Eine Medaille für Millionen

In diesen Tagen zeigte mir ein Mitglied meiner Montagsturner vom TSV Marquartstein eine besondere Urkunde. Peter W. ist in diesen Tagen 95 Jahre alt geworden. Er fährt noch regelmäßig Alpin-Ski in den Chiemgauer Alpen und fehlt nur ganz selten, wenn wir uns montagabends zu einer Turnstunde treffen, bei der wir uns mit leichten Lauf – und Gehübungen aufwärmen, um uns dann mit einer für unsere Altersgruppe angepassten Bodengymnastik zu bemühen, unsere „alten Knochen und Gelenke“ beweglich zu halten. Peters Urkunde dokumentiert eine außergewöhnliche sportliche Leistung. Er hat bereits dreißigmal das „Deutsche Sportabzeichen in Gold“ erworben. Er ist somit ohne Zweifel ein außergewöhnliches Vorbild für eine gesunde und sportliche Lebensführung.
Als ihm der Präsident des Bayerischen Landessportbundes zu dieser besonderen Leistung gratulierte, war dessen Wunsch naheliegend. Er schlug vor, dass Peter vor den Schülern des Marquartsteiner Gymnasiums über seinen besonderen sportlichen Lebenslauf berichten und erzählen solle. Peter kam diesem Wunsch nach. Doch er musste feststellen, dass selbst die Sportlehrer von heute und schon gar nicht deren Schüler und Schülerinnen ein ausreichendes Wissen über das Deutsche Sportabzeichen, über die Leistungen, die man zu erbringen hat, und über die gesundheitspolitische Bedeutung, die dieses Sportabzeichen besitzt, Bescheid wussten. Dieses Ereignis veranlasste mich Steffen Haffner um Erlaubnis zu bitten, einen Beitrag erneut zu veröffentlichen, den er aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums des Deutschen Sportabzeichens vor nahezu zehn Jahren für das „Olympische Feuer“ (2/2013), der Zeitschrift der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG), geschrieben hat. Vielen Dank.

H.D.

Steffen Haffner

Eine Medaille für Millionen

Das Deutsche Sportabzeichen gehört hierzulande zum Inventar unseres Lebens. Das gute, alte Möbelstück wird in diesem Jahr 100 Jahre alt. Und da dieses Ereignis ausgiebig gefeiert wird, dürfte es stärker als sonst von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen werden. Zugleich feiert der zuletzt ein wenig verstaubt wirkende Leistungs – und Fitness – Nachweis für jedermann in einer modernisierten Form Premiere. Eine Sonderbriefmarke von 58 Cent und eine 10 – Euro – Silbermünze weisen ebenfalls auf das Jubiläum hin. Das Sportabzeichen hatte freilich nie das Zeug zu großen Schlagzeilen. Daran wird sich auch nicht viel ändern. Heutzutage ist es für seine Sachwalter vom organisierten Sport noch schwerer als früher, einer solchen Kampagne im medialen Getöse von Fußball und Formel 1 Geltung zu verschaffen. 1913 feierte das Sportabzeichen noch im Kaiserreich seine Premiere. Carl Diem, eine der prägenden Figuren des deutschen Sports, dessen große Bedeutung heute wegen seiner Durchhalterede vor Hitler-Jungen oft verkannt wird, hatte die Idee von den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm mitgebracht. Beim Debüt in Berlin wurde den 22 erfolgreichen Prüflingen jeweils eine „Auszeichnung für vielfältige Leistungen auf dem Gebiet der Leibesübungen“ verliehen. Die männlichen Teilnehmer – Frauen wurden erst 1921 zugelassen – hatten anspruchsvolle Anforderungen zu erfüllen: Sie mussten 4,75 Meter weit springen und beim 100 m Lauf in 13 Sekunden am Ziel sein. Auch hatten sie sich im Eishockey, Fechten Fußball und Golf zu bewähren. Die Nationalsozialisten brachten das „Reichs – Sport – Abzeichen“ in den gleichgeschalteten Massensport ein. Damit sollte die „Volks und Wehrkraft“ gestärkt werden. Außer den traditionellen Sportarten waren mehrere Schießdisziplinen sowie ein 25 km Dauermarsch mit 12,5 Kilo Rucksack oder Tornister und eine „Kraftradgeländefahrt“ über 50 km zu absolvieren. Die DDR knüpft an dieses vormilitärische Gedankengut an, wie sich an dem Motto ihres seit 1951 vergebenen Sportabzeichens: „Bereit zur Arbeit und Verteidigung der Heimat“ zeigt.

Zur gleichen Zeit wurde in der Bundesrepublik und in West – Berlin das „Deutsche Sportabzeichen“ kreiert, dessen Charakter rein ziviler Natur ist. DOSB – Präsident Thomas Bach spricht von einer großen Erfolgsgeschichte der Auszeichnung und begründet dies mit der Zahl von 33,6 Millionen Verleihungen, davon 1.4 Millionen bis 1944. (Die DDR – Sportabzeichen, deren Zahl als getürkt gilt, sind darin nicht enthalten.) Vor über 50 Jahren wurde das Sportabzeichen in den Rang eines Ordens erhoben. Bundeswehrsoldaten tragen es mit Stolz an ihrer Ausgehuniform. Die Bundespräsidenten Horst Köhler und Richard von Weizsäcker erwerben mehrmals die kleine Anstecknadel. Der mittlerweile 93 Jahre alte von Weizsäcker erfüllte noch als 83-Jähriger die Anforderungen zum zehnten Mal. Der sportaffine Gerhard Schröder zeigte sich als Bundeskanzler auch auf diesem Feld leistungsstark. Und der beliebte Quizmaster Hans Joachim Kulenkampff stand ebenfalls seinen Mann, auch wenn Martin Jente ihm in seiner Rolle als kritischer Butler beschied: „Sehr mäßig!“ Das war in den siebziger Jahren, als das Sportabzeichen von der neuen Trimm – Bewegung profitierte. Es gibt eine Reihe von Dauerbrennern wie den 74-jährigen Wolfgang Radtke, der den Fitnessorden 55 Mal erwarb. Die Familie Nitsch tritt Jahr für Jahr gleich mit drei Generationen von den Großeltern über die Eltern bis hin zu den Enkeln an. Ihre stolze Bilanz: 36 Familien – und 197 – Einzelsportabzeichen. Fortsetzung folgt.

Seit 2004 wird jedes Jahr mit einer Sportabzeichen – Tour, die in den Sommer Monaten quer durch Deutschland führt, zum Mit – und Nachmachen angeregt. Nach dem Start am 12. Mai bei der internationalen Garten Ausstellung in Hamburg führt die Karawane diesmal noch über zehn Stationen, bevor es am 14. September im Park von Schloss Bellevue beim Finale mit Bundespräsident Joachim Gauck zum Höhepunkt kommt. Bei dieser besonderen Deutschland – Reise, die – wie die gesamten Aufwendungen für das Sportabzeichen in Höhe von rund 1 Million € – von der Firma Ferrero mit der Marke „Kinder und Sport“, von der Sparkassen Finanzgruppe, von der Barmer GEK und zum Textilunternehmen Ernsting´s Family finanziert wird, treten bekannte Athleten wie Leichtathletikikone Heike Drechsler, wie der dreifache Kanu- Olympiasieger Andreas Dittmer oder Frank Busemann, der Zehnkampf-Olympia-Zweite von Atlanta 1996, als Animateure auf. Busemann und einige andere Könner wie Dagmar Hase, Schwimm-Olympiasiegerin über 400 m Freistil von Barcelona 1992, Astrid Kumbernuss, Kugelstoß-Goldmedaillen-Gewinnerin von Atlanta, oder Lilly Schwarzkopf, die im Siebenkampf von London 2012 Zweite wurde, geben den Sportabzeichen-Kandidaten Tipps in Motivationsfilmen, die über „splink“, die Internet-Plattform des DOSB, (auch als App) zu sehen sind.

Bei den vielfältigen Anstrengungen, „das Olympia des kleinen Mannes“ zu popularisieren, müsste die Erfolgskurve des Fitnessordens eigentlich steil ansteigen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nach dem Zwischenhoch von 2008 und 2009, als zweimal die Millionen-Marke der Verleihung überschritten wurde, registrierte der DOSB im vergangenen Jahr einen Rückgang auf 843.890 Abzeichen. 1989 hatte der DOSB mit 818.000 schon ähnlich viel erreicht. Und das vor der Vereinigung! Rund drei Viertel der Sportabzeichen wurden 2012 von Kindern und Jugendlichen (638.586, davon 311.356 Jungen und 321.071 Mädchen) erworben. Das ist eine gute Nachricht, auch wenn die Schulen die treibende Kraft sind und zudem bei den Bundesjugendspielen erzielte Leistungen einbezogen werden. Die Kehrseite: Nur ein knappes Viertel Erwachsene (205.304, davon 124.078 Männer und 78.148 Frauen) haben die Bedingungen für das Sportabzeichen erfüllt. Ein Viertel davon pflichtgemäß bei der Bundeswehr und der Bundespolizei. Das ist für ein 80 Millionen Volk und angesichts des großen Werbeaufwands ein enttäuschendes Ergebnis. Traditionell nimmt die Zahl der Bewerber um das Sportabzeichen, die zuletzt schätzungsweise zwischen 1,5 und 2 Millionen lag, in der Altersgruppe zwischen 20 und 40 drastisch ab. Für die Erwachsenen, die Beruf und Familie unter einen Hut bringen müssen, gerät die Überprüfung ihrer Fitness weitgehend aus dem Blick. Hinzu kommt, dass heute das Angebot an Kultur und Entertainment, dazu die Zeitfresser Computer und Fernsehen den Spielraum stark einengen.

Das frisch aufpolierte Sportabzeichen soll die Wende zum Besseren bringen. Fünf Jahre lang hat eine Arbeitsgruppe, in der Fachleute aus den wichtigsten Sportorganisationen und Sportwissenschaftler der Technischen Universität München mitwirkten, die Anforderungen überarbeitet. Von diesem Jahr an wird das Sportabzeichen nicht mehr nach der Zahl der Wiederholungen, sondern wie bis 1945 und danach in der DDR gestaffelt nach Leistungen in Gold, Silber und Bronze vergeben. Kinder können jetzt schon von sechs statt von acht Jahren an teilnehmen, die Anforderung für über Achtzigjährige und sogar über Neunzigjährige wurden differenziert. Eine Reihe von Disziplinen wurden aussortiert. So können die Erwachsenen zum Beispiel nicht mehr unter beliebten Übungen wie Schlagball, 1000 Meter, Inline Skating, Skilanglauf oder Kegeln und Schießen wählen. Aus den fünf Kategorien Schwimmen, Sprungkraft, Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer sind vier Gruppen geworden. Nur noch einmal in fünf Jahren braucht die Schwimmfertigkeit nachgewiesen zu werden. Damit entfällt freilich auch die Notwendigkeit, sich wenigstens einmal im Jahr auf die Schwimm- Prüfung vorzubereiten.
Statt Sprungkraft ist Koordination hinzugekommen. Karl-Heinz Marchlowitz beim Deutschen Sportbund 15 Jahre lang für die Sportabzeichen verantwortlich, merkt kritisch an: „Sport hat eigentlich immer mit Koordination zu tun“. Unter diesem Rubrum werden zum Beispiel Leistungen im Hochsprung, Weitsprung, Seilspringen und in neuen Übungen wie dem Zonenweitwurf und Zonenweitsprung angeboten, bei dem aus einer Zone heraus jeder Proband erst zweimal mit rechts, dann zweimal mit links aus einer Zone heraus in die Sandgrube springen muss. Gerade diese Übung beansprucht die Gelenke und bildet und birgt vor allem für in die Jahre gekommene Teilnehmer vier Mal die Gefahr von Muskelverletzungen. Der Sportmediziner Wildor Hollmann warnt schon seit langem: „Schnellkraftübungen sind für ältere Menschen nicht sinnvoll und verletzungsgefährlich.“ Das gilt gerade auch für die Sprints, die den Sportabzeichen – Bewerbern bis ins hohe Alter abgefordert werden. Über 75-jährige haben zum Beispiel für Gold 30 m in 5,7 Sekunden zurückzulegen. Um dies zu schaffen, müssen sogar erfolgreiche Senioren – Leichtathleten ausgiebig trainieren.

Unter den 70.000 oft überalterten Prüfern, die an 3000 Sportabzeichen – Treffs die Leistungen abnehmen, herrscht erheblicher Unmut. Viele finden das neue Verfahren zu kompliziert. So müssen sie jetzt die Punktzahlen ermitteln, die jeder Freizeit – Athlet sammelt. In jeweils einer Übung kann der Teilnehmer für Bronze einen Punkt, für Silber zwei und für Gold drei Punkte erhalten. Für 4-7 Punkte wird Bronze, für 8-10 Silber und für 11-12 Punkte Gold vergeben. Marchlowitz nennt die Bronze-Kategorie, „ein reines Mitmachabzeichen, das jeder Gesunde schaffen kann. Die Silberleistungen entsprechen dem Niveau des bisherigen Sportabzeichens. Und Gold dürfte künftig nur noch von trainierten Athleten erreicht werden“. Dennoch werden die meisten Bewerber die Goldstufe erreichen wollen. Das Ziel Gold ist ein hoher Reiz. Es kann Ansporn sein, kann aber auch zu Selbstüberschätzung und zu Überforderung führen. Walter Schneeloch, DOSB – Vizepräsident Breitensport/Sportentwicklung, erhofft sich von der Einführung der drei Leistungsstufen „eine Steigerung der Attraktivität und einen Anreiz zur kontinuierlichen Vorbereitung gerade auch im Altersmittelbau“. Wenn die Sportabzeichen – Aspiranten mit Blick auf Gold trainierten, wäre das ein wichtiger Effekt. Denn bisher üben nur wenige für die Prüfungen. Viele versuchen, die Disziplinen aus dem Stand zu absolvieren, oft noch, ohne sich richtig „warm zu machen“ oder die Muskeln zu dehnen. Und zu wenige Prüfer halten sie dazu an.

Die Bilanz des Deutschen Sportabzeichens wird rein statistisch sicherlich erfreulich ausfallen. Schon deshalb, weil die meisten Teilnehmer nicht mit leeren Händen, sondern zumindest mit Bronze heimkehren werden. Eine noch deutlichere Steigerung wäre zu erreichen, wenn die 91.000 Turn – und Sportvereine im Lande, die sich nur in geringem Umfang für das Sportabzeichen engagieren, zu aktivieren wären. Und das müsste doch mit Wettbewerben und dem Ausloben von Preisen möglich sein. Die Millionen – Marke wird wahrscheinlich im Jubiläumsjahr geknackt werden. Damit ist aber noch nichts über die Qualität des neuen Sportabzeichens gesagt, das dauerhaft einer kritischen Überprüfung bedarf.