Gastbeitrag
1973– 2025: 50. Hallesche Werfertage*
Ewald Walker
Die Leichtathletik kämpft mehr denn je am Rande des Sportartenspektrums ums Überleben. Ein Tag nach den glanzvollen Olympischen Spielen von Paris mit außergewöhnlichen Zuschauerzahlen (täglich 140 000 Stadion-Besucher) und Akzeptanz im Stade de Paris, aber auch höchsten Einschaltquoten im TV, ging der Rollladen der Aufmerksamkeit wieder herunter. Die Leichtathletik ist seitdem von der Bildfläche praktisch verschwunden. Selbst eine Hallen-EM und eine Hallen-WM finden in der Berichterstattung kaum mehr Beachtung. Auch nationale Olympiasieger[1] und Aushängeschilder kommen dort nicht mehr vor.
Der Weg der Leichtathletik in die Bedeutungslosigkeit ist vorgezeichnet. Mit einer neuen Veranstaltungsserie und neuem Format („Grand Slam“) versucht der mehrfache Olympiasieger und Weltrekordler Michael Johnson, der Leichtathletik wieder mehr Leben einzuhauchen. Ausschließlich Lauf- und Sprintwettbewerbe stehen im Fokus, Werfen und Springen kommen da nicht mehr vor. Da wird fraglos eine bedenkliche Separierung einer komplexen Stadion-Sportart fortgesetzt – das muss hier leider auch für das Werfer-Meeting in Halle konstaktiert werden – die in Europa und vor allem in Deutschland ihre Anfänge hatte und durch die die Einheit der Leichtathletik immer mehr zerstört wird. Die „Halleschen Werfertage“ müssen deshalb in diese Kritik ebenso mit einbezogen werden wie die Ein-Tagesmeetings „Hochsprung mit Musik“ „Stabhochsprung unterm Brandenburger Tor“, „Kugelstoßen auf dem Marktplatz“. Die Einheit der Leichtathletik wurde und wird hier bereits seit vielen Jahren zerstört.
50 Jahre haben die Werfer bei den „Halleschen Werfertagen“ gezeigt, welch hohe Attraktivität in diesem Teil der Leichtathletik steckt. Die „Werfertage“ immer im Mai mit Weltklasse-Athleten und Sportlern von der Basis beweisen, welche Anziehungskraft von diesem Teil der olympischen Kernsportart ausgehen kann. Olympiasieger, Welt- und Europameister neben jugendlichen Leichtathleten verbinden nicht nur Kugelstoßen, Hammer-, Speer- und Diskuswerfen, sie stehen für die Einheit dieses Sports.
Kontinuität und hohes ehrenamtliches Engagement über fünf Jahrzehnte bilden den „Kitt“ für gesellschaftliches Miteinander. Heidler gegen Wlodarczyk, Harting gegen Malachowski, Riedel gegen Alekna, Zelezny gegen Hecht waren sportliche Höhepunkte, die immer wieder durch die nächsten abgelöst wurden. Familiäre Atmosphäre kennzeichneten die Seite dieses „Meetings mit Herz“.
Es ist ein Mythos der Leichtathletik, der sich in 50 Jahren in Halle aufgebaut hat.Es besteht die Annahme, dass an diesem Ort Disken, Hämmer, Speere und Kugeln angeblich weiterfliegen als an anderen Orten. Es ist Realität, dass auf „Brandberge“ seit Jahrzehnten Medaillenträume reifen.
Werfermeeting mit Weltgeltung
Aus dem eintägigen Treffen der DDR-Wurfspezialisten Anfang der siebziger Jahre ist ein zweitägiges Werfermeeting mit Weltgeltung geworden – es ist das weltweit größte und beste Meeting für Kugelstoßer, Diskus-, Hammer- und Speerwerfer. Mit Athleten aus über 40 Nationen weist es einen beachtlichen internationalen Charakter auf.
„Werfertage“ sind Feiertage für die Leichtathletik. Es ist die Philosophie der Halleschen „Werfertage“, die die Einmaligkeit der Veranstaltung ausmacht: Weltklasseathleten sowie Sportler mit Behinderung, Aktive mit Schülern und Jugendlichen sind hier gemeinsam dabei. Jeder darf teilnehmen. Der Leistungssport zeigt sich hier von seiner menschlichen, familiären und sozialen Seite. Olympiasieger, Welt- und Europameister kehren immer wieder an diesen Ort zurück, ungeachtet von Startgeldern und Prämien.
Beim jährlichen Treffen der „Werfer-Familie“ ist viel Feuer, Erfahrung und Sachverstand mit von der Partie. Die Organisatoren sind mit viel Herzblut dabei: die Veranstaltung ist von Anfang an und auch noch heute ehrenamtlich organisiert. In einer Zeit, in der Professionalisierung auch bei den Leichtathletik-Meetings großgeschrieben wird, ist dies eine der großen Herausforderungen in Halle. Die Familie Ritschel – der inzwischen verstorbene Vater Rainer Ritschel, Ehefrau und langjährige Speerwurf-Bundestrainerin Maria Ritschel sowie der inzwischen als Meeting-Verantwortliche fungierende Falk Ritschel – steht für die Tradition der Halleschen Werfertage.
„Die Stimmung ist einmalig“, sagt Jan Zelezny, Olympiasieger und aktueller Weltrekordler im Speerwerfen, „so ein Meeting habe ich noch nicht erlebt“. Der Kern der Halleschen Philosophie auf „Brandberge“: Die Werfertage sind konzipiert von Trainern für Sportler. Die sportlichen Leistungen sind geprägt von Weltklasseweiten auf höchstem Niveau. Mit einem guten Saisonstart in Halle qualifizieren sich die Athleten nicht selten für die nationalen und internationalen Höhepunkte wie Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften. Die Zuschauer stehen direkt an den Wurfkäfigen, suchen den Smalltalk mit den Sportlern – es ist olympischer Sport auf persönlicher Ebene und nächster Nähe.
Wurfsport als kommunalpolitisches Thema
Ingrid Häussler, ehemalige Oberbürgermeisterin von Halle, gleichzeitig Präsidentin der Halleschen Leichtathletik-Freunde (HLF), hat die Werfertage immer auch zu einem kommunalpolitischen Thema gemacht und so diesem Sportereignis einen besonderen Stellenwert verliehen. In einer Stadt, in der der gebürtige Hallenser Hans-Dietrich Genscher, deutscher Vizekanzler, Außen- und Innenminister, mit dem ehemaligen Sowjet-Präsidenten Michail Gorbatschow im Szenenlokal „Zum Schad“ an der Uhr der Weltpolitik gedreht hat, sind immer auch die „Größen“ des Wurfsports zu Gast (gewesen). Hier Genscher mit Gorbatschow, dort Harting und Schult, Alekna und Riedel, Bin Fen und Pudenz, Nazarov und Fajdek, Storl mit Schwanitz, Katzberg und Obergföll – die Liste großartiger Athleten-Persönlichkeiten ließe sich beliebig fortsetzen.
Bemerkenswertes kulturelles Rahmenprogramm
Legendär geworden ist das sportkulturelle Rahmenprogramm am Abend des Werfertages. Wenn Weltklasseathleten in Kostümen verkleidet auf der Bühne hinter den olympischen Ringen und außerhalb der Wurfkäfige Theater spielten und auch originelle und humorvolle Tänze vorführten, blieb beim 600-köpfigen Publikum meist kein Auge trocken. Diese Abendveranstaltung war über Jahrzehnte außergewöhnlich und ein Alleinstellungsmerkmal von Halle: sie war Kult.
Die Halleschen Werfertage sind bis zur 50. Auflage 2025 ein starkes Stück deutsche und internationale Leichtathletik-Geschichte geworden, das Welttreffen der „Werfer-Familie“. Als solches haben die Werfertage auch einen verbindenden Charakter zwischen Ost und West bewiesen.
(* aufgrund von Corona mussten die Werfertage zweimal ausfallen)
Letzte Bearbeitung: 30. 4. 2025
[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.