Das IOC und die Olympischen Spiele im Zeitalter der Disruption

Präsident Thomas Bach ist zu einer Art „Chef-Disruptor“ geworden, der für Veränderungen wirbt, die den unter Beschuss stehenden Status quo über Bord werfen.

Von Ed Hula

Dies ist die Ära der Disruption für die Olympischen Spiele.

Und das gilt nicht nur für die bislang beispiellose Verschiebung der Olympischen Spiele Tokio 2020 um ein Jahr oder für die Olympischen Winterspiele Peking 2022, die in sechs Wochen unter strengen Antivirus-Protokollen stattfinden. Das nächste Jahr und die Zeit danach stellen das IOC vor eine Reihe von Herausforderungen, bei denen absehbar ist, dass sie weitaus größere Disruptionen und Veränderungen für die Olympischen Spiele mit sich bringen werden als die Pandemie.

Auf der IOC-Sitzung im Februar, vor den Olympischen Spielen in Peking, sind die Mitglieder aufgefordert, Gewichtheben, Boxen und Modernen Fünfkampf zugunsten von Skateboarden, Sportklettern und Surfen aus dem Olympischen Programm zu streichen.

Das könnte eine der disruptivsten Änderungen werden, die das Sommerprogramm je erlebt hat. Diese drei neuen Sportarten waren einst als Olympische Disziplinen ebenso undenkbar wie es undenkbar war, dass Gewichtheben bei den Spielen nicht vertreten sein sollte ….

Die drei Sportarten, deren Streichung nun ansteht, wurden seit langem gewarnt, dass ihre Zukunft bei den Olympischen Spielen gefährdet ist. Sie wurden durch neue Events ersetzt, die relevanter sind für die sportlichen Trends des 21. Jahrhunderts. Und so unmöglich es auch einst erschienen sein mag: Für Paris wird Breaking oder Breakdance in das Programm aufgenommen – mit der Chance darauf, auch darüber hinaus fest gesetzt zu bleiben.

Das bedeutet, dass weitere Disruptionen bevorstehen. Solange das IOC bei der Höchstzahl von 10.500 Athleten pro Sommerspiele bleibt, wird die Aufnahme neuer Sportarten Auswirkungen auf die bestehenden Sportarten im Programm haben. Wenn sie nicht ganz gestrichen werden, dann könnten Abstriche bei der Anzahl der einzelnen Disziplinen das Opfer sein, das Sportverbände bringen müssen, um weiter bei den Olympischen Spielen dabei zu sein.

„Sich verändern oder verändert werden“, hat IOC-Präsident Thomas Bach während seiner Amtszeit wiederholt gemahnt und sich dabei sowohl auf das IOC als auch auf die Internationalen Sportverbände und andere Organisationen unter dem Olympischen Dach bezogen. Präsident Thomas Bach ist zu einer Art „Chef-Disruptor“ geworden, der für Veränderungen wirbt, die den unter Beschuss stehenden Status über Bord werfen.

Disruption ist sicherlich auch das Thema, wenn es um die zunehmenden Aussichten auf die Auflösung der GAISF, der General Association of International Sports Federations, geht. Seit 40 Jahren vertritt die GAISF die Sportarten bei den Sommer- und Winterspielen und weitere 60 Sportarten außerhalb des Olympischen Zirkels. Einige sehen dies als einen Schachzug zur Einschränkung der Macht der Verbände. Andere halten die GAISF für ein unwesentliches Rädchen in der olympischen Sportmaschine.

Es wird erwartet, dass es auf der für Mai in Russland anberaumten Sport Accord Convention – nach drei disruptiven Verschiebungen seit 2019 – zu einer Zuspitzung dieser möglichen Umwälzung des Status quo kommen wird.

Disruption ist es auch, was das IOC und die Sportverbände ihrerseits aufgrund des FIFA-Plans, die Weltmeisterschaft alle zwei, statt alle vier Jahre auszutragen, befürchten. Die FIFA ist zuversichtlich, dass die Welt ein alle zwei Jahre stattfindendes Spektakel mit 48 Mannschaften ab 2028 begrüßen wird. Andere befürchten finanzielle Schäden und verringerte Aufmerksamkeit für die Olympischen Spiele.

Aus eigener Initiative hat das IOC erhebliche Disruption für Unternehmen in aller Welt, die im Rahmen von Vereinbarungen mit Nationalen Olympischen Komitees den Verkauf von Eintrittskarten für die Olympischen Spiele abwickelten, ausgelöst. Die Beendigung dieser Praxis durch die Einrichtung eines zentralen Ticketing- und Hospitality-Services bedeutete einen schmerzhaften Einschnitt für Unternehmen, die sich auf Olympia-Hospitality spezialisiert hatten. Sports Mark im Vereinigten Königreich und CoSport in den USA sind zwei der größten Unternehmen, die jetzt aus dem Olympiageschäft herausgedrängt wurden.

Die Änderungen, die das IOC bei den Auswahlprozessen für die Austragungsorte der Spiele vorgenommen hat, bedeuteten eine Disruption für eine weitere Olympische Branche, die Bewerbungs-Consultants. Schon früh in seiner Amtszeit forderte Bach eine Reihe von Reformen, die den Städten Millionen von Dollar für gescheiterte Olympia-Bewerbungen ersparen sollten. Dadurch entfiel die Notwendigkeit, Consultants zu engagieren oder teure internationale Kampagnen durchzuführen, die mitunter auch verdächtige Transaktionen beinhalteten.

Paris 2024 wiederum ist auf dem Weg, als Disruptor für die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in die Geschichte einzugehen. Die Pläne für ein strukturiertes Stadion-Event wurden fallen gelassen; stattdessen werden die Spiele 2024 mit einer Feier entlang der Seine eröffnet, für die man keine Tickets braucht. Zweifellos hat der Ansatz von Tony Estanguet, dem Chef von Paris 2024, und seiner Truppe bereits disruptive Wirkung und die Pläne für die Feiern in Los Angeles 2028 und Brisbane 2032 durcheinandergebracht.

Auf bedachte Art und Weise legt Bach den Grundstein dafür, dass Frauen im IOC zu einer möglicherweise beherrschenden Kraft werden – eine Disruption, ein Bruch mit der männlichen Hegemonie im IOC von einst.

Bach hat eine Veränderung in puncto Status ausgetüftelt, mit der dafür gesorgt wird, dass zwei aufstrebende Persönlichkeiten für die nächsten Jahre als Mitglieder im IOC verbleiben. Nicole Hoevertsz aus Aruba, jetzt IOC-Vizepräsidentin, und Danka Bartekova aus der Slowakei, ein ehemaliges Mitglied der Athletenkommission, dürften beide auf der IOC-Session in Peking im Februar bestätigt werden. Dank dieser Änderung ihres Status können sie bis zum Altersrücktritt mit 70 Jahren im Amt bleiben, womit jede von ihnen jahrzehntelang Zeit hätte, um IOC-Funktionen und möglicherweise eine Führungsrolle zu übernehmen.

Bartekova und Hoevertsz gehören zu der wachsenden Zahl von Frauen, die in den letzten Jahren – im Zuge zunehmender Geschlechtergleichstellung im IOC – in dieses Gremium berufen wurden. Es ist gut möglich, dass eine dieser Frauen Bachs Nachfolge antreten wird, wenn er 2025 in den Ruhestand geht. Sie wäre dann die erste Frau mit dem offiziellen Titel der IOC-Präsidentin – und dem inoffiziellen der „Chef-Disruptorin“.

 

Ed Hula, geb. am 17.Juni 1951 in Tarrytown New York, ist Herausgeber und Gründer von „Around the rings“, dem wohl wichtigsten medialen Hintergrundsorgan zur Entwicklung der Olympischen Spiele und des internationalen Sports.