Das Dilemma „leichter läuft schneller“

Ein Gastbeitrag von Ewald Walker

Man spricht nicht drüber, höchstens hinter vorgehaltener Hand. Magersucht im Leistungssport ist ein Tabuthema. Doch längst hat es auf den Laufbahnen, Turnmatten, Eisflächen oder Ski-Schanzen Einzug gehalten. Das Thema ist im Sport präsenter als gedacht und gerade auch hinter prominenten Sportlern verstecken sich Probleme und Einzelschicksale im Kampf um Köpergewicht und Leistung mit teilweise fatalen Folgen. Ihre Körper sind dünn, die Arme gertenschlank, „sie haben keinen Busen mehr“, hat die 63fache Deutsche Meisterin Brigitte Kraus (Köln) im Vergleich mit früher feststellt, „wir waren auch schlank, aber anders.“ Doch nicht automatisch heißt dünner Körperbau auch, dass eine Athletin magersüchtig ist, entscheidend ist das Essverhalten, wie die Sportmedizinerin Christine Kopp (Tübingen) betont, „Spekulationen sind also fehl am Platz“.

Die frühere Mittelstreckenläuferin Corinna Harrer (Regensburg) hat zuletzt auf die besorgniserregenden Entwicklungen im Laufsport hingewiesen. „Wenn du erfolgreich sein willst, musst du dünn sein“, werde als Ideal vermittelt. „Drei Kilo zu viel, und schon bist du schlecht“, sagte die 29-Jährige Olympia-Halbfinalistin in einem Interview der Süddeutschen Zeitung. Für Harrer war es kein Geheimnis, dass es im Nike Oregon Projekt in den USA unter Cheftrainer Alberto Salazar zu mentalem und körperlichem Missbrauch von Athletinnen gekommen ist. Das Gewichtsthema sei in Läuferkreisen ein großes, „ich bin froh, dass ich da raus bin, jede hungert sich nur noch runter“. Harrer fordert mehr Frauen in verantwortlichen Positionen als Trainerinnen und im Umfeld um das Problem in den Griff zu bekommen.

Skispringer Sven Hannawald, 2002 letzter deutscher Sieger der Vierschanzentournee, hat in seinem Buch („Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben“) seine Sportart als „komplizierten Spagat zwischen Athletik und Gewicht“ beschrieben. Was bei den Läufern die Devise „leicht läuft schnell“ ist, heißt bei den Skispringern „leicht springt weit“. Jedes Kilo, das sie abgenommen hatten, bedeutet 1,7 Meter mehr Weite. Der Weg dorthin: morgens Müsli mit Joghurt, Honig und Tee, das Mittagessen weglassen, abends Obst und Gemüse mit Reis, erst gegen 22 Uhr, um nicht nachts mit einem Hungergefühl aufzuwachen. Hannawald war der erfolgreichste Skispringer der Welt, hungerte sich bei 1,84 Meter Körpergröße auf fast 60 Kilo herunter. „Ich war total kraft- und lustlos“, schreibt er. Der Erwartungs- und Erfolgsdruck, die Hungerkuren, die Erschöpfung führten ihn in den Burnout – der eine Lebenschance darstellte, weil Hannawald professionelle Hilfe in Anspruch nahm und so in sein normales Leben zurückfand. Abnehmen als sportliche Chance, aber auch ein Weg ins gesundheitliche Desaster, ist eine Gratwanderung.

Diese endete beim Ruderer Bahne Rabe tragisch. Der Schlagmann des Deutschland-Achters, Olympiasieger 1988, gewinnt Medaillen, verliert dann aber das Duell im Kampf um den Platz des Schlagmanns im Boot. Er schindet seinen Körper für den Erfolg. Der Leistungssport führt ihn in eine emotionale Leere, aus der er nie mehr herauskommt. Mit über 30 beginnt sein Kampf in der Magersucht, mit 38 stirbt Rabe an den Folgen einer Lungenentzündung, die er aufgrund seiner Magersucht nicht übersteht. Bahne Rabe wog einst 90 Kilo, am Ende hatte der gut zwei Meter große ehemalige Modellathlet noch 60 Kilo. Auch Alkohol und Zigaretten zerstörten seinen Körper. Es war ein Tod auf Raten.

Betroffen von der Magersucht sind neben Skispringern vor allem Turnerinnen, Sportgymnastinnen, Langstreckenläuferinnen und Läufer sowie Eiskunstläuferinnen. Eva-Maria Fitze, eine der wenigen deutschen Eiskunstläuferinnen, die sowohl im Einzel als auch im Paarlauf nationale Titel erringen konnte, erkrankte in den 90er Jahren an Essstörungen. Sie machte ihre Krankheit öffentlich, und löste damit erstmals eine Diskussion über diese Krankheit aus.

„Sie reden hintereinander, übereinander, aber nie offen miteinander über ihre Probleme mit dem Körpergewicht“, sagt die erfahrene Läuferin Sabrina Mockenhaupt (Metzingen), 45-fache deutsche Meisterin, die in den Trainingslagern die Zimmer mit vielen geteilt hatte. Sie habe unter der Dusche einige jüngere Konkurrentinnen gesehen mit abstehenden Hüftknochen und dieser Babybehaarung. Die Waage spiele in den Trainingslagern eine große Rolle, die Läuferinnen leben in einer anderen Welt, sagt die inzwischen 39-Jährige. Sie selber habe bei 1,56 Meter Körpergröße 44 Kilo gewogen und abfälligen Bemerkungen eines Trainers („Du hast einen fetten Hintern und kommst deshalb den Berg nicht hoch“) widerstanden. „Es ist sehr schwierig, nach einer Magersucht ins normale Leben zurückzukommen“, weiß Mockenhaupt aus ihrer Erfahrung. Ihre Einschätzung: die Läuferinnen machten sich für den Leistungssport immer mehr kaputt.

„Über die sozialen Medien vergleicht sich jede automatisch mit dem Körperbild der anderen, die leistungsstärksten sind auch hier die Vorbilder“, sagt Elena Burkard (Tübingen). Die deutsche Crossmeisterin kritisiert die Kommentierung der Medien, die Athletinnen zum Teil nur auf das äußere Erscheinungsbild beschränkt.  Aus der Nähe zu Bertoffenen weiß sie: „Magersucht ist auch eine psychische Krankheit, die ein Außenstehender oft nicht nachvollziehen kann“, so Burkard.

Kurz nach der Leichtathletik-WM in Doha (Katar) hatte sich die US-Läuferin Mary Cain mit heftigen Vorwürfen gegen den ehemaligen Cheftrainer im Nike Oregon Project, Alberto Salazar, zu Wort gemeldet. Sie sei von Salazar zur Gewichtsreduktion gezwungen und durch öffentliches Wiegen vor dem Training psychisch unter Druck gesetzt worden, berichtete das einst größte US-Talent im Laufsport.

Parallel zur Essensreduktion wurden Schilddrüsenhormone, Diuretika und die Anti-Baby-Pille verabreicht. „Ich wurde dünner und dünner und dünner“, sagte sie, bevor ihr Körper zusammenbrach. Cain hatte das RED-S-Syndrom. Die Folgen bei der einstigen Wunderläuferin: das Ausbleiben der Periode über drei Jahre und fünf Knochenbrüche.

Zu ihren Video-Enthüllungen gegenüber der New York Times fühlte sie sich durch die Dopingsperre gegen Alberto Salazar direkt vor der WM in Doha ermutigt. Es war der Befreiungsschlag aus einer Leidenszeit, die sie seelisch und körperlich fast zerstörte.  Der Versuch Cains, trotz ihres desolaten Zustandes im vergangenen April zu Salazar zurückzukehren („Alberto war wie ein Vater, ein Gott für mich“), belegt die emotionale Abhängigkeit von Trainer-Athlet in einer solchen außergewöhnlichen Situation. Seit 2016 hat die einstige Wunderläuferin keinen Wettkampf mehr bestritten.

„Die Behandlung mit Schilddrüsenhormonen erhöht den Grundumsatz und kann daher zu einer Gewichtsabnahme führen“ erklärt der Tübinger Internist Professor Bernd Balletshofer. Auch die Einnahme von Diuretika („Wassertabletten“) kann über eine vermehrte Flüssigkeitsausscheidung des Körpers zu einer Abnahme des Körpergewichts führen. Dadurch verliert der Körper auch Calcium, was zu einer erhöhten Knochenbruchrate führen kann. Der Bewegungsdrang ist Teil der Krankheit. Die Sportler fühlten sich in ihrer Gewichtsabnahme nicht schwach, hätten ein sehr hohes Bewegungsbedürfnis und seien sehr leistungsfähig.

Davon, dass die sportlichen Leistungen dennoch steigen, berichten auch einige Läuferinnen. „Ich habe meine Bestzeiten in der Phase der Anorexie erzielt“, sagt eine Betroffene. Sie behauptet sogar, dass Anorexie das wohl häufigste Mittel der (natürlichen) Leistungssteigerung neben dem Dopingmittel Epo darstellt.

Jörg Müller (Dornstetten) hat als Verbandstrainer des Württembergischen Leichtathletik-Verbands bereits drei Fälle von Magersucht direkt erlebt. Zum Krankheitsbild gehörten aus seiner Erfahrung die verschobene Körperwahrnehmung („Ich bin doch gar nicht dünn, ich fühle mich wohl“). Oft entscheidend sei die Lebenssituation und der selbstauferlegte Leistungsdruck als Ursache der Magersucht. „Irgendwann bestraft der Körper die Mangelernährung“, weiß Müller. Klar ist aus seiner Beobachtung: die Krankheit lässt sich nur mit professioneller Hilfe bekämpfen.

Leistungssport und Hungern ist eigentlich eine absurde Verbindung. Der Sportalltag zeigt jedoch, dass es immer mehr Betroffene gibt. Immer besser, immer schneller, immer erfolgreicher zu sein, birgt Gefahren, denen sich Trainer, Manager, Zuschauer und auch Medien stellen müssen.

Über den Autor.
Ewald Walker (64), Pliezhausen, ist seit vielen Jahren als „Freier Mitarbeiter“ in verschiedenen Tageszeitungen tätig. Ehrenamtliche Tätigkeiten in Vereinen und Schule bilden die Grundlage seines sportjournalistischen Engagements. Zuletzt arbeitete er für die Leichtathletik-EM 2018 in Berlin im Bereich Kommunikation.