Informationen & Materialien zum Schutz vor Gewalt im Sport der Deutschen Sportjugend [9] https://www.dosb.de/sonderseiten/news/news-detail/news/faqs-zum-safe-sport-code
All diese Maßnahmen berücksichtigen aber ausschließlich den Bereich der „Prävention“.
Über die „Folgen“ des sexuellen Missbrauchs für davon in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen Betroffenen und Hilfen oder existierende Angebote zur Überwindung bzw. Linderung der traumatischen „Erlebnisse“ ist nicht viel zu lesen.
Von erfahrenen Ärzten hört man, dass selbst erwachsene ehemalige Missbrauchsopfer keine „Nähe“ mehr ertragen können. Oft benötigen sie z. B. vor notwendigen Blutkontrollen Beruhigungsmittel. Längere Touren in vollen Bussen sind für sie wegen der Nähe zu anderen Personen Torturen. Und immer wieder fallen sie in tiefe Depressionen. Sie meiden die Nähe zu anderen Menschen, bleiben nach den schrecklichen Erlebnissen der Schule fern. Die meisten Mädchen und Jungen, die sexuell missbraucht worden sind, fühlen sich schuldig und wertlos. Ein „Abstreifen“ des Erlebten ist schwer. Umso schwerer ist es zu ertragen, dass es keine Konzepte zu geben scheint, die von Missbrauch betroffene Kinder und Jugendliche bei ihrer Rückkehr ins gesellschaftliche Leben, insbesondere in die Schule, unterstützen.
Allein – trotz der vielen „Beauftragten“!
Es ist gut, dass die Bundesinnenministerin dem sexuellen Missbrauch den Kampf und den Tätern hohe Strafen angesagt hat – jeden Tag 54 Fälle – die Täter in Haft … und die Opfer? 54 pro Tag, die sich wieder orientieren müssen, die sich verhalten müssen, als sei alles in Ordnung. Ein „REHA-Konzept“ für die Rückkehr von Missbrauchsopfern – weit überwiegend Kinder und Jugendliche – in den „Alltag“, in die Schule, in den Sport steht nach wie vor aus! Sie bleiben Opfer, erhalten so gut wie keine Fürsorge bzw. Unterstützung.
Im Internet findet man ihre „Geschichten“, aber so gut wie nichts über deren „Rehabilitation“ [10]. Finanzielle Entschädigung ist meist die einzige „Antwort“, die nach einem Missbrauch – sei es in Kirche, Schule, Sport oder innerhalb der eigenen Familie – bleibt. Geld allein hat allerdings keine „Heilwirkung“! Das haben die Missbrauchsfälle an der privaten „Odenwaldschule“ in Ober-Hambach beispielhaft gezeigt. Welch unermesslichem Leid nahezu 1000 Kinder und Jugendliche dort durch Systemversagen und Wegschauen der Verantwortlichen über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren ausgesetzt waren, ist in dem Beitrag von Pitt von Bebenburg „Seelenmord – Gedenken und Aufarbeitung“ [11] und in einem Beitrag der ARD: „Geschlossene Gesellschaft“ [12] dokumentiert. Die dort belegten Geschehnisse sind kaum zu ertragen.
Am früheren Ort der Odenwaldschule wurde nun am 18.11.2024 zum Gedenken an die vielen Opfer ein „Mahnmal“ für Schülerinnen und Schüler enthüllt, die dort Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Das „Mahnmal“ entstand nach einem Entwurf des Künstlers und früheren Schülers Adrian Koerfer.
Pitt von Bebenburg in seinem Beitrag: „Ihre Menschenwürde wurde mit Füßen getreten. Einige von ihnen begingen noch während ihrer Schulzeit Suizid. Andere Opfer leben bis heute in höchst prekären Verhältnissen. Viele von ihnen hatten nie die Chance ihren Alltag positiv zu gestalten. Kindesmissbrauch ist Seelenmord.“
Rückkehr nach einem Missbrauch – Neuanfang oder weitere „Verfolgung“?
Nachfolgend zeigen die Verfasser dieses Beitrags am Beispiel eines konkreten „Falles“, wie selbst staatliche Institutionen hilflos, empathielos und offensichtlich auch durch die Geschehnisse überfordert nach „Lösungen“ suchen – und welche „Rolle“ Außenstehende übernommen haben:
In „unserem Fall“ geht es um zwei Kinder (Zwillingsmädchen), die vom eigenen Vater über Jahre seit ihrem 3. Lebensjahr missbraucht wurden. Die Scham über das Geschehene ist sowohl bei den Opfern als auch bei den Familien groß und anhaltend. Die Zeit, die die Täter in Haft verbringen, ist dagegen schneller vorbei als die Zeit, die die Opfer mit deren Taten mental verbringen. Sie leiden leise in ihrer Scham und mit ihren inneren Verletzungen.
Ist der Täter gefasst und in Haft, kommen die Opfer (wie in „unserem“ Fall) ins Heim, in ihre Familie zurück und möglicherweise in eine Sonderschule. In früheren Jahrhunderten und bis über die Mitte des 20. hinaus existierten sogar Heime und Anstalten für „gefallene Mädchen“ – „Sonderschule“ war eine der häufigsten Antworten.
In der Regel bleibt das Geschehene „ungeschehen“ bzw. verschwindet im Schweigen. Es gibt kein REHA-Konzept wie nach einer Operation am Knie oder an der Hüfte. Ihre Traumatisierung wird in der Regel erkannt, aber in der Schule lässt man die Erlebnisse der Kinder nicht an sich heran, „duckt“ man sich weg, hat Angst, dass die „Geschehnisse“ die Runde bei anderen Kindern machen könnten, die man vor derartigen „Erzählungen“ und Berichten offenbar „schützen“ will. Ist eine Sonderschule in der Nähe, verschwinden die Kinder dorthin, notfalls – wie bei den von uns begleiteten Kindern – ohne jegliches sonderpädagogische Gutachten.
„Du gehörst zu uns – so wie du bist“ – so sollten Kinder unmittelbar nach Bekanntwerden ihres Schicksalsschlags mit Blick auf ihre „Rehabilitation“ in der Normalität empfangen werden. Eingliedernde, therapeutische und unterstützende Maßnahmen in eine Gemeinschaft müssen sofort erfolgen. Zuständige Stellen müssen in Zusammenarbeit Sorge für die oft jungen Missbrauchsopfer tragen, so dass sie nicht wie unsere Zwillinge weitere Vertrauensverluste durch wechselnde Gemeinschaften erfahren. Vor allem Lernbegleiter müssen die Folgen von Missbrauch kennen, um den Opfern beim „Zurück ins Leben“ wieder einen Sinn bzw. Vertrauen zu geben.
In Niedersachsen gibt es eine Anlaufstelle für Opfer und Fragen sexuellen Missbrauchs und Diskriminierung in Schulen und Tageseinrichtungen für Kinder – das ist schon einmal ein Anfang.[13] In anderen Ländern sind als „Anlaufstellen“ (i.d.R.) „Bürgerbüros“ ausgewiesen, die allerdings als Anlaufstellen für „Antidiskriminierung“ eingerichtet sind.[14]
Unsere „Geschichte“ spielt in Hessen:
Für die missbrauchten Zwillinge hat es nach ihrer Entlassung aus dem Heim eine kurze Zeit der Normalität in der Gemeinschaft der für sie zuständigen Grundschule gegeben. Als die Geschichte des Missbrauchs dort ans Tageslicht kam, wurde ein „Runder Tisch“ – besetzt mit Vertretern aus Schule und Jugendhilfe – einberufen. Ergebnis der Beratung: Die Kinder werden – gegen den Willen der Mutter – in eine „Sonderschule mit dem Schwerpunkt sozial emotionale Entwicklung“, in der überwiegend Jungen mit herausforderndem Verhalten „beschult“ werden, eingewiesen. Dorthin wurden sie mit dem Bus gefahren und zu ihrem verlorenen Selbstwertgefühl addierte sich das Gefühl der Dummheit. Ihr Selbstwertgefühl wurde erneut beschädigt. Mit der Entscheidung „Sonderschule“ wurden sie von ihrem bisherigen „Dorfleben“ und ihrem Bruder getrennt, hatten dort keine Spielpartner*innen, hatten Ganztagsschule außerhalb der Gemeinschaft aller. Ihnen war bewusst, dass sie ab sofort (wieder) zu den „besonderen“ Kindern gehörten. Ihr Vater, der Täter, für 7 Jahre in der Haft, und auch sie wurden jeden Tag in eine geschlossene Bildungseinrichtung – weg von der Normalität – gefahren. Im Übrigen sind das die einzigen Einrichtungen, in die man auch gegen seinen Willen eingewiesen werden kann – oft ohne Möglichkeit der Rückkehr (s. Statistik der KMK). UN-Kinderrechte sowie die UN-Behindertenrechtskonvention haben anscheinend für misshandelte Kinder keine Geltung! Die Hessische Kinderschutzbeauftragte lobte sogar dieses Sonderschulsystem abseits der Gemeinschaften, als Errungenschaft gegenüber der bei ihr um Hilfe suchenden Mutter. Zu dem Zeitpunkt hatten die Kinder in diesem Abseits bereits einen schulischen Leistungsrückstand von zwei Jahren „erreicht“.
Uns, vom „elternbund hessen“, hatte die Mutter der zwei Mädchen 2021 angerufen und um Unterstützung beim Zurück ihrer Kinder ins Leben gebeten. Dieser Anruf der Mutter löste bei uns in unserer ehrenamtlichen Tätigkeit im „elternbund hessen e.V.“ erst einmal eine Odyssee von fast einem Jahr aus – auch drei Jahre nach Inhaftierung des „Täters“, ihres Vaters, kommen die Mädchen – wir nennen sie einmal „Hanna“ und „Karla“ – einfach nicht zu der Ruhe, die sie jetzt dringend benötigten.
Der Lernstand ihrer Kinder in der Sonderschule, so damals die Mutter, unterscheide sich massiv von dem der anderen Gleichaltrigen und sie würden mit dieser Entscheidung niemals mehr den Anschluss und eine Rückkehr an eine „normale“ Schule finden. Die von ihr beauftragte Anwältin habe keine Rückführung erreicht. Wir stellten nun auf Bitten der Mutter einen Antrag für die normal intelligenten Kinder zur „Rückschulung“ aus der „Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt sozial emotionale Entwicklung“ in ihre frühere Grundschule am Heimatort.
Diesem Wechsel wurde nach einer „Wartezeit“ und einer Vielzahl juristischer Auseinandersetzungen, Tests und Gesprächen mit der Schulverwaltung nach einem dreiviertel Jahr schließlich doch noch zugestimmt. Während dieser Zeit wurden wir als „Ehrenamtler“ mit immer neuen Forderungen seitens der Sonderschule und auch der Schulverwaltung konfrontiert bzw. beschäftigt. Niemals hätte die Mutter die Überwindung dieser undemokratischen Hürden zur Rückführung ihrer Kinder allein schaffen können.
Nach NEUN Monaten kamen die Kinder – mitten im Schuljahr – mit 10 Jahren in eine dritte Klasse einer ganz normalen Grundschule – ohne zusätzliche Ressource, ohne schulpsychologische Unterstützung, ohne Hilfeplan – ihre Ressourcen verblieben an der Sonderschule, ohne diese für ihre Rückführung zu nutzen.
Mit 10 Jahren waren die Mädchen größer als ihre Mitschüler*innen, was zu Mobbing führte und einem Bedarf an höheren Tischen. Die Frage danach bezeichnete die Bildungsverwaltung mit einem Anruf bei uns als Undankbarkeit. Uns blieb nur Fassungslosigkeit.
Zum Schulsport ist zu berichten: Die Mädchen haben an den Schwimmtagen gefehlt – allein schon der Gedanke an Nacktheit in Sammelumkleideräume war für sie unerträglich.
So war es auch im außerschulischen Sport: Obwohl sie gerne aktiv gewesen wären – Judosport hätten sie gerne zur Selbstverteidigung gelernt – aber in ihrem Ort gab es hierfür kein Angebot. So blieb für sie NICHTS!
Unser „Traum“ von einer Willkommenskultur für von Missbrauch betroffene Kinder wuchs.
Recht auf einen Platz in der Bildungsgemeinschaft der Verschiedenen
54 Opfer jeden Tag heißt nicht gleichzeitig 54 Täter. Meistens liegt die Opferzahl höher. Die Täter erhalten nach ihrem Prozess ihren Platz im geschlossenen Strafvollzug. Dass die Opfer einer Missbrauchstat ähnlich behandelt würden, nämlich mit einer Einweisung in eine geschlossene Bildungseinrichtung, hatten wir uns überhaupt nicht vorstellen können.
Die beiden Mädchen waren mit dieser Entscheidung sozial isoliert, vom normalen Leben abgeschnitten und ihrer Normalität erneut beraubt. Den Rest jeglichen Selbstbewusstseins hatten sie verloren. So wie die Bildungsverwaltung mit der Jugendhilfe die Segregation der Kinder entschieden hatte, hätte sie auch einen Fahrplan ins Zurück zur Normalität entwerfen können. Die Kinder hätten die drei Minuten entfernte Grundschule weiterhin mit ihren Nachbarskindern besuchen können, hätten nach dem Teilhabegesetz inklusive Unter-stützung erhalten und vor allem Zeit und Fürsorge, ihr Schicksal zu überwinden. Ihr Aus in einer besonderen Einrichtung in Kooperation mit einer Klinik hat diesen Mädchen einen weiteren Stempel der Wertlosigkeit aufgedrückt.
Sorge um die schulische Entwicklung
Wir hatten erwartet, dass auch die Bildungsverwaltung sich um die Kinder und deren Zukunft sorgt. Aber von dort kamen statt eines Eingliederungsplans nur Schweigen oder der Vorschlag die Zwillinge zu trennen: „Das mache man immer so“. Wir wurden mit dem Gefühl und letztlich der Erkenntnis zurückgelassen, dass es für Kinder mit einem derartigen Schicksal keinen „Fahrplan“ gibt. Auch ein Zurück aus einer Sonderschule steht erst gar nicht auf dem Plan der „Möglichkeiten“. Eine Statistik existiert nicht.
Im Oktober 2021 – fast 4 Monate nach unserer ersten Antragstellung – hatte es dann erstmalig ein Gespräch zur Beauftragung eines Rückführungsgutachtens gegeben. Bis Weihnachten sollte es fertig werden, so hieß es vom beauftragten Beratungs- und Förderzentrum (BFZ), damit die beiden Mädchen unmittelbar nach den Weihnachtsferien wechseln könnten. Drei weitere, für die heranwachsenden Kinder kostbare Monate, verstrichen in der isolierten Sonder-Schulsituation bis zur Fertigstellung des Gutachtens. Weitere verlorene Lernzeit außerhalb der Gemeinschaft! Jeden Tag mit dem Behindertenbus unterwegs in eine besondere Schule, die die Kinder immer weiter vom Ziel einer Rückkehr entfernte. Weiterer Verlust an Selbstbewusstsein der zwei Mädchen, die ohnehin vom Schicksal „geschlagen“ waren. Ende Januar 2022, ein dreiviertel Jahr nach Kontaktierung der Mutter, erfolgten endlich erste Gespräche für die beiden zu ihrem Zurück. Das beauftragte BFZ bestätigte in seinem Gutachten die bereits ein Jahr zuvor von der Klinik getroffene Feststellung, die Kinder benötigten keine weitere Unterstützung. Bereits zu diesem Zeitpunkt hätte die Sonderschule aktiv die Rückführung betreiben müssen. Aber: Es gibt kein Rückführungskonzept aus den so genannten „Förder“schulen.
Zur weiteren Geschichte „unserer“ Zwillinge:
Hanna und Karla sind mit durchschnittlichen Noten an eine Gesamtschule gewechselt. Es dauerte nicht lange bis sie auch dort gemobbt wurden. Nach Beschwerden der Mutter informierte die Schulleiterin die Mitschüler*innen über das schlimme Schicksal der beiden Mädchen. Das Mobben endete nicht wie von der Schulleiterin angenommen, sondern eskalierte sogar. Die Kinder verweigerten ab diesem Tag jeden weiteren Schulbesuch. Busfahrten waren wegen der Nähe der mitfahrenden Personen für die Kinder unerträglich. Eine Retraumatisierung war durch die Schulleiterin ausgelöst worden. Selbe Schulleiterin drohte der Mutter mit dem Jugendamt, dem Sorgerechtsentzug sowie der Polizei. Wir vom elternbund hessen begleiteten die Mutter erneut zum Jugendamt und vereinbarten dort einen weiteren Schulwechsel, den die bisherige Schulleiterin mit dem Zeugnisentzug zunächst verweigerte. Sie habe wegen der vielen Fehltage der Versetzung der Kinder nicht zustimmen können. Drei Tage vor Anfang des neuen Schuljahres konnte die Mutter die Versetzungszeugnisse schließlich doch noch bekommen, allerdings waren alle Fächer mit der Note ungenügend „bewertet“.
Die neue Schulleiterin hat die Mutter bzw. ihren Kindern Aufnahme signalisiert, ihnen Zuspruch gegeben, dass ein Neuanfang an ihrer Schule ermöglicht wird. Es flossen Tränen, aber Zweifel an einem Schulsystem, das Kindern in einem demokratischen Land ungestraft in der erlebten „Form“ begegnen darf, bleiben.
Soziale Isolation – Folge für die Opfer
Es wird viel über einen möglichen Missbrauch gesprochen. Kinder müssen stark gemacht werden. Über mögliche Täter wird spekuliert. An Eltern und Erzieher*innen wird appelliert. Das sind gute präventive Konzepte.
Auch Hessen hat ein Schutzkonzept zu sexuellem Missbrauch auf den Weg gebracht, ein Handlungskonzept im Sinne eines Leitfadens zur Rückführung von Opfern fehlt aber immer noch – mehr als verwunderlich nach den ungeheuerlichen Geschehnissen an der Odenwaldschule!
Die hier dargestellte Geschichte einer Mutter von zwei durch den eigenen Vater misshandelte Mädchen hat uns als im Ehrenamt Tätige erneut die Augen für Menschen geöffnet, die in unserer Demokratie keine Stimme haben und Hilfe „erbitten“ müssen. Oft sind ihre Eltern allein Erziehende und haben keine Möglichkeit, sich gegen Entscheidungen von Behörden zu wehren. Dass von Missbrauch Betroffene auch in Sonderschulen „verschwinden“ können, hat uns fassungslos gemacht. Die Bundesregierung hat die UN-Behindertenrechtskonvention vor 15 Jahren gezeichnet, aber die Umsetzung zeigt viele Lücken auf. Inklusive Bildung für Schulanfänger*innen ist schon schwer zu erreichen, aber die Rückkehr für in Sonderschulen Aufgenommene ist nahezu unmöglich. Ohne Rückkehrkonzept gibt es auch keine Handlungsvorgaben. Kinderrechte? UN-BRK? Ohne juristischen Beistand ist die Durchsetzung dieser RECHTE nahezu unmöglich!
Mitte Januar 2022 gab es eine Anfrage des Fernsehmagazins Monitor, ob uns im ebh aus Sonderschulen zurückgekehrte Kinder bekannt seien. Diese Anfrage konnten wir bejahen, aber niemand, der von Missbrauch betroffen ist, geht vor die Kamera, schreit auf und legt den Finger in offene Wunden. Mütter – wie die unserer Zwillinge – gehen aus Angst vor den Behörden und der Öffentlichkeit nicht an die Presse.
Als Bürger*innen und Begleiter*innen mussten wir uns über drei Jahre immer wieder selbst versichern, in einem demokratischen Land zu leben, das die Menschenrechte achtet und mit unseren Kindern fürsorglich umgeht. Alle unsere Kinder in ihrem Sosein müssen das Recht auf bestmögliche Förderung in einer allgemeinen Schule erhalten, insbesondere auch die vielen von Missbrauch Betroffenen Kinder und Jugendlichen (s. Bericht der Bundesministerin Nancy Faeser). Es kann nicht einzelnen überlassen werden, Unrecht zu benennen und aufzuschreien, wenn Kindern jegliche Chancen auf Rehabilitation genommen werden, wie bei „unseren“ Zwillingen. Ihr Schicksal wie das Tausender anderer in Schule, im Sport, in Kirche, Vereinen und Familien ist schlimm. Dieses Leiden verschlimmernd ist es jedoch, ihnen staatlicherseits die Chance zu nehmen, ihre traumatischen Erlebnisse zu überwinden, sie wenigstens zu lindern.
„Du gehörst zu uns“
heißt der Auftrag für uns alle, für alle Kinder und Jugendliche in und außerhalb von Schule.
Das Thema muss dringend zur Sensibilisierung der Schulen und der Öffentlichkeit auf die Tagesordnung der KMK gesetzt werden – und unter dem Aspekt „Rehabilitation“ zur Ergänzung des „Safe Sport Codes“ auch auf die Tagesordnung des DOSB!
Fußnoten:
- 1. Siehe: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/SexualdeliktezNvKindernuJugendlichen/2023/BLBSexualdelikte_2023_node.html
- 2. Siehe: https://www.zdf.de/nachrichten/sport/schwimmen-hempel-missbrauch-dsv-entschaedigung-100.html
- 3. https://www.zdf.de/nachrichten/sport/schwimmen-hempel-missbrauch-dsv-entschaedigung-100.html
- 4. https://www.tagesschau.de/inland/regional/hessen/hr-ex-jugendtrainer-wegen-vergewaltigung-verurteilt-100.html
- https://www.dosb.de/sonderseiten/news/news-detail/news/faqs-zum-safe-sport-code
und:
- 5.https://cdn.dosb.de/alter_Datenbestand/Bilder_Wurzelverzeichnis/Handlungsleitfaden_Safesport.pdf
- 6.https://cdn.dosb.de/user_upload/SafeSport/Safesport_-_Leitlinien_zur_Aufarbeitung_sexualisierte_Gewalt.pdf
- 7. https://www.dosb.de/sonderseiten/news/news-detail/news/faqs-zum-safe-sport-code
- 8. https://www.dsj.de/themen/kinder-und-jugendschutz/downloadbereich-arbeitshilfen-und-materialien
- 9. Unter Rehabilitation versteht man in der Medizin die Wiederherstellung der physischen und/oder der psychischen Fähigkeiten eines Patienten im Anschluss an eine Erkrankung, ein Trauma oder eine Operation. Als Sekundärziel soll eine Wiedereingliederung in das Sozial– und Arbeitsleben erreicht werden. (Siehe: https://flexikon.doccheck.com/de/Rehabilitation)
- 10. https://www.fr.de/panorama/seelenmord-der-missbrauchsskandal-an-der-ehemaligen- odenwaldschule- 93400577.html
- 11. https://www.zeroone.de/movies/geschlossene-gesellschaft/
- 12. https://www.mk.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/anlaufstelle-fuer-opfer-und-fragen-sexuellen-missbrauchs-122481.html
13. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/wir-beraten-sie/materialien-fuer- ratsuchende/hilfestellung_ausserhalb_des_agg/regelungen_bl/beratungsstellen_bl.pdf?__blob=publicationFile&
Birgid Oertel, Min. R.‘tin a. D. / Volker Igstadt, Präsident des VG Kassel a. D.
– „elternbund hessen e.V.“ – / Co-Autor: Klaus Paul, Ltd. Min.Rat a.D.
Dezember 2024