Sportethischer Etikettenschwindel

Ethik-Code, Compliance, Unabhängigkeit und Transparenz – glücklicherweise ist der allgemeine ethische Diskurs in unserer Gesellschaft mittlerweile auch im System des Sports angelangt. Dabei fällt auf, dass jene, die sich an diesem Diskurs beteiligen, sich oft über die Bedeutung des Begriffs „Ethik“ nicht bewusst sind, die Inhalte, die eine Sportethik prägen könnten, nicht kennen und die Reichweite dieses Diskurses nicht beurteilen können. Der aktuelle Diskurs ist vor allem durch Schlagwörter geprägt. Transparenz, Compliance, Unabhängigkeit sind beispielhafte Etiketten dieses Diskurses. Es soll dabei um mehr Demokratie, um eine bessere Gesellschaft und um einen besseren Sport gehen. Beobachtet man allerdings die ethischen Debatten über einen längeren Zeitraum, so kann man sehr schnell erkennen, dass das aktuelle Niveau der sportethischen Diskussionen weder hilfreich noch weiterführend ist.

In der Debatte über den Anti-Doping-Kampf steht das Wort „Unabhängigkeit“ ganz oben auf der Tagesordnung. Der neu gewählte Präsident des Internationalen Leichtathletikverbandes Coe wiederholt diese Forderung gebetsmühlenhaft in jeder Rede und öffentlichen Stellungnahme. Politiker im Deutschen Bundestag übertreffen sich gegenseitig bei der Wiederholung dieser Forderung und die Redundanz ist kaum zu übertreffen, mit der das Wort Unabhängigkeit in Verbindung mit dem Dopingproblem in der öffentlichen Berichterstattung zum Stereotyp wird. Naheliegende Fragen, die mit der Forderung nach Unabhängigkeit verbunden sind, werden jedoch weder gestellt noch beantwortet. Ohne Zweifel ist es richtig, wenn behauptet wird, dass der aktuelle Anti-Doping-Kampf derzeit nicht unabhängig von den Betroffenen geführt wird. Die Gefahr der Parteilichkeit ist offensichtlich, wenn ein IOC Vizepräsident gleichzeitig Präsident der WADA ist. Diese Gefahr war aber auch gegeben, als der Präsident der WADA aus dem Bereich der staatlichen Politik auf die Stelle des WADA-Präsidenten berufen wurde. Die Frage nach der Unabhängigkeit der WADA wird vor allem im Zusammenhang mit Fehlern gestellt, die ganz offensichtlich von der derzeit existierenden WADA gemacht werden. Dabei wird nicht überprüft, ob diese Fehler beseitigt werden können, wenn die WADA sich unabhängig darstellen würde oder ob die Fehler möglicherweise andere Ursachen aufweisen, die mit der Kompetenz des hauptamtlichen Personals und mit der Ausstattung der WADA, ihrer Definition und ihrem Auftrag zu tun haben. Eine genaue Fehleranalyse würde sehr schnell offenlegen, dass mit einer Forderung nach Unabhängigkeit die Probleme der WADA nicht gelöst wären. Ist die Forderung nach Unabhängigkeit wichtig, so muss man aber die Frage beantworten, wie man Unabhängigkeit herstellen kann.

Im Anti-Doping-Kampf stellt sich der Sport als geschlossenes System dar. Sollte eine Anti-Doping-Organisation wie die WADA völlig unabhängig von diesem System sein, so stellt sich die Frage nach deren Finanzierung. Es ist eine Binsenweisheit, dass jene, die bezahlen, davon ausgehen, dass sie etwas zu sagen haben. Heute wird der Anti-Doping-Kampf vorrangig vom IOC und vom Steuerzahler finanziert. Die Athleten, die ein ureigenes Interesse am Anti-Doping-Kampf haben müssten, haben sich bislang an der Finanzierung nicht beteiligt. Die meisten Sportorganisationen weisen in ihren Haushalten nur geringe oder gar keine finanziellen Beiträge zugunsten des Anti-Doping-Kampfes aus. Dabei muss nicht nur das IOC als eine problematische Organisation im Anti-Doping-Kampf beobachtet werden, auch die Staaten, die im Verbund die WADA finanzieren, können durchaus als kritische Partei gesehen werden. Von einer völligen Unabhängigkeit kann deshalb bei einer staatlichen Förderung nicht die Rede sein. Bislang gibt es nur ganz selten Vorschläge, wie eine unabhängige Anti-Doping-Organisation finanziert werden müsste, damit zumindest eine relative Unabhängigkeit im Anti-Doping-Kampf erreicht wird. Aber auch die Frage, wie man sich die Entscheidungsgremien einer unabhängigen WADA vorstellt, ist bislang nicht beantwortet. Aus welchen Personenkreisen rekrutieren sich die angeblich unabhängigen Entscheider? Wer beruft sie für wie lange? Mit welcher Kompetenz müssen sie ausgestattet sein? Sollten es ausschließlich hauptamtliche Gremien sein, die allerdings dann ohne Markt agieren oder ist eine ehrenamtlich-hauptamtliche Kombination des Personals erwünscht? Viele weitere schwierige und schwer zu beantwortende Fragen müssen in diesem Zusammenhang noch gestellt werden. Es wird dabei deutlich, dass die Forderung nach Unabhängigkeit des Anti-Doping-Kampfes populistisch ist, ohne dass sich die Populisten ernsthaft um eine Umsetzung ihrer Forderung bemühen.

Das Wort „Transparenz“ wird in ähnlich populistischer Weise in den Debatten des Sports verwendet wie das Wort Unabhängigkeit. In jüngster Zeit war von Transparenz vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung einer neuen Leistungssportkonzeption des Bundesministers des Inneren und des Deutschen Olympischen Sportbundes die Rede. Dem alten Verteilungsverfahren der öffentlichen Mittel zugunsten des Hochleistungssports wurde vorgeworfen, dass es nicht ausreichend transparent gewesen sei und dass es deshalb durch ein transparentes neues System zu ersetzen ist. Die Kritik in Bezug auf die nicht vorhandene Transparenz ist ohne Zweifel berechtigt. Der Steuerzahler fördert den deutschen Hochleistungssport mit ca. 150 Millionen Euro pro Jahr über den Etat des Bundesministers des Inneren. Sachverwalter des Etats ist der Deutsche Olympische Sportbund. Die olympischen Spitzenverbände erhalten seit Jahrzehnten aus diesem Leistungssportfördertopf ihren Anteil, um Trainer, Trainingslager, medizinische Betreuung und weitere Dienstleistungen zugunsten der Athleten zu finanzieren. Nun wurde ein neues Förderkonzept verabschiedet, in dem sehr sinnvolle Entscheidungsprozesse festgelegt sind, um auf der Grundlage einer sorgfältigen Analyse die Förderwürdigkeit der einzelnen Verbände zu bestimmen. Am Anfang steht eine Potenzialanalyse, die möglicherweise noch verbesserungswürdig ist, die jedoch durchaus Sinn macht. Auf deren Grundlage findet eine Einstufung der Sportverbände statt, um dann schließlich im Dialog mit den Verbänden selbst die Förderung festzulegen. All dies ist angemessen, doch hat dies mit der Forderung nach Transparenz nichts zu tun. Ob das Verfahren transparent ist, wird sich erst danach entscheiden. Gehen wir davon aus, dass eine Summe von 150 Millionen Euro zur Verteilung ansteht, so stellt sich die erste Frage, wie viele Millionen der Deutsche Schwimm-Verband, der Deutsche Kanu-Verband, der Deutsche Leichtathletik-Verband, der Deutsche Handballbund, der Deutsche Golf-Verband etc., das heißt, wie viele Fördermittel den olympischen Verbänden aus diesem Fördertopf zugeteilt werden. Als nächstes stellt sich die Frage, was diese Verbände mit diesen Mitteln tun. Wie viele Trainerstellen werden damit finanziert, wie viel Verwaltungspersonal, wie viele Trainingslager, wie viele medizinische Dienstleistungen, wie viele leistungsdiagnostische Maßnahmen? Die Liste könnte fortgeführt werden. Würde die Forderung nach Transparenz erfüllt, so würden diese Verteilungsdaten in einem nunmehr erwünschten demokratischen Sportsystem öffentlich für jedermann zugänglich sein. Die Verbände könnten sich gegenseitig vergleichen, die Arbeit der Verbände könnte sorgfältig in Bezug auf ihre Effizienz überprüft werden, der Steuerzahler würde ein ausreichendes Feedback über die Verwendung seiner Steuern im Bereich des Sports erhalten. Meines Wissens hat diese Forderung nach einer demokratischen Transparenz innerhalb der jüngsten Debatte zur Reform des deutschen Hochleistungssports keiner der Beteiligten gestellt. Vermutlich ist auch niemand daran interessiert. Dies bedeutet jedoch nicht mehr und nicht weniger, dass sich im Vergleich zu den Verhältnissen in früheren Zeiten gar nichts geändert hat. Die Verteilung der Steuermittel ist weder demokratisch noch transparent. Im Sportdiskurs ist die Forderung nach Transparenz vielmehr ein ethisch aufgeladener Fetisch, den man zur Legitimation des eigenen Handelns verwenden muss, mit dem man jedoch möglichst nicht ernst machen sollte. Auch für diesen Bereich fehlen also alle Antworten auf weiterführende Fragen, die sich durch die Forderung nach Transparenz ergeben.

Am problematischsten ist wohl der ethische Diskurs im System des Sports dann, wenn die Forderung nach „Ethikkommissionen“ diskutiert wird. Der Begriff „Ethikkommission“ ist wie kaum ein anderer Begriff positiv aufgeladen. Die Mitglieder dieser Kommission sollen Ethikexperten sein. Sie sollen unabhängig sein und sie sollen vor allem den Organisationen des Sports und deren Funktionären den Spiegel vorhalten, damit sie auf den moralisch erwünschten Weg zurückfinden. Schaut man genauer auf das Phänomen der Ethikkommission im Sport, so muss man erkennen, dass dabei ganz offensichtlich nur Juristen als Ethikexperten gelten. Dass es hingegen an vielen Universitäten der Welt Lehrstühle für Ethik gibt, dass es Philosophen und Theologen gibt, die sich als Experten zu Fragen der Ethik ausweisen – dies alles hat der Sport bei der Berufung seiner Ethikkommissionen ganz offensichtlich noch nicht zur Kenntnis genommen.

Die Frage muss gestellt sein, wer die Ethikkommissionen des Sports beruft. Betrachtet man die FIFA, so war es der ehemalige Präsident persönlich, der befreundete Juristen in seine Ethikkommission hineingeholt hat. Bei der IAAF war es der ebenfalls wegen Korruption angeklagte Präsident, der Juristen aus seinem Umfeld in diese Kommission berufen hat. Das Council der IAAF konnte bei diesem Berufungsprozess lediglich per Akklamation zustimmen. Von einer Unabhängigkeit dieser Ethikkommission kann dabei ganz gewiss nicht die Rede sein. Die Frage stellt sich aber auch, wer die Arbeit dieser Kommissionen finanziert. Tagen Berufsjuristen, so sind ihre Tagegelder durchaus beachtlich. Höhere vierstellige Summen sind dabei normal und es kann vermutet werden, dass jeder Sitzungstag durchaus als ökonomisch interessant betrachtet werden kann. Welchen Regeln sind solche Ethikkommissionen unterworfen, in welchem Zeitraum haben sie ihre Entscheidungen herbeizuführen? IAAF-Präsident Diack wurde bislang weder in seiner Funktion als Ehrenpräsident suspendiert oder es wurde ihm gar dieses Amt aberkannt, obgleich der Korruptionsverdacht bereits mehrere Jahre öffentlich diskutiert wird. Es gibt Verdächtige, die mehrere Monate auf eine Stellungnahme der Ethikkommission warten, ohne dass sie bislang überhaupt angehört wurden. Gewiss haben alle Mitglieder von Ethikkommissionen einen Hauptberuf. Ihre Tätigkeit im Bereich des Sports resultiert aus ihrer Sympathie gegenüber dem Sportsystem. Es sind ehemalige Athleten, die Jura studiert oder Anwälte, die sich in einzelnen Sportorganisationen als juristische Berater empfohlen haben. Ihre juristische Kompetenz ist vermutlich gegeben, wenngleich ganz offensichtlich auch Mittelmäßigkeit anzutreffen ist. Die entscheidenden Fragen sind: nach welchen Verfahrensregeln arbeiten solche Kommissionen, welche Eigeninteressen fließen in diese Arbeit ein, welches materielle Risiko entsteht für jene, die die Ethikkommissionen finanzieren? Der Sinn und die Notwendigkeit von Ethikkommissionen kann kaum angezweifelt werden. Die Zusammensetzungen der bestehenden Ethikkommissionen und ihre fragwürdige Abhängigkeit und nicht zuletzt ihre Verfahrensregeln gehören jedoch auf den Prüfstand gestellt. Die Annahme, dass in der Einrichtung von Ethikkommissionen die ethischen Probleme des Hochleistungssports gelöst werden können, ist jedoch auch dann, wenn die Prüfung erfolgreich ist, eher als unwahrscheinlich zu bezeichnen. Die Forderung nach weiteren Ethikkommissionen ist populistisch, wenn nicht ernsthaft über deren Arbeit nachgedacht wird.

letzte Überarbeitung: 29.11.2017