Zur Erinnerung an Ommo Grupe, einem bekennenden Olympier

Ommo Grupe

Schiller – ein bekennender „Olympier“?

2005 war das Jahr der Erinnerung an den 200. Todestag Friedrich von Schillers. Bücher erschienen dazu, es gab kaum eine Zeitschrift oder Zeitung, die sich nicht mit diesem Ereignis beschäftigte, kein Fernsehsender, der nicht darauf einging. Von Vielen war dabei die Rede, oft auch von seiner Griechenbegeisterung, die er mit Hölderlin teilte, nur nicht davon, dass es Gründe gibt, Schiller in gewissem Sinne einen „Olympier“ zu nennen, der die antiken Olympischen Spiele in seine Liebe zur klassischen griechischen Kultur einschloss.

Tatsächlich hatte Schiller bereits eine Vorstellung von den Olympischen Spielen. Ja, man könnte vielleicht sogar so weit gehen zu sagen, dass er zu den Wegbereitern der Spiele und der Olympischen Idee – jedenfalls in Europa – gehört. Mit seinem Werk trug er – wie auch Hölderlin – dazu bei, die große Griechenbegeisterung im 19. Jahrhundert in Deutschland und Europa anzufachen; und mit seinem Verweis auf die klassischen Olympischen Spiele half er mit, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Coubertins Bemühungen um die Wiederbelebung der Olympischen Spiele auf einen bereits fruchtbar gemachten Boden fallen konnten.

Obwohl Schiller in Marbach am Neckar geboren wurde, rechnen die Bürger Stuttgarts ihn meistens zu den ihrigen, obgleich er in seinem späteren Leben Stuttgart nicht in guter Erinnerung gehabt haben dürfte. Wir können aber annehmen, dass er, würde er heute noch leben, souverän genug wäre, sich über seine wenig erfreulichen Stuttgarter Erfahrungen hinweg zu setzen und dass er sogar bereit gewesen wäre, als Fürsprecher und vielleicht sogar als Botschafter der seinerzeitigen Stuttgarter Olympia – Bewerbung zu wirken. Er liebte nämlich nicht nur die alten Griechen, denen wir die Olympischen Spiele letztendlich verdanken; er war auch schon ein bekennender Olympia – Fan. Als solcher outete er sich in seiner Schrift: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ in einer Reihe von Briefen. Diese Schrift wurde vor über 200 Jahren und 100 Jahre vor den ersten Olympischen Spielen in Athen 1896 im Jahr 1795 veröffentlicht. Es ging in ihr allerdings nicht primär um den Olympismus, sondern um Wesen und Sinn des Spiels. Zwar erwähnt Schiller dabei auch schon die Leibesübungen und die Gymnastik – den Sport gab es ja noch nicht; dies tat er aber nur, um sie vom „richtigen“ Spiel auszuschließen. Sie sind für ihn kein „richtiges“ Spiel; sie sind körperliches („physisches“) Spiel und damit bestenfalls eine Vorstufe zu dem „richtigen“.

Zu diesem „richtigen“ Spiel findet der Mensch, in dem er den in ihm wirkenden Stofftrieb mit dem auch in ihm wirkenden Formtrieb zu einem „Dritten“ vereint. Dieses „Dritte“ ist der besagte Spieltrieb. In ihm versöhnt der Mensch seine Vernunft mit seinen Sinnen und seine Empfindungen mit seinem Verstand, er findet damit – ohne in seinem Handeln einem Mangel oder einem Zwang Folgen zu müssen – jenseits der Grenzenlosigkeit der Freiheit zur Erfüllung seiner ganzheitlichen Bestimmung.

Auch wenn man – so knapp dargestellt – nicht gleich versteht, was Schiller meint, es ist genau diese (etwas komplizierte) Vorstellung vom Spiel, von der er glaubt, dass sie vor 2000 und mehr Jahren Realität in Olympia wurde, also in jener klassischen Kultstätte antiken Sports mit ihren Tempeln, profanen Bauten, unzähligen Statuen und einem großen Sportplatz, in der alle vier Jahre und fast ein Jahrtausend lang die Olympischen Spiele zu Ehren von Göttervater Zeus abgehalten wurden. Wegen der vielen Zuschauer waren dabei große organisatorische Probleme zu bewältigen, was Schlafen in der Nacht, Essen am Tag, hygienische Verrichtungen am Fluss Alpheios Tag und Nacht, Transport der Athleten, Zuschauer und Helfer, Durchführung der Wettkämpfe sowie die Umstände der Tieropfer zu denen man zwecks Speisung der Massen eine Menge an Stieren, die ja praktischerweise nicht in Gänze den Göttern überlassen wurden, benötigte – da haben es Bewerberstädte heute leichter.

Allerdings sieht Schiller die klassischen Olympischen Spiele durch seine eigene (rosarote) Brille. Voll Form und Hülle vereinigen sie, so schreibt er, die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft. „Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia in den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und dem edlen Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners sich labte, so wird es uns (…) begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, (…) eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen.

Nicht nur die Gebildeten im 19. Jahrhundert waren von Schillers Spielidee begeistert; unter ihnen waren es vor allem die Griechisch-Lehrer, und diese natürlich besonders dann, wenn sie auch noch Turnen unterrichteten. Sie schmeichelte es, sich auf jemanden vom Rang Schillers berufen zu können, der sie darin bestärkte, mit dem Turnen etwas zu vertreten, dass auf eine Tradition zurückblicken konnte, die bis weit hinein in die griechische Antike reichte – welche Fächer konnten das schon von sich sagen. Allerdings kannten sie diese Tradition noch nicht so genau. Zu vorbehaltloser Begeisterung gab sie nämlich nicht immer Anlass; denn bei den Kämpfen in Olympia ging es manchmal ziemlich ruppig zu. Mancher Athlet ging mit schmerzhaften Blessuren nach Hause. Andere konnte nicht einmal mehr das, weil sie beim Kampf um den Olympischen Lorbeer ums Leben kamen. Und manche zu Ehren eines Olympiasieges errichtete Statue musste später wieder weggeräumt werden, weil der Preisträger sich doch nicht als besonders tugendhaft erwiesen hatte.

Da Schiller dies alles noch nicht wissen konnte, muss man es ihm nachsehen, wenn er seiner Zeit und seiner Nachwelt die Olympischen Spiele als historischen Beleg für die Bedeutung der ästhetischen Erziehung als ganzheitliche Menschenbildung präsentierte. Zu seiner Entlastung sollte man aber auch darauf hinweisen, dass wir Späteren das Wissen darum, dass es nicht nur sanft und friedlich bei Olympischen Spielen zuging, Althistorikern und Altphilologen unserer Zeit verdanken. Bis es soweit war, durfte man der Kunde von der kulturellen Großartigkeit der klassischen Olympischen Spiele am Ufer des Alpheios und am Fuße des Kronos-Hügels, auf dem Götter Zeus auch des Öfteren residierte, wenn er nicht gerade unterwegs und hinter attraktiven Gespielinnen her war, wobei er dies gerne in Gestalt eines Tieres tat. Die Griechen haben ihm das nachgesehen und uns mit den Olympischen Spielen, mit denen sie ihren Zeus unabhängig von seinem manchmal lockeren Lebenswandel, der Ihnen vermutlich sogar imponierte, verehren wollten, ein großes kulturelles Erbe hinterlassen. Die modernen Olympischen Spiele sind nicht zuletzt aufgrund ihres Erbes – auch wenn es viele Jahrzehnte gedauert hat inzwischen zu einem wirklichen „Kulturgut“ geworden, auch wenn sich in keiner Ausrichterstadt dieser Welt noch jemand finden lässt, der Zeus gleichkäme und wohl auch kaum einen modernen Schriftsteller oder Dichter, der Schiller in seiner Begeisterung für die Griechen und ihre Spiele überbieten könnte.

Dieser Beitrag wurde in der Ausgabe 4/2006 in der Zeitschrift „Olympisches Feuer“ zum ersten Mal veröffentlicht.