100 Jahre Göttinger Beschlüsse zum Hochschulsport

eine wichtige Wegmarke für die Entwicklung des Sports an Universitäten und Hochschulen

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Wolfgang Buss

Schon Ludwig Mester, ein Hermann Nohl Schüler, hat in seiner 1931 erschienenen Göttinger Dissertation „Die Körpererziehung an den Universitäten“ (Mester 1931) deutlich gemacht, dass Formen einer zeitgenössischen Bewegungskultur – ob sie nun als „Ritterliche Exerzitien“, „Turnen“, “Körperliche Erziehung“, „Leibesübungen“, „Körperkultur“ oder „Sport“  denominiert waren –  beginnend nach der Reformation, spätestens aber seit der Zeit der Aufklärung stets ein Teil des sozialen Lebens an den deutschen Hochschulen waren. Dabei war ihre dortige Existenz nie ganz unumstritten und ihre Förderung durch die Hochschulen sowie die staatlichen Behörden zu unterschiedlichen Zeiten seit dem 17. Jahrhundert auch dementsprechend sehr schwankend – ganz abgesehen von dem schwierigen Prozess der Anerkennung als akademisches Forschungs- und Ausbildungsfach.

Der Göttinger Studententag 1920 und die „Leitsätze für die körperliche Erziehung an den Hochschulen“

Der Durchbruch in dem Prozess der staatlichen Anerkennung des Sports als institutionalisierter Bestandteil der Universitäten und Hochschulen vollzog sich direkt nach dem 1. Weltkrieg. Dabei ging die erste wichtige Initiative von der Studentenschaft mit ihren einschlägigen Beschlüssen auf dem 2. Deutschen Studententag der „Deutschen Studentenschaft“ (DSt) aus. Dies war eine „Wegmarke in der Geschichte der deutschen Sportwissenschaft“, wie der Erfurter Sporthistoriker Jürgen Court das dortige Geschehen gekennzeichnet hat (Court 2019, 80) – und nicht nur der Sportwissenschaft, auch des Hochschulsports sollte man ergänzen. Der Studententag fand vom 22.-27. Juli 1920 – also im Sommer d.J. vor genau 100 Jahren – in Göttingen statt und war die Jahrestagung der auf der Basis der örtlichen „Allgemeinen Studentenausschüsse“ (AStAs) 1919 in Würzburg gegründeten „Deutschen Studentenschaft“. Die DSt war der Dachverband dieser AStAs und basierte in seiner formalen Konstruktion auf der Grundlage des mit der Weimarer Verfassung jetzt geltenden parlamentarisch-demokratischen Systems. Die insbesondere von seinen Mitinitiatoren und beiden ersten Vorsitzenden, Otto Benecke und Peter van Aubel, damit angestrebten Ziele waren die Selbstaktivierung bzw. Selbstverwaltung der Studenten, insbesondere auch zur Integration in den neuen republikanischen Staat unter parlamentarisch-demokratischen Spielregeln. Benecke und van Aubel waren Göttinger Studenten und später als promovierter Jurist bzw. Volkswirt prominente Kultur- und Wissenschaftspolitiker u.a. im sozialdemokratisch geführten preußischen Kultusministerium. Aber schon während derer Göttinger Studentenzeit formierte sich ein völkisch-nationales Lager, das dann die ganze Weimarer Zeit die Deutsche Studentenschaft dominierte. Die bis dahin noch mehrheitsfähigen demokratischen Zielsetzungen wurden von diesem Lager vehement bekämpft und ab dem folgenden Studententag 1921 in Erlangen stellte diese Gruppierung auch die 1. Vorsitzenden – beginnend mit Franz Holzwarth, der u.a. „ein Naturrecht des (deutschen) Blutsvolkes“ proklamierte (zit. n. Fahlbusch 2017, 1812). Gleich zu Beginn des Göttinger Studententages 1920 schlossen sich 13 örtliche Ringe zum „Deutschen Hochschulring“ zusammen und bildeten mit den Delegierten aus weiteren sechs völkisch-nationalen Verbänden (wozu das gesamte im „Allgemeinen Deutschen Waffenring“ organisierte sog. ‚Waffenstudententum‘ gehörte) durchgängig in der Weimarer Republik bis zum ‚Übergang‘ in den Nationalsozialismus 1933 den entscheidenden antirepublikanischen und inhaltlich auch antidemokratischen Machtfaktor in der nationalen Studentenpolitik. Wie alle antirepublikanischen Kräfte der Weimarer Zeit lehnten auch sie den im Juni 1919 unterzeichneten „Versailler Friedensvertrag“ der ab. Insbesondere wurde dabei die militärische Begrenzung für Deutschland auf ein 100.000 Mann Herr und der Wegfall der Wehrpflicht kritisiert – aus Sicht der rechtsnationalen Kräfte der Verlust der „Schule der Nation“.

In diesem Kontext müssen jetzt auch die Beschlüsse des Göttinger Studententages gesehen werden. In ihren mit 100 zu 65 Stimmen verabschiedeten zwölf „Leitsätzen für die körperliche Erziehung an den Hochschulen“ erhob die Mehrheit der Delegierten die vor allem in Bezug auf das Prinzip der ‚akademischen Freiheit‘ geradezu revolutionäre Forderung nach pflichtmäßigen Leibesübungen für jeden Studierenden (§ 3 der Leitsätze) und begründete dies mit der Notwendigkeit körperlicher Erziehung als Ersatz für die verloren gegangene Wehrerziehung der Studierenden. Die pflichtmäßige aktive Sportausübung sollte darüber hinaus durch mindestens zwei Leistungsprüfungen nachgewiesen und von örtlichen „Ämtern für Leibesübungen“ organisiert sowie überprüft werden. Als Sanktion bei fehlendem Nachweis der sportlichen Aktivitäten war der Ausschluss von Abschlussprüfungen vorgesehen.

Eine große Unterstützung erhielten die Forderungen der DSt auch aus dem Lager der Hochschullehrer, und hier in Göttingen sogar mit dem Votum der Universitätsspitze. Der Rektor der gastgebenden Georg-August-Universität Göttingen, der Historiker Prof. Dr. Karl Brandi, wies sowohl bei der Begrüßung der Delegierten als auch in seinem einführenden Vortrag mit dem Titel „Student und Politik“ auf die auch aus seiner Sicht derzeitig besondere Notwendigkeit der körperlichen Erziehung im Rahmen einer Gesamterziehung der Studentenschaft hin:

“Ich bin fest davon überzeugt, daß es zur Charakterbildung sehr wichtig ist, den Körper zu ertüchtigen, daß er lernt, Schmerzen zu ertragen und Selbstüberwindung zu üben, denn die Erziehung zum persönlichen Mut gehört zu den wesentlichen und entscheidenden Fragen des politischen Lebens“

Seine Ausführungen konnten nicht überraschen, denn Brandi gehörte – zumindest bis zu seiner politischen Weiterentwicklung Mitte der 1920er Jahre zum liberalen ‚Vernunftspolitiker‘ – zum politischen Lager der „Völkisch-Nationalen“ und schloss sich der Verschwörungstheorie, der sog. „Dolchstoßlegende“, an, die die Niederlage des „ungeschlagenen Heeres“ mit einem Verrat der politischen Kräfte an der sog. „Heimatfront“ begründete und den Versailler Friedensvertrag als „Schandvertrag“ titulierte. Auch Brandi lehnte insbesondere den Wegfall der Wehrpflicht scharf ab und verstieg sich später sogar zu der Feststellung, dass dies „ein Verbrechen an der Menscheitskultur“ sei (Brandi 1923, zit. n. Petke 1987, 300).

Brandi gab damit nur wieder, was auch die Mehrheit der Hochschullehrer dachte und proklamierte. Durch ihre Repräsentanten in den schon seit der Vorkriegszeit bestehenden „Akademischen Ausschüssen für Leibesübungen“ waren solche Forderungen wie die nach Pflichtsport für alle Studierenden schon vorher erhoben worden. Auf dem „2. Deutschen Hochschultag“, dem Vertretertag der deutschen Hochschullehrer, in Halle vom 22.-24. März 1921 wurden die Leitsätze des Göttinger Studententages ausdrücklich unterstützt und mit einer an alle Reichs- und Landesbehörden versandten offiziellen Entschließung noch einmal bekräftigt (vgl. Buss 1975, 51/52).

Die Hauptforderung des Göttinger Studententages 1920 war also eindeutig von dem sachfremden Motiv der Wehrertüchtigung geleitet und ließ sich mit der Ausnahme einer auf zwei Semester eingeschränkten Sportpflicht für Philologen ab 1925 bei den zuständigen Wissenschafts- und Kulturministerien der Länder in der Weimarer Republik auch nicht durchsetzen. Trotzdem kommt der Initiative und den Leitsätzen der Studenten doch eine besondere Bedeutung zu, beinhalteten sie doch insgesamt mehr als nur die Forderung nach Pflichtsport, sondern auch den systematischen Ausbau sowohl der materiellen als auch personellen Infrastruktur in verstärkter staatlicher Verantwortung – und diese Elemente realisierten sich dann ja auch weitgehend in den nachfolgenden Jahren. Darüber hinaus bekannten sich die beiden jetzt vorhandenen Spitzengremien der organisierten Studentenschaft und der Hochschullehrer, der Deutsche Studententag und der Hochschullehrertag, erstmalig zu einem gemeinsamen politischen Handeln im Sinne eines ausgebauten und nachhaltigen Sports auf den unterschiedlichen Ebenen der Universitäten und Hochschulen. Sie bahnten damit eine Entwicklung an, mit der schon Mitte der 1920er Jahre das Erscheinungsbild des universitären Sports insgesamt von ­einer „organische(n) Funktionsverbindung erstens von Forschung und Lehre, zweitens des Hochschulsports und drittens der Philologenausbildung“ geprägt war, wie es der hierfür besonders ausgewiesene Experte Prof. Jürgen Court erst jüngst noch einmal unterstrich (Court 2019, 174). Ab 1929 kam dann noch die Anerkennung des Studienfaches „Leibesübungen“ als achtsemestriges Vollstudium dazu (vgl. Buss 2009). Nach den im einzelnen durchaus beachtenswerten und relevanten Vorentwicklungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts konnte in dem vergleichsweise kurzem Zeitraum eines Jahrzehnts bis zum Ende der 1920er Jahre ein ‚Gebäude‘ des allgemeinen Hochschulsports und einer beginnenden systematischen Sportwissenschaft an den Universitäten mit hauptamtlichem Personal, mit im Universitätsgefüge fest verankerten einschlägigen akademischen Gremien (insbesondere mit dem noch bis lange Zeit nach 1945 einflussreichen Gremium des „Deutschen Hochschulamtes für Leibesübungen“, dem DeHofL, mit Instituten für Leibesübungen, einer anerkannten vollakademischen Sportlehrerausbildung sowie mit vielfältigen universitätseigenen Sportstätten aufgebaut werden.

Die Entwicklung im Nationalsozialismus – Anpassung an die ideologischen und politischen Anforderungen des Regimes

Dass die Herausbildung voll ausgebauter Strukturen im Hochschulsport und vor allem der Sportwissenschaft dann doch noch Jahrzehnte dauern sollte (im Westen Deutschlands bis zum Anfang der 1970er Jahre), war der spezifischen politischen Entwicklung in Deutschland geschuldet – insbesondere der Existenz der NS-Diktatur sowie dem daraus resultierenden 2. Weltkrieg mit seinen Folgen bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus. Dabei erfuhren das seit 1929 bestehende akademische Studienfach „Leibesübungen“ sowie der Hochschulsport im Nationalsozialismus zunächst eine sich fortsetzende Aufwertung, die aber als eine „scheinbare“ zu bezeichnen ist. Aufgrund der exponierten Bedeutung der körperlichen Erziehung in der NS-Ideologie wurden den jetzt als „Hochschulinstitute für Leibesübungen“ (HIfL) benannten Einrichtungen eine herausgehobene Stellung im Universitätsgefüge zugewiesen. Durch das 1934 neu geschaffene „Reichserziehungsministerium“ (REM) wurde die Kultur- und Wissenschaftspolitik des „Dritten Reiches“ weitgehend zentralistisch ausgerichtet. Als Steuerungsinstrument wurde für den Bereich des Sports im Herbst 1934 eine „Hochschulsportordnung“ erlassen. Nach der waren die HIfL für eine jetzt realisierte dreisemestrige Sportpflicht für alle Studierenden, den Wettkampfsport und die Lehrerausbildung auf dem Gebiet der körperlichen Erziehung verantwortlich. Darüber hinaus wurde der gesamte Komplex des Sports an den Universtäten und Hochschulen aus der Selbstverwaltung der Universitäten ausgegliedert und in der speziellen wehrertüchtigenden Ausrichtung und Förderung als „Politische Leibeserziehung“ direkt dem neu geschaffenen Amt „Körperliche Erziehung“ (Amt „K“) im REM unterstellt (vgl. Buss 2012, 52-56). Winfried Joch weist zwar darauf hin, dass zum Aufgabenkatalog der HIfL auch die „wissenschaftliche Erforschung der Leibesübungen und die wissenschaftliche Begründung der körperlichen Erziehung gehörte“ (Joch 1982, 734), solche wissenschaftlichen Aktivitäten jedoch nicht nur in der realen Praxis, sondern auch schon konzeptionell von „minderer Bedeutung“ gewesen seien, wie es, Martin Boye, ein führender Mitarbeiter im Amt „K“ schon 1934 formulierte. Die Zeit verlange „tatkräftiges Handeln und persönlichen Einsatz“ und leider sei in den letzten Jahren (der Weimarer Zeit) „die praktische Handhabung der körperlichen Erziehung mit allzuviel Theorie belastet gewesen“ (Boye 1934, 234). Entsprechend war die Wissenschaftsstruktur an den HIfL sowohl in Bezug auf personale Qualifikationen als auch den inhaltlichen ‚Output‘ gering. In den 12 Jahren der NS-Zeit habilitierten sich nur vier Sportwissenschaftler und die ca. 160 Dissertationen mit sportbezogenen Themen wurden nicht bei Sportwissenschaftlern angefertigt, sondern an Lehrstühlen der etablierten Fächer (vgl. Joch 1982, 734). So kam der Sporthistoriker Hajo Bernett zu dem nicht unzutreffenden Urteil, dass die Entwicklung der Sportwissenschaft im Nationalsozialismus für das akademische Personal zwar mit erheblichem sozialen Aufstieg verbunden war, von ihrer inhaltlichen Substanz her jedoch eine „Scheinkonjunktur“(…), qualitativ reduziert, weltanschaulich indoktriniert und politisch instrumentalisiert“ (Bernett 1979, 42). Relativierend muss dazu allerdings ergänzt werden, dass sich das Fach damit kaum von anderen, für das politische System der Nationalsozialisten relevanten Wissenschaftsbereichen unterschied (vgl. beispielhaft Becker et.al. 1987) sowie darüber hinaus die noch junge Disziplin sich mit auch noch in der Aufbauphase befand – sowohl national als auch international.

Die Nachkriegszeit – unterschiedliches Entwicklungstempo in den beiden deutschen Teilstaaten

Die stagnierende bis hin zur Rückläufigkeit verlaufende Entwicklung in der ersten Nachkriegszeit nach 1945 war zwangsläufig von der Notzeit der Nachkriegsjahre geprägt, aber vor allem auch von den politischen Reflexen auf die NS-Zeit. Die traditionellen Gegner einer Akademisierung des Sports aus den etablierten Fächern formierten sich neu und das durch seine weitgehende Selbsteinbindung in das NS-System belastete Personal kämpfte zunächst weitgehend nur um seine ‚Eingliederung‘ in die Nachkriegssysteme der Universitäten und Hochschulen im Osten und Westen des geteilten Deutschlands. Die beiden Systeme entwickelten sich in Bezug auf den Hochschulsport und die Sportwissenschaft nun mit einem sehr unterschiedlichen Entwicklungstempo. In der zentralistisch geführten DDR wurde dem Sport als Teil der umfassenden (real)sozialistischen „Körperkultur“ spätestens mit Erlass des sog. „Jugendgesetzes“ von 1950 eine hohe gesellschaftspolitische Bedeutung zugeschrieben und mit dem Ziel des „allseitig entwickelten Menschen“ auch die Einheit von geistiger und körperlicher Bildung verbunden. Dementsprechend wurde die „Körperkultur und dem Sport“ auch in allen Bildungseinrichtungen der DDR – und damit selbstverständlich auch an den Universitäten und Hochschulen – in besonderem Maße gefördert. Darüber hinaus erhielt die sozialistische Körperkultur mit ihrem Teilsegment „Hochleistungssport“ auch eine nach ‚außen‘ gerichtete Funktion, und zwar die der Mitwirkung bei der Repräsentation des (vermeintlich) „überlegenen“ sozialistischen Gesellschaftssystems. Und in diesem Kontext wurde die sportwissenschaftliche Erkenntnisebene hier schon frühzeitig, spätestens seit Mitte der 1950er Jahre als Basiselement beim Aufbau des Hochleistungssports nicht nur überdurchschnittlich gefördert, sondern die akademische Disziplin „Sportwissenschaft“ auch formal gleichberechtigt auf allen Qualifikationsebenen in das Wissenschaftssystem eingefügt (vgl. Krüger/Kunath, 358). Mit der III. Hochschulreform in der DDR 1968/69 erreichte dann die Sportwissenschaft in der DDR ihr typisches Profil wie es in den beiden weiteren Jahrzehnten der 1970 und 1980er Jahre vor allem in den anwendungsorientierten Disziplinen der Trainingslehre, Bewegungslehre, Sportpsychologie und der sportartenbezogenen Forschung sich als führend in Welt präsentierte – alles primär leistungssportbezogen und mit eindeutiger Schwerpunktsetzung bei der „Deutschen Hochschule für Körperkultur“ (DHfK) in Leipzig (vgl. Buss 2020).

In der föderalistisch strukturierten BRD konnte von einer Disziplin „Sportwissenschaft“ offiziell erst ab Anfang der 1970er Jahre gesprochen werden. Hier war in den 1950er und 1960er Jahren die gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports zumindest bei den für Wissenschafts- und Kulturpolitik verantwortlichen Länderregierungen noch gering ausgeprägt, und zwar bei allen sonst durchaus unterschiedlichen Positionen in dieser Frage übereinstimmend. Und für den auch in dieser Zeit schon prestigeträchtigen Hochleistungssport stand eine systematische wissenschaftliche Unterstützung noch nicht zur Diskussion; man war auch so im internationalen Vergleich (noch) recht erfolgreich. An den Universitäten und Hochschulen wurde weitgehend die Infrastruktur aus den 1920er und 1930er Jahren übernommen und auf niedrigem Niveau erhalten, weitgehend allein ausgerichtet auf einen mehr schlecht als recht geförderten allgemeinen Hochschulsport sowie die Ausbildung von Sportlehrern für die Schulen aller Gattungen an den IfL der Universitäten und den Abteilungen „Sportpädagogik“ der Pädagogischen Hochschulen. Wissenschaftliche Aktivitäten blieben in dieser Zeit noch weitgehend dem Interesse einzelner Personen überlassen, ganz abgesehen von fehlender Forschungsförderung sowie einschlägigen akademischen Qualifikations- und Aufstiegsmöglichkeiten. So kam der renommierte Tübinger Sportpädagoge und ab 1968 einer der ersten habilitierten Sportwissenschaftler im Professorenamt, Ommo Grupe, 2006 im Rückblick auf diese ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte zu der Feststellung: „Allzu viel an wirklich überzeugenden wissenschaftlichen Leistungen hatte unser Fach zu der Zeit noch nicht anzubieten“ (Grupe 2006, 360/361). Eine Änderung vollzog sich erst mit einer politischen Neubewertung von Sport und Bewegung sowohl als relevante gesamtgesellschaftliche Gesundheitsfaktoren als auch als Mittel der staatlichen Selbstdarstellung. Dies galt insbesondere für einen nun auch in der BRD wissenschaftlich zu begleitenden Hochleistungssport ­– nicht zuletzt in der Konkurrenz mit der in diesem Bereich zur internationalen Elite aufgestiegenen DDR sowie im Blick auf die Gastgeberschaft der Olympischen Sommerspiele 1972 in der Bundesrepublik. Darüber hinaus veränderte sich Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre infolge des verstärkten Zugangs von Studierenden aus sozialschwächeren Schichten auch die Struktur der Universitäten und Hochschulen – hin zu Massenuniversitäten. Als Reaktion darauf mussten die universitären Ausbildungskapazitäten erhöht werden, was in der BRD bis 1975 zu ca. 20 Neugründungen von Universitäten und Gesamthochschulen führte. In diesem Zusammenhang wurde auch das akademische Sportstudium erheblich stärker nachgefragt, so dass gerade auch über die neuen Universitäten die sportwissenschaftlichen Einrichtungen nicht nur quantitativ ausgebaut, sondern auch qualitativ umgebaut wurden. Seit Ende der 1960er Jahre wurden die alten IfL-Strukturen an den Universitäten aufgelöst und durch neue sportwissenschaftlichen Einrichtungen abgelöst, jetzt als „Institute für Sportwissenschaft“ mit ausdifferenzierten Professorenämtern und Zugehörigkeit zu Fakultäten. Gleichzeitig wurde der Allgemeine Hochschulsport nach und nach zu selbstständigen Einrichtungen umgestaltet. Mit dieser der DDR nachfolgenden Entwicklung in der BRD ab ca. 1970 war der Sport und die Sportwissenschaft an den Universitäten und Hochschulen endgültig in beiden deutschen Teilstaaten auch de facto ein institutionell gesicherter und voll etablierter Bestandteil des universitären Gesamtsystems.

Fazit und was ist noch zu tun?

Bleibt im Fazit die bei der Betrachtung und Analyse einer historischen Entwicklung sich stets stellenden Fragen nach den Kontinuitäten und was aus heutiger Sicht in Bezug auf die Entwicklungsgeschichte der Sportwissenschaft noch als Desiderat im Raume steht. Gab es diese Kontinuität von dem Ausgangspunkt, dem „Göttinger Studententag 1920“ am Anfang der Weimarer Republik, bis zur Entwicklung einer etablierten universitären Sportwissenschaft und einem selbständigen, institutionalisierten Hochschulsport seit Beginn der 1970er Jahre auch in der BRD überhaupt, und wenn ja, in welcher Art? Unbestreitbar war der Impuls, der vom Göttinger Studententag 1920, also von der Studentenschaft ausging, von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung. Aber es war auch ‚nur‘ eine „Wegmarke“ auf einer noch von zahlreichen Hindernissen besetzten Strecke hin zum Hochschulsport und zur Sportwissenschaft heutiger Zeit – so wie es von Court gekennzeichnet wurde. Die von den Studenten über den Pflichtsport hinaus geforderten Strukturen realisierten sich jedoch in erheblichem Maße schon in den 1920er Jahren und wurden ein Fundament für den weiteren Ausbau des Sports an den Universitäten und Hochschulen moderner Art. Dass die Entwicklung bis 1970 und weiter dann bis heute nicht geradlinig verlief, zeitweise stagnierte sowie auch von Fehlentwicklungen und Rückschritten vielfach gehemmt wurde, ergab sich weitestgehend aus der jeweiligen politischen Gesamtbedingung. So veränderten sich auch die Impulse und die Impulsgeber (auch die retardierenden Kräfte) in der jeweiligen Zeitsituation, von den Studenten und Hochschullehrern am Beginn der 1920er Jahre zu der ersten in Kooperation mit Wissenschaftspolitikern der Länder kooperierenden Generation von hauptamtlichen Sportdozenten ab Mitte der 1920er Jahre. In der NS-Diktatur waren es die nationalsozialistischen Machthaber und ihre Protagonisten im Amt „K“ des Reichserziehungsministeriums sowie in der Nachkriegszeit zunächst die ‚alten-neuen‘ Leitungsgremien der Universitäten und Hochschulen und dann im Westen die übergeordneten Kultusminister der Bundesländer, im Osten die neuen Machthaber der SED mit ihrer ‚sozialistischen‘ Kulturpolitik. Schließlich ergab sich im Westen in den 1960er Jahren eine dynamische Gemengelage aus sportverbandlichen Interessen, aus gesamtgesellschaftlichen übergeordneten politischen Anforderungen in der Bildungspolitik sowie aus wissenschaftspolitischen Notwendigkeiten, im Osten auch dort die Notwendigkeit zu Anpassungen, was sich in der dortigen III. Hochschulreform von 1968/1969 niederschlug. Der Anteil der noch Anfang der 1920er Jahre so aktiven Studentenschaft war bei dieser Gesamtentwicklung allerdings nie mehr von Bedeutung. Insofern ist nur bedingt von einer Kontinuität zwischen 1920 und 1970 folgend zu sprechen.

Die Frage nach den Desideraten in Bezug auf die historische Analyse der Entwicklung eröffnet allerdings nun noch ein ganz neues Kapitel der Betrachtung. Selbst wenn man zu der Feststellung kommt, dass mit dem erreichten Entwicklungsstand von 1970 sich letztlich die bis heute gültige Struktur des seit 1976 auch gesetzlich verankerten „Allgemeinen Hochschulsports“ an ca. 200 Universitäten und Hochschulen (zusammengeschlossen im „Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverband“ – ADH) sowie flächendeckend der Disziplin der „Sportwissenschaft“ mit 65 in das Universitätsgefüge vollintegrierten „Instituten für Sportwissenschaft“ (incl. der Dozentenvereinigung der „Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft“– DVS) in Deutschland ergeben hat und diese beiden Bereiche heute unverzichtbare Glieder des bundesrepublikanischen Wissenschafts- und Sportsystems sind, ist damit noch nicht beantwortet, wie sich dieser Prozess des Umbaus vollzogen hat. Dies gilt für die Entwicklung ab 1970 in der Bundesrepublik gleichermaßen wie für die Weiterentwicklung von1969 bis 1990 in der DDR. Dieses Kapitel wurde noch nicht geschrieben. Diese Aufgabe sollte dingend angegangen werden, und zwar in einem kritischen, diskursiven Prozess unter Einbeziehung der noch zur Verfügung stehenden Zeitzeugen.

 

Anhang:

2. Deutscher Studententag in Göttingen vom 22.-27. Juli 1920
Leitsätzen für die körperliche Erziehung an den Hochschulen

  1. Jede Hochschule errichtet ein „Amt für Leibesübungen“. Seine Zusammensetzung erfolgt nach Zweckmäßigkeitsgründen durch die Studentenschaft möglichst aus Fachleuten und unter Berücksichtigung seither bestehender Einrichtungen.
  2. Dem Amt für Leibesübungen obliegt die Aufsicht und die Durchführung der an der Hochschule betriebenen Leibesübungen.
  3. Jeder Studierende ist verpflichtet, während seiner Studienzeit Leibesübungen zu treiben.
  4. Zu diesem Zweck erhält jeder Studierende bei seinem ersten Eintritt in die Hochschule ein „Sportbuch“ ausgehändigt, welches er während seiner Studienzeit aufbewahrt und zu führen hat. Das Sportbuch ist für alle deutschen Hochschulen einheitlich und hat an jeder deutschen Hochschule Gültigkeit.
  5. Innerhalb der ersten beiden Semester der an einer deutschen Hochschule verbrachten Studienzeit hat jeder Studierende zwei Leistungsprüfungen, im Wesentlichen nach den Grundsätzen für den Erwerb des Deutschen Turn- und Sportabzeichens, abzulegen. Die Prüfungen haben in einem Abstand von mindestens einem Jahr zu erfolgen.
  6. In regelmäßigen Zwischenräumen setzt das Amt für Leibesübungen Prüfungszeiten fest, in welchen jeder Studierende die Prüfung über die von ihm erwählten Übungen ablegen kann. Außerdem können studentische Körperschaften und Vereine besondere Prüfungstermine beantragen.
  7. Über eine erfolgreich bestandene Prüfung stellt das Amt für Leibesübungen eine Bescheinigung aus. Die Leistungsergebnisse werden in das Sportbuch eingetragen. Im Falle des Nichtbestehens kann die Prüfung wiederholt werden. Außerdem kann in diesem Falle das Amt für Leibesübungen an Stelle der Prüfungsbescheinigung    begutachten, dass der Nachweis regelmäßiger Sportbetätigung erbracht ist.
  8. Der Nachweis einer Leistungsprüfung wird dadurch ersetzt, dass der Studierende in dem betreffenden Jahre das Deutsche Sportabzeichen oder eine Hochschulmeisterschaft erwirbt. Dem Nachweis gleich steht ein Sieg auf dem deutsch-akademischen Olympia.
  9. An jeder Hochschule finden nach Möglichkeit mindestens zweimal jährlich Wettkämpfe statt, bei denen die Hochschulmeisterschaften ausgetragen werden.
  10. Jede Hochschule stellt hauptamtliche Turn- und Sportlehrer an, die nach Möglichkeit die Berechtigung zur akademischen Lehrtätigkeit im Einvernehmen mit dem Amt für Leibesübungen haben.
  11. An jeder Hochschule ist ein Sportarzt zu bestellen, dem die amtliche Entscheidung zusteht, ob ein Studierender vorübergehend oder dauernd von der Teilnahme an den Leibesübungen zu befreien ist. Die Befreiung soll nur dann erfolgen, wenn nachteilige Folgen für die Gesundung des Studierenden zu befürchten sind. Ein entsprechender Vermerk ist in das Sportbuch einzutragen.
  12. Kein Studierender kann aus anderen Gründen körperlicher Untauglichkeit von der Teilnahme an den Leibesübungen befreit werden.
  13. Kein Studierender darf zur Ablegung einer staatlichen oder akademischen Abschlussprüfung zugelassen werden, der nicht zwei der in §7 bezeichneten   Bescheinigungen beibringt.

(abgedruckt bei Buss 1975, 45-46)

 

Literatur:

Becker, Heinrich/ Dahms, Hans-Joachim/ Wegeler, Cornelia (Hrsg.) (1987): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus – Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte. K.S. Saur: München.

Bernett, H. (1979): Wissenschaft und Weltanschauung – Sportlehrerausbildung   im Dritten Reich. In A. Krüger & D. Niedlich (Hrsg.), Ursachen der            Schulsport-Misere in Deutschland. Festschrift für Professor Paschen London:Arena Publications, 32-44.

Boye, Martin (1934): Die Bedeutung des SA-Sportabzeichens für die körperliche Erziehung. In: Leibesübungen und körperliche Erziehung, Nr. 1, 234-236.

Buss, Wolfgang (1975): Die Entwicklung des deutschen Hochschulsports vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des NS-Staates – Umbruch und Neuanfang oder Kontinuität?, Diss. Phil., Göttingen.

Buss, Wolfgang/ Peiffer, Lorenz (1986): 50 Jahre Hochschulsportordnung. In: Sportwissenschaft 1/1986, 38-60.

Buss, Wolfgang (2001): (Sport)politische-historische Rahmenbedingungen. In W.Buss & C. Becker (Hrsg.), Der Sport in der SBZ und frühen DDR – Genese-Struktur- Bedingungen. Hofmann-Verlag: Schorndorf, 110-163.

Buss, Wolfgang (2009): 80 Jahre vollakademische Sportlehrerausbildung. Die Etablierung des Studienfaches „Leibesübungen und körperliche Erziehung“ an den preußischen Universitäten

im Jahre 1929 – die Vorgeschichte und die weitere Entwicklung bis in die Nachkriegszeit. In: Sportwissenschaft, 39 (2009), Heft 4, 283-295.

Buss, Wolfgang (2012): NS-Karrieren – das Netzwerk Krümmel. In Blecking, Diethelm/Peiffer, Lorenz, Sportler im „Jahrhundert der Lager“ – Profiteure, Widerständler und Opfer. Verlag Die Werkstatt:Göttingen, 52-70.

Buss, Wolfgang (2018): Die westdeutsche Sportwissenschaft in der Nachkriegszeit 1945-1970. In J. Court & A. Müller (Hrsg.), Jahrbuch 2017 der Deutschen Gesellschaft für die Geschichte der Sportwissenschaft e.V. LIT-Verlag: Berlin, 77-130.

Buss, Wolfgang (2020): Zur Geschichte der Sportwissenschaft in der DDR 1946 bis 1969 – Wissensstand und Desiderate. Erscheint in J. Court & A. Müller (Hrsg.), Jahrbuch 2020 der Deutschen Gesellschaft für die Geschichte der Sportwissenschaft     e.V. LIT-Verlag: Berlin.

Court, Jürgen (2019): Deutsche Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Bd. 3: Institute für Leibesübungen 1920-1925. LIT-Verlag: Berlin.

Grupe, Ommo (2006): Über das Problem einer Wissenschaft der Leibesübungen (oder der Leibeserziehung) als pädagogische Disziplin. In J. Court/E. Meinberg (Hrsg.); Klassiker und Wegbereiter der Sportwissenschaft. Kohlhammer:Stuttgart, 358-369.

Hartman, Michael (2007): Eliten und Macht in Europa: ein internationaler Vergleich. Campus Verlag: Frankfurt/Main.

Fahlbusch, Michael u.s.(Hrsg.) (2017): Handbuch der völkischen Wissenschaften, Bd. 1, Biographien, 2. Aufl. De Gruyter Oldenbourg:Berlin.

Joch, Winfried (1982): Sport und Leibeserziehung im Dritten Reich. In H. Ueberhorst (Hrsg.), Geschichte der Leibesübungen, Band 3/2. Bartels & Wernitz:Berlin, 701 – 743.

Mester, Ludwig 1931: Die Körpererziehung an den Universitäten. Eine historisch-systematische Untersuchung über die Bedeutung der körperlichen Übungen für das Universitätsleben der Reformation, der Aufklärung und des Neuhumanismus. Beltz: Berlin.

Petke, Wolfgang (1987): Karl Brandi und die Geschichtswissenschaft in Göttingen. In Hartmut Boockmann (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen, 287-320.


Prof. Dr. Wolfgang Buss ist Sporthistoriker und Professor an der Universität Göttingen.