Sport – hoffentlich nicht nur der Gesundheit wegen

Helmut Digel

Sieben Thesen zur gesundheitspolitischen Inanspruchnahme des Sports

Vorbemerkungen

Die Karriere des Sports als medizinisches Allheilmittel ist durchaus beachtenswert. Es gibt kaum noch ein gesundheitliches Problem, bei dem es nicht angeraten wäre, mittels einer aktiven Sportausübung dagegen anzugehen. Von manchen „Gesundheitsaposteln“ wurde bereits die Parole ausgegeben: „Lasst uns Sport treiben, unsere Gesundheit ist dann der verdiente Lohn“. So einfach scheint die Verbindung von Sport und Gesundheit zu sein, wenn man Sport und Gesundheit inhaltsleer, kritiklos und oberflächlich behandelt. Leider ist jedoch der Zusammenhang von Sport und Gesundheit sehr viel diffiziler und nur selten treten die erwünschten Wirkungen ein, die uns die Apologeten¹ des Gesundheitssports versprechen. Auf die Frage, warum dies so ist, möchte ich im Folgenden mit sieben Thesen eine Antwort versuchen.

These 1:

Die Verlagerung der Gesundheitsproblematik auf den Verantwortungsbereich der Freizeit und des Individuums lenkt von den eigentlichen Ursachen gesundheitlicher Beeinträchtigun­gen ab und trägt damit zum Fortbestehen dieser Beeinträchtigungen bei.

Fitness und Gesundheit sind heute zu einem dominanten Propagandathema von Wirtschaft und Staat geworden. Es wird dabei eine neue „Ethik der Selbstverantwortung“ für Gesundheit propagiert. Gesundheit wird in die indivi­dualisierte Gesellschaft im Sinne einer individuellen Ver­antwortung eingebunden. Wie bei jedem Propagandathema wird dabei von den eigentlichen Problemen abgelenkt, es wird auf einem Nebenschauplatz eine Problemlösung angeboten, die sich mittel- und langfristig als Irrtum erweisen wird. Eine Gesundheitspolitik, die vorrangig zu einer Angelegenheit von individueller Verantwortung gemacht wird, entzieht sich der sozialen und politischen Verantwortung, verdeckt die Ursachen von Krankheit und erreicht allenfalls Scheinlösungen.

Von besonderer Bedeutung dürfte sein, dass wir – wollen wir über den Zusammenhang zwischen Sport und Gesundheit nachdenken – uns der Frage stellen, welche Rolle die Gesundheit in der Geschichte der modernen Industriegesell­schaft gespielt hat. Die Geschichte der modernen Industrie ist immer auch eine Geschichte deren gesundheitlicher Fol­gen. Bereits in den frühen Anfängen industriellen Produzierens ist der Erhalt der Gesundheit der Arbeitnehmer die zentrale sozialpolitische Frage. Sehr früh musste man erkennen, dass technischer Fortschritt häufig mit unerwünschten Nebenwirkungen zu bezahlen ist. Dieser Sachverhalt gilt auch heute noch (vgl. Van der Pot 1985).

Nach wie vor ergeben sich die Gesundheitsgefährdungen für das Individuum in erster Linie und in überwiegendem Maße aus dem Arbeitsleben und nicht aus dem Bereich individueller Lebensführung.
Wenn über Gesundheitssport gesprochen wird, so muss von sozialer Ungleichheit gesprochen werden. Es muss begriffen werden, dass der Gesundheitseffekt gleichen Verhaltens in den unteren Klassen und Schichten geringer ist als bei den Bessergestellten. Diese können in der Regel sehr viel kompetenter über ihre Verhaltensressourcen verfügen, sie sind kompetenter im Umgang mit einer Präventionsmedizin und sie sind kompetenter, das notwendige Wissen zu erlangen. In Lebensstilen mit hohem Status finden wir eine gesündere Lebensweise. Je besser die Lebensbedingungen, desto höher der Effekt des gesunden Verhaltens, so lautet somit die Regel, die die derzeitige Präventivmedizin beachtet.

Das besondere Problem einer Instrumentalisierung des Sports zugunsten einer präventiven Gesundheitspolitik liegt vorrangig darin, dass über Prävention und Gesundheitsförderung in erster Linie jenes beeinflusst werden soll, was man heute als „Lebensstil“ bezeichnet. Nach die­sem Konzept liegen die Hauptursachen für koronare Herzerkrankungen, für Krebs und Diabetes mellitus in individuellem Fehlverhalten. Dieses individuelle Fehlverhalten verhindert das Erreichen der potenziell möglichen Lebensjahre. Tabak- und Alkoholgenuss, Bewegungsarmut, falsche und übermäßige Ernährung, eigenverschuldeter Stress, das sind die Faktoren, die über einen neu zu definierenden Lebensstil zurückzunehmen sind. Die sozialen und ökologischen Lebensbedingungen der Gesellschaft, Bereiche wie Arbeit, Einkommen, Wohnen, Verkehr, physische Umwelt, all dies kommt bei dieser Konzeption jedoch meist nur am Rande oder gar nicht in das öffentliche Blickfeld. Vielmehr wird die Aufmerksamkeit von Politik und Öffentlichkeit fast ausschließlich auf Verhaltensweisen in der Konsum- und Freizeitsphäre gelenkt. Die gängigen Therapievorschläge lauten: Rauchen einstellen, weniger oder überhaupt keinen Alkohol trinken, Joggen, Gym­nastik machen, weniger oder keine tierischen Fette, weniger Zucker und Kochsalz, dafür aber mehr Ballaststoffe zu sich nehmen, sich entschlacken und abspecken und sich Entspannungstechniken aneignen, um dem Stress vorzubeugen. Hinzu kommt noch die meist medikamentöse Behandlung der Risikofaktoren Bluthochdruck und zu hoher Cholesterinspiegel im Blut (vgl. Forschungsgruppe Gesundheit/WZB-Mitteilungen Nr. 56, 61).

Eine kritische Beleuchtung des Lebensstilkonzeptes führt jedoch zu dem Schluss, dass eine Präventionsmedizin schichtenspezifisch wirkt und zur sozial-ökonomischen Differenzierung und Polarisierung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung beiträgt. Wenn deutsche Apologeten eines Gesundheitssports vom Individuum einen gesunden Lebensstil abverlangen, so wäre es wünschenswert, dass man dabei das internationale Vorbild beachtet. Nirgendwo auf der Welt wurde entschiedener ein gesunder Lebensstil propagiert als in den USA. „Gesunde Lebensführung schützt vor Krankheit“, ist dabei die Maxime. Tatsächlich ist in den letzten Jahrzehnten in den USA die Sterblichkeit durch Herzkrankheiten erheblich rückläufig gewesen. Dennoch ist die USA kein Musterland geworden. Die unteren Sozialschichten haben an den durchschnittlichen Verbesserungen im Gesundheitswesen keinen Anteil. Die allein am Lebensstilkonzept orientierte Präventionspolitik trägt sogar dazu bei, dass die gesundheitsbedingten Lebenschancen in der amerikanischen Gesellschaft noch ungleicher verteilt werden als dies bislang der Fall war. Immer mehr Befunde liegen vor, die uns zeigen, dass die Gesundheit der unteren Schichten in den USA sich in mancher Hinsicht sogar verschlechtert hat. Dies gilt auch für die soziale Verteilung zahlreicher Risikofaktoren. So ist eine nach wie vor existierende Schwarz-Weiß-Trennung zu beobachten. Dies wird deutlich, wenn man die drei Größen „Säug­lingssterblichkeit“, „Lebenserwartung“ und „verlorene potenzielle Lebensjahre“ genauer überprüft. Die Verläufe dieser drei Großen zeigen, dass die soziale Ungleichheit bis Ende der 70er Jahre abnimmt, danach aber mit einer gewissen Verzögerung zur sozial-ökonomischen Polarisierung wieder wächst. Die Differenz zwischen weißen und schwarzen Amerikanern ging 1985 auf 5,8 Jahre zurück, wenige Jahre später wuchs der Unterschied bereits wieder auf 6,4 Jahre an. Ganz ähnliche Verläufe weisen die Indikatoren „verlorene potenzielle Lebensjahre“ und „Säuglingssterblichkeit“ auf.

Es lässt sich zeigen, dass die schlechtere Gesundheit der schwarzen Amerikaner nicht genetische, sondern soziale Ursachen hat. Jene Menschen, deren eigene Gesundheit als schlecht einzuschätzen ist, weisen die geringeren Einkommen auf. Neben dem Einkommen sind auch in der Regel der Beruf oder die Beschäftigung und die Bildung als sozialer Indikator für eine gesundheitspolitische Benachteiligung heranzuziehen.

Will man dies auf einen Nenner bringen, so ist z.B. festzustel­len, dass eine Abnahme der Herzmortalität in der Unterschicht der USA überhaupt nicht stattgefunden hat. Dabei ist die Differenz zwischen den Rassen zu beachten. Die sozio-ökonomischen Differenzen sind jedoch weit prägender. Die Morbiditätsrate von Arbeitern ist mit 9,5 % fast dreimal so hoch wie jene von Akademikern. Der Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen betrug Ende des vergangenen Jahrhunderts dagegen nur 1:1,9.

Die amerikanische Gesellschaft kann als ein natürliches Experiment für eine Lebens­stilpolitik aufgefasst werden, die dem Prinzip Gesundheit verpflichtet ist. Betrachtet man dieses Experi­ment etwas genauer, so können – das sollen diese Beispiele zeigen – ernüchternde Erfahrungen gemacht werden. Die amerikanische Gesundheitspolitik hat ohne Zweifel Erfolge aufzuweisen. So ist in den 80er Jahren die Mortalitätsrate für die meisten Krankheitsarten im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung zurückgegangen. Die Lebenserwartung ist angestiegen. Bei der interessierten internationalen Öffentlichkeit hat die Präventionspolitik der USA vor allem in Bezug auf die Herzerkrankungen besondere Aufmerksamkeit wecken können. Hier wird vor allem auf die Wandlungen des Lebensstils, insbesondere beim Rauchen sowie bei den Ernährungsweisen und der damit verbundenen Senkung des Cholesterinspiegels hingewiesen. Neuere Studien lassen jedoch starke Zweifel an diesem Erklärungs­muster aufkommen. Herzkrankheiten, Krebs, Schlaganfall, Verletzungen und chronische Erkrankungen der Atmungsorgane sind unter den Todesursachen weiterhin von herausragender Bedeutung. Immer deutlicher wird, dass die rückläufige koronare Herzerkrankungs-Sterblichkeit in den USA noch immer auf eine Erklärung wartet und sie kann nicht für ein wie auch immer geartetes Konzept reklamiert werden. Selbst die Senkung des Cholesterinspiegels reduziert nach neuesten Erkenntnissen nicht das Sterblichkeitsrisiko und es ist immer unwahrscheinlicher, dass damit koronare Herzer­krankungen verhindert werden können.

These 2:

Wer den Gesundheitssport propagiert und den Sport zur sozialen Verpflichtung erhebt, bezichtigt die sportlich Inaktiven eines Vergehens an der Gesellschaft und trägt damit zur Diskriminierung dieser Personen bei.

Wenn von Gesundheit heute die Rede ist, so sollte immer gefragt werden, von welchem Gesundheits- und von welchem Verantwortungsbegriff dabei die Rede ist. Welche Gesund­heit ist für unsere Gesellschaft wirklich verträglich und human, welche ist mit zu vielen Kontrollen verknüpft, welche Verantwortung hat wer zu tragen, was entsteht dabei an Konfliktsituationen, welche sind zumutbar und für wen? Mit welcher Gesundheit, mit welcher Verantwortung wollen wir leben? Solche und ähnliche Fragen wurden uns bereits zu Beginn der Neunzigerjahre von Beck-Gernsheim gestellt, und ihre Reflexionen über mögliche Antworten sind auch heute noch beachtenswert (vgl. Beck-Gernsheim 1993, 855 – 859).

Der Umgang mit Fragen und Problemen der Gesundheit bzw. der Krankheit ist in der Moderne zum Problem geworden. Auch zu früheren Zeiten haben die Menschen sich erhofft, gesund zu sein und ohne Schmerzen zu leben. Zu Zeiten als noch das irdische Leben wesentlich von der Religion bestimmt war, in der die Menschen noch an ein Leben nach dem Tod und an die Erlösung von ihren Leiden geglaubt haben, konnte jedoch das irdische Leben nicht jene Bedeutung haben, wie dies heute der Fall ist. Die Säkularisierungsprozesse haben den Glauben an Gott, an die Ewigkeit und die Erlösung bei vielen Menschen brüchig werden lassen. Wenn der Glaube an ein Jenseits sich auflöst, gewinnt Gesundheit neue Bedeutung, es erhöht sich ihr Wert, Gesundheit wird zur irdischen Heilserwartung.

Die Sorge und die Vorsorge für Gesundheit sind schon seit längerer Zeit in jene prägende Tendenz eingepasst, die heute die moderne Industriegesellschaft kennzeichnet. Sie wird in der sozialwissenschaftlichen Diskussion mit dem Stichwort ‚Individualisierung‘ zusammengefasst. In der individualisierten Gesellschaft hat nur das starke Individuum Überlebenschancen. Wer in der Konkurrenz bestehen will, wer auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich sein will, muss Gesundheit, Leistung und Fitness vorweisen. Deshalb ist nun Gesundheit nicht mehr ein Geschenk Gottes, sondern Aufgabe und Lei­stung des individuellen mündigen Bürgers. Der Bürger selbst muss seine Gesundheit hüten, überwachen und pflegen. Andernfalls hat er die Folgen zu tragen.

Wenn es um Gesundheit geht, ist mittlerweile in unserer Gesellschaft alles erlaubt. Mit der Berufung auf Gesundheit werden Hindernisse beiseitegeschoben, Zweifel ausgeräumt, Kritiker zum Schweigen gebracht. Besonders problematisch ist dabei, dass man in einer Gesellschaft, die keinen Gott, keine allgemeinverbindliche Moral und keine fest vorgegebenen Traditionen mehr kennt, gegen Gesundheit nicht argumentieren kann. Vielmehr setzt im Gefolge einer Technik, die die irdische Heilserwartung der Gesundheit für sich beansprucht, eine Erosion der noch geltenden Tabuschwellen und -grenzen ein.

Mit den neuen Gesundheitsverheißungen wurde dabei vor allem eine Expansion des Gesundheitsbegriffes eingeleitet. Dies ereignete sich schleichend, aber im Ergebnis deswegen nicht weniger radikal. Der alte Gesundheitsbegriff wurde als zu eng bewertet; die Erwartungen, die ein neuer Gesundheitsbegriff zu erfüllen hat, müssen nun höhergesteckt werden. Es geht um „Veränderung“, „Verbesserung“, um „Optimierung“. Aus dem alten Körper des Menschen soll ein neuer, ein viel gesünderer und besserer entstehen. Konsequent wird deshalb auch die Aufgabe des Arztes neu definiert. Er soll nicht mehr nur Leben bewahren und schützen, er soll zum Lebensstilexperten werden. Der Arzt weiß nun, was uns nützt, was wir tun sollen, was wir zu essen und zu trinken haben, welche Berufswahl uns guttut und welche Sportart und welche Freizeit zu uns passt. Technisch besteht nun die Mög­lichkeit, dass wir unsere eigenen Risikofaktoren erkennen, etwa die Disposition zum Herzinfarkt oder zu Diabetes und diese und weitere Informationen können nun als Bezugspunkte und Rahmendaten für die persönliche Lebensplanung dienen (vgl. Beck-Gernsheim 1993, 855 – 859).

In der individualisierten Gesellschaft wird somit ein bestimmtes Verständnis von Gesundheit zur gesellschaftlichen Vorgabe, der man sich nicht oder nur unter erheblichen Nachteilen entziehen kann. Es wird dabei nicht direkter Zwang ausgeübt, aber erst recht nicht besteht eine bloße Freiwilligkeit. Es gibt den „freiwilligen Zwang“. Verantwortung ist dabei – ähnlich wie Gesundheit – ein Leitwert, der prägend für unsere modernisierte Industriegesellschaft geworden ist. Doch auch hier – folgt man Beck-Gernsheim – stellt sich ein belastendes Problem: Wer kann gegen Verantwortung sein, wer wollte für unverantwortliches Handeln plädieren? Es ist dabei meist nicht von Verantwortung in direktem Sinne die Rede. Es wird vielmehr von Prävention und prophylaktischen Maßnahmen gesprochen. Beide Begriffe sind in unserer Gesellschaft positiv besetzt. Sie klingen modern, vernünftig, hygienisch, sind ein Bestandteil der allseits geforderten Gesundheitsfürsorge, vergleichbar mit dem Zähneputzen am Morgen und Abend. Hinter dem Verantwortungsbegriff steckt eine bestimmte Logik. Verantwortung heißt: Mehr Autonomie zu besitzen und das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Wer Verantwortung nicht über­nimmt, gilt dabei als verantwortungslos. Sein Unterlassen wird als Schuld gewertet. Genau dies ist heute auf dem Sektor des Gesundheitssports in fortschreitender Tendenz zu beobachten. Auf der einen Seite wird die Freiwilligkeit zu einem wichtigen Wert erklärt, aber auf der anderen Seite entfaltet sich die Sogwirkung der Technik und in kleinen, anfangs kaum merklichen Schritten, wird der Begriff der Verantwortung neu gefüllt und dem technisch Machbaren angepasst. Wer nicht mitmacht, erscheint nach dieser Logik als verantwortungslos, wenn nicht gar schuldig. Deshalb kann es auch kaum überraschen, dass nunmehr bereits in der Gesundheitsdiskussion von Malus- und Bonussport gesprochen wird, dass bestimmter Sport mit Risikokosten verrechnet, anderer Sport hingegen belohnt werden soll. Die Verantwortung, um die es dabei geht, hat viele Adressaten. Da ist die Verantwortung gegenüber der Familie, gegenüber dem Mann, gegenüber der Frau und den Kindern, aber auch gegenüber sich selbst. Es ist dabei kaum noch zu übersehen, dass dem Individuum nicht nur die private Verantwortung für seine eigene Gesundheit zugeschoben wird, sondern ihm darüber hinaus auch die Verantwortung für die Gesundheit seiner Mitmenschen, insbe­sondere die Aufgaben der häuslichen Pflege alter und behinderter Menschen, übertragen wird. Es gibt immer mehr Ebenen der Verantwortung, immer mehr mögliche Schuld, immer mehr Ansatzpunkte für Vorwürfe und Selbstvorwürfe, für sozialen und moralischen Druck. Dies fördert die Bereitschaft, die angebotenen Veränderungen auf dem Gesundheitssektor mitzumachen, damit man sich später nichts vorwerfen muss. Beck-Gernsheim wies eindrucksvoll darauf hin, dass solche Veränderungen erhebliche Gefahren in sich bergen.

Vergleichbare Gefahren wurden auch von Horst Eberhard Richter beobachtet (vgl. Richter 1990, 318 – 323). Er wies meines Erachtens zu Recht darauf hin, dass die aktuelle Gesundheitsdiskussion einhergeht mit einer egozentrischen Ellbogenmen­talität, verbunden mit einer Schwächung von sozialer Sensibilität und introvertierter Besinnlichkeit. Individualismus, das heißt seiner Meinung nach wohl „Ich-Bezogenheit“, das heißt aber nicht selten, sich kämpferisch in der Konkurrenz gegen andere durchzusetzen. Das bedeutet eine Verminderung des sozialen Mitfühlens und des Sich-Sorgens um andere Menschen. Immer deutlicher wird deshalb die Gefahr, dass unsere Gesellschaft dem Leitbild eines „Psycho-Athleten“ folgt, dessen Fitness und Potenz durch keinerlei Belastungen und Zumutungen mehr geschädigt werden kann. Richter wies darauf hin, dass einsichtige Ärzte sich zu allen Zeiten gegen die Überforderung der Heilkunst mit unangemessenen Erwar­tungen gewehrt haben. Unsere aktuelle Sport­politik scheint von dieser Einsicht nur wenig zu wissen. Im Sport wird heute viel zu oft ein Gesundheitsbegriff verwendet, der den Sinn von Krankheit für eine Gesellschaft ausschließt, die ihre Schwächen und Grenzen im ewigen Fort­schritt überwinden will. Heute ist deshalb die Äußerung von einem Pionier der Psychosomatik wie Hans Müller-Eckhardt umso bedeutsamer. Er meinte, dass die vielleicht menschlichste, wichtigste und notwendigste Leistung jene sei, krank sein zu können (zit. nach Richter 1990). Diesen Satz müssen sich all jene merken, die für die Durchsetzung von so genannten „Karenztagen“ sind.

Radikaler noch als Richter formulierte Ivan Illich seine Kritik an der herrschenden Gesundheitsideologie: „Gesundheit in eigener Verantwortung: Danke, nein.“ Der neuen Ethik der Selbstverantwortung für Gesundheit erklärte er seinen aktiven Widerstand. Er forderte „Selbstbegrenzung“, was als Gegensatz zur modischen „Selbstverwirklichung“ zu verstehen ist. In Krankheit und Kränkung sah er „Gelegen­heiten zur Selbstfindung“. Die Vorstellung von der Gesundheit, wie sie in der modernen Gesellschaft existiert, bewertete er als Bruch mit der galenisch-hippokratischen Tradition. Propaganda für Hypochondrie habe in den letzten Jahren dazu geführt, dass z.B. die Reichen in den USA jetzt wohl weniger rauchen, weniger Butter essen, mehr joggen. Gleichzeitig exportiere die USA mehr Tabak und Butter in die übrige Welt. Weltweit – das zeigen alle relevan­ten Statistiken – läuft die Propaganda für medizinisch definierte Gesundheit mit einer realen Verelendung von immer mehr Menschen einher (vgl. Illich 1991, 490 – 496).
Eine Gesundheitspolitik, das sei an dieser Stelle noch einmal betont, die am Konzept individueller Lebensstile ausgerichtet ist, mag für die mittleren und oberen Schichten unserer Gesellschaft erfolgversprechend sein. Gleichzeitig muss jedoch erkannt werden, dass die den Menschen zur Verfügung stehenden Lebensstile in unserer Gesellschaft keineswegs frei wählbar sind. Individualisierung, das mag für manche Wahlfreiheit bedeuten, es bedeutet aber auch Individualisierung der Not und anstelle von rechtsverbindlicher Solidarität tritt persönliches Mitleid. Das Gleichheitsstreben und die demokratische Ausweitung der Bürgerrechte haben auch in Deutschland ein Klima der Selbstgerechtigkeit geschaffen. Lepenies wies darauf hin, dass diese Selbstgerechtigkeit wie eine Leitidee wirkt, die zugleich die privaten Psychen und die öffentlichen Kassen entlastet: „Wer jetzt noch an den Rändern der Gesell­schaft lebt und den Lebensstandard der großen Mehrheit nicht erreicht hat, der ist offenkundig selbst daran schuld. Unterprivilegierung ist in der selbstgerechten Gesellschaft nicht das Ergebnis und das sichtbare Zeichen von Unterdrückung und Ungerechtigkeit, sondern Konsequenz eines Misserfolgs, der auf eigener Entscheidung, auf Unfähigkeit, Apathie oder Interessenlosigkeit beruht. Die kollektive Ausschließung bestimmter Schichten und Gruppen wird ersetzt durch die Ausgrenzung von Individuen. Dadurch sinken zugleich die Organisationschancen der derart Ausgeschlossenen.“ (Lepenies 1993, 19). Soll solchen dennoch geholfen werden, so tritt persönliches Mitleid an die Stelle des Gefühls sozialer Verpflichtung, individuelles Mitleid an die Stelle von rechtsverbindlicher Solidarität.

These 3:

Wer von Gesundheitssport redet, der spaltet den Sport. Er möchte zum Ausdruck bringen, dass es neben diesem Sport einen weiteren Sport gibt, der nicht gesund ist. Diese Spaltung kann nicht akzeptiert werden, zumal die Grundlagen für diese Spaltung nicht existieren. Glei­ches gilt für den Begriff „Vollwertsport“.

Sprachschöpfungen sind von ihren Schöpfern zu verantworten. Die deutsche Sprache unterliegt einem ständigen Wandel. Solcher Wandel ist notwendig und wünschenswert. Die Einführung neuer Begriffe zur präziseren Kennzeichnung neuer Sachverhalte ist dabei ein besonders wichtiger Aspekt. Dabei sind intendierte und institutionell gesetzte Einführungen von schleichenden und teilweise auch unbeabsichtigten Einflüssen zu unterscheiden. Beabsichtigen Institutionen, neue Begriffe in den allgemeinen Sprachgebrauch einzuführen, so sind diese zu verantworten und es müssen die Interessen offengelegt werden, die mit der Einfüh­rung verfolgt werden. Über Begriffe wie „Gesundheitssport“ oder „Vollwertsport“ kann aus germanistischer Sicht gewiss auf treffliche Weise gestritten werden. Auch sprachreinigende Interessen können dabei eine Rolle spielen. Derartige Bemühungen werden sich jedoch als vergeblich erweisen, so wie es bei allen sprachpflegerischen Versuchen der Fall war. Der Begriff „Gesundheitssport“ ist mittlerweile Teil der Alltagssprache geworden und damit hat man sich unter sprachlichen Gesichtspunkten abzufinden. Nicht abzufinden hat man sich jedoch mit den politischen Implikationen dieses neuen Sprachgebrauchs. Wenn bestimmte Sporttreibende zur Kasse gebeten werden sollen, wenn der von Millionen Athleteninnen und Athleten betriebene Wettkampfsport nur noch als „weniger wertvoll“ gelten soll und andere Sportaktivitäten möglicherweise demnach sogar als „wertlos“ zu bezeichnen sind, dann müssen derartige politische Intentionen in aller Entschiedenheit bekämpft werden. Vor allem muss gefragt werden, von welchen Werten dabei die Rede ist. Es wird dabei nämlich ein Gesundheitsbegriff vorausge­setzt, der nicht haltbar ist und es wird dabei einer medizinischen Vorgabe gefolgt, die unter Forschungsgesichtspunkten als unsicher zu bezeichnen ist.

These 4:

Der Sport ist ein bedeutsames Symbolsystem unserer Kultur. Das Handeln im Sport ist ratio­nal und irrational zugleich. Vernunft und Unvernunft hängen im Sport auf das engste zusam­men. Wer dem Sport seine Unvernunft nimmt, der nimmt ihm einen bedeutsamen Teil seiner kulturellen Symbolik.

Der Auftrag des Sports kann nicht in erster Linie gesundheitlicher Natur sein. Der Sport, so wurde es bereits betont, hat in erster Linie eine „kulturelle Bedeutung“. Und diese ist zunächst darin zu sehen, dass Sport ohne direkten Nutzen ist. Der 400-m-Lauf in der Leichtathletik zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass man als Läufer zu jener Stelle zurückläuft, von der man gestartet ist. Künstlicher und damit auch nutzloser kann ein Lauf wohl kaum sein. Sport und Kunst sind in gewissem Sinne in der Tat nutzlos. Doch gäbe es für den Menschen nicht manches Unnütze, so wäre sein Leben kaum lebenswert. Kommt diese Bedeutung zum Tragen, so kann der Sport gleichsam nebenbei einen umfassenden Gesundheitsauftrag erfüllen. Die Sportvereine sollen sich deshalb davor hüten, ihre erfolgreiche Kulturarbeit durch einen angeblich neuen Gesundheitsauftrag zu gefährden und ihre fachliche Konzeption grundlegend zu ändern. Dass aus dem Spielsport der Vergangenheit ein wissenschaftlich ertüftelter Leistungs- und Hochleistungssport geworden ist, mag man bedauern. Es war jedoch eine logische Konsequenz des Wettkampf- und Überbietungsprinzips, das diesen Sport prägt. Sollte jedoch anstelle der musikumrahmten Hausfrauengymnastik, anstelle der Prellballgruppe und anstelle des Volleyballspiels, das kaum physiologischen Belastungsanforderungen genügt, aber Spaß macht, an deren Stelle das mess- und notierbare Fitness-Trimming mit genau vorgeschriebenen Übungen in speziell dafür geschaffenen Anlagen und eigens dafür entwickelten Geräten treten, so hätten die Sportvereine ihre eigentliche Funktion eingebüßt. Die Verantwortlichen in den Vereinen sollten sich deshalb gegen eine technisierte Gesundheitsauffassung wehren. Nutzen Turnen, Spiel und Sport unserer Gesundheit, so ist dies ein erwünschter Effekt. Hat Sport auf unsere Gesundheit keinen Einfluss, so ist er deshalb nicht über­flüssig. All jene aktiven Sportler, die in jungen Jahren zum Sport gefunden haben und für die das Motiv der Gesundheit keine Rolle gespielt hat, können darüber Bedeutsames erzählen.

Zentrales Motiv meines Sporttreibens – und ich meine, dass sich meine Motive mit der Mehrzahl jener Sporttreibenden decken, die Woche für Woche im Verein üben, trainieren und sich am Wochenende in Wettkämpfen zu bewähren versuchen – war und ist, mich in einer Leistungssituation zu bewähren, meinen Aufschlag im Tennis zu verbessern, schneller oder länger zu laufen, weil ich mich über eine gute Leistung freuen möchte, weil ich Freude am Sieg habe. Bezogen auf meine Gesundheit ist solches Handeln in gewissem Maße immer unvernünftig; zumindest habe ich als Athlet in Bezug auf meine Gesundheit unvernünftig gehandelt. Ich habe meine Muskeln bei Zerrungen vereist und habe trotz Verletzungen weitergespielt, ich habe durch zu intensives Training meine Menisken in den Kniegelenken geschädigt, ich habe mehrfache Knochenbrüche bei meinem Sporttreiben in Kauf genommen. All dies war unvernünftig und dennoch – so meine ich -, kann genau diese Art Sport zu treiben als kulturell bedeutsam bezeichnet werden.

Die kulturelle Bedeutung dieses Handelns liegt in erster Linie in der Symbolik für menschliches Leisten, die im Sport zum Ausdruck kommen kann.

Gerade wenn der Sport weiterhin ein kulturell bedeutsames Symbolsystem bleiben soll, sollte ihm kein umfassender Gesundheitsauftrag erteilt werden. Der Sport muss auch weiterhin ein Erfahrungsfeld für Wetteifer, Spiel und Leistung bleiben. Gerade darin liegt sein besonderer Wert für unsere Gesellschaft. Der Gesundheitswert, den der Sport wohl haben kann, im lei­stungsorientierten Sport jedoch nur selten hat, sollte dem kulturellen Wert des Sports untergeordnet werden.

These 5:

Unser Wissen über den Zusammenhang von Sport, Gesundheit und Wohlbefinden ist bis zum heutigen Tage höchst ungenügend. Der Sport kann unsere Gesundheit und unser Wohlbefin­den positiv beeinflussen. Der Sport kann unsere Gesundheit aber auch beeinträchtigen und unser Wohlbefinden schmälern.

Auf dieser vagen Basis von Wissen sollte sich der Sport davor hüten, sich gesundheitspolitisch vereinnahmen zu lassen. Er selbst sollte sich davor hüten, Handlungsempfehlungen in Bezug auf die Gesundheitswirkung des Sports zu geben. Sie können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht verantwortet werden. Mit dieser These sollen vor allem jene überzogenen Erwartungen und Wirkungsvorstellungen in Frage gestellt werden, wie sie heute nahezu bei allen Gesundheitssportkampagnen zu beobachten sind. Diese Infragestellung ist deshalb notwendig, weil der Stand der medizinischen Forschung zum Zusammenhang zwischen Sport, Gesundheit und Krankheit unbefriedigend ist. Die so genannte Risikofaktor-Medizin bzw. die daraus resultierenden Präventionsmaßnahmen legen dem als Risikoperson definierten Bürger angeblich notwendige Verhaltensänderungen nahe, ohne dass der Nachweis positiver Effekte bezüglich vieler Interventionen hinreichend erbracht ist. Allenfalls kann als gesichert gelten, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen mäßig intensivem Ausdauersport und dem Zustand des Herz-Kreislauf-Systems gibt. Ebenso gesichert ist jedoch, dass mancher belastungsintensive Sport unter orthopädischen Gesichtspunkten gesundheitsschädlich wirkt. Die These von der Möglichkeit zur Verlängerung der Lebensspanne der Bürger ist fraglich. Immer mehr deuten solide wissenschaftliche Befunde darauf hin, dass damit nur jene Jahre verlängert werden, die durch chronische Erkrankungen und Einschränkungen gekennzeichnet sind.

Der Stand der medizinischen Forschung ist vor allem deshalb unbefriedigend, weil bislang so gut wie keine soliden repräsentativen Untersuchungen vorliegen. Wer sich heute für den Sport unter Gesundheitsgesichtspunkten ausspricht, bezieht sich zumeist auf Untersuchungen, in denen gleichsam nur die „Sieger des Sporttreibens“ zum Vorschein kommen. Hinzu kommt, dass die gewählten Stichproben meist nur Querschnitte erfassen. Querschnittsbefunde taugen jedoch allenfalls zur For­mulierung von Vermutungen. Zu ihrer Bestätigung sind repräsentative Längsschnittbefunde erforderlich. Solange solche Untersuchungen in ausreichendem Umfang noch nicht vorhanden sind, ist Vorsicht angebracht. Am Beispiel der „Sport für alle“-Kampagne lässt sich dies verdeutlichen. Ohne die Erfolge dieser Kampagne schmälern zu wollen, muss zumindest darauf hingewiesen werden, dass das Ziel der Kampagnen ein uniformes Muster von Körperlichkeit war. Dieses Verständnis von Körperlichkeit ist den Fitness-Kampagnen der Sportverbände ebenso eigen wie jenen „modischen“ Gesundheitswellen, die kommerziell und massenmedial vorge­tragen werden. Solche Kampagnen befinden sich in der Gefahr, gleichmacherisch zu sein; alle sollen dasselbe tun, alle werden an einem Stereotyp ausgerichtet und weil alle und alles gleichgemacht werden, wird die ganze Sache zum Geschäft. Mit der Masse lässt sich ja bekanntlich erst so richtig Geld verdienen. Solche Kritik kann ihrerseits mit dem Hinweis beiseite gewischt werden, dass derartige Vermarktungsstrategien unserer Gesellschaftsform immanent sind und sich erst über Massenkampagnen gesundheitliche Effekte erzielen lassen. Gerade das letzte Argument ist jedoch gesundheitspolitisch fragwürdig. Sehr viele Massenkampagnen in Bezug auf die Volksgesundheit haben in der Vergangenheit ihre Wirkung verfehlt, dabei aber häufig unbeabsichtigte Nebenfolgen hervorgerufen. Wer denkt z.B. bei einer Fitness-Kampagne, vorgetragen von einem weiblichen Idealkörper, der ohne Aerobic und vor dem Training diese äußerliche Idealität besessen hat, an all jene Frauen, die – sich an diesem Idealbild von Körperlichkeit orientierend – scheitern, weil ihnen eine naturgegebene Fettleibigkeit eigen ist. Die psychischen Folgen solchen vergeblichen Bemühens lassen sich in psychiatrischen Praxen beobachten, wo Krankheit als Folge von angeblicher Prävention zu behandeln ist.

Was ist daraus zu lernen? Nicht alles, was im Sport vorgibt, gesund zu sein, ist gesund, und Fitness kann durchaus auch eine Vari­ante lustorientierter Kultur sein, bei der der Körper zunehmend ohne Geist erscheint. „Twiggy“ auf der einen und „Mr. Universum“ auf der anderen Seite sind zwei extreme Varianten einer Schönheits- und Gesundheitssucht, die eigentlich eine Krankheit darstellt. Für beides, so meine ich, sollte sich der Sportverein zu schade sein.

Es gibt aber auch medizinische Gründe, die gegen einen umfassenden gesundheitspolitischen Auftrag der Sportvereine angeführt werden können. Meines Wissens besteht unter Medizinern Übereinstimmung, dass Prävention die Ursachen möglicher Krankheiten aus dem Leben des Patienten auszuschalten hat. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn man die genaueren Lebensumstände kennt, welche in größerer Häufigkeit bestimmte Krankheiten hervorrufen. Dieses Verständnis von Prävention macht deutlich, dass präventives Handeln an gewisse Voraussetzungen geknüpft ist. Der Verein kann in der Regel diese Voraussetzungen nicht erfüllen. Einmal sind seine Mitglieder keine Patienten. Selbst wenn sie dies wären, so ist es für die Verantwortlichen in den Vereinen kaum möglich, die Lebensumstände ihrer Patienten-Mitglieder ausfindig zu machen und dies wiederum in einen bestimmten Zusammenhang zu bestimmten Krankheiten zu bringen. Doch selbst wenn der Verein diese Voraussetzungen erfüllen könnte, müsste gefragt werden, ob dann bestimmte Formen des Sporttreibens präventiver Natur sein können. In der Expertendiskussion um Möglichkeiten der Prävention wird heute häufig von Risikosi­tuationen und Risikofaktoren gesprochen, gegen die präventiv angegangen werden muss. Es besteht dabei ein Konsens, dass es bei einer Vorsorge im engeren Sinne darum gehen muss, dass die Risiken ermittelt werden müssen und dann die vom Men­schen selbst erzeugten Risiken beseitigt werden. Genau dies jedoch kann der Sport nicht leisten. Er ist allenfalls ein Mittler auf dem Weg zu einer erfolgreichen Risikobeseitigung. Folgt man dieser Auffassung, so ist er also nicht im eigentlichen Sinne präventiv. Hinzu kommt, dass selbst dann, wenn Menschen über die gesundheitliche Bedeutung präventiver Maßnahmen informiert wären, bei Betroffe­nen nicht notwendig das persönliche Leben geändert würde. Vielmehr ist es oft sogar so, dass der Risikofaktor Rauchen bewusst in Kauf genommen wird, angesichts der angeblich präventiven Zwischeninstanz Fitness-Training im Verein. Ein Fitness-Angebot von Turn- und Sportvereinen stellt somit nicht per se eine präventive Maßnahme dar. Der Hinweis auf die Risikobeseitigung, den Mediziner bei ihrer Definition des Begriffes der Prävention gegeben hatten, macht vielmehr deutlich, dass eine sinnvolle Prävention letztlich immer auch einhergeht mit politischen Prozessen gesellschaftlicher Veränderung.

These 6:

Der Sport muss sich davor hüten, sich in Bezug auf seine gesundheitspolitische Leistungsfä­higkeit auf der Basis einer Kosten-Nutzen-Kalkulation verrechnen zu lassen.

Schon seit einigen Jahren wird von Politikern und Sportfunktionären ebenso wie von einigen Medizinern ungeprüft behauptet, dass durch regelmäßiges Sporttreiben die Kosten zur Heilung von Krankheiten gemindert werden könnten und dies zur Verlängerung des Lebens beitrage. Solche Äußerungen, ganz gleich, ob sie von Poli­tikern, Sportfunktionären und Medizinern oder anderen Wissenschaftlern stammen, sind spekulativ und in einigen Punkten zweifelhaft.

Will der Sport gesundheitspolitisch verrechnet werden, so muss er sich ökonomischen Berechnungen unterwerfen. Doch gerade dann, wenn man ökonomische Kriterien zu Rate zieht, ist der Gesundheitsauftrag des Sports eine nur wenig gesicherte Funktion. Diese Kritik müssen sich vor allem jene gefallen lassen, die propagieren, dass aktive Sportler einen Beitragsbonus von ihrer Krankenkasse erhalten sollen. Aus soziologischer Sicht muss man vor einem Sportbonus in unse­rem Gesundheitswesen ebenso warnen wie auch ökonomische Bedenken dagegen ausgesprochen werden können. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Gesundheitswesen der Bundesrepublik auch heute noch ganz erhebliche schichtspe­zifische Unterschiede aufweist. Dies gilt zunächst für das Wissen über Krankheit und Gesundheit, es gilt für die Frage des freien Zugangs zum Gesundheitswesen, insbesondere in die ärztlichen Praxen; es gilt auch für die Ursache von Krankheiten und es gilt für die Todesursachen. Nicht zuletzt gilt es aber auch für die Kosten, die Menschen für die Prävention und Heilung von bzw. vor Krankheiten aufbringen können.

Wird der Sport als Bonusfaktor gewertet, so würden die bestehenden Unterschiede schichtspezifisch noch verstärkt. Der Zugang zum Sport wird trotz aller andersartigen Bemühungen bis heute in erster Linie durch die Familie, durch die Wohnumwelt, durch die Bedingungen der Arbeit und durch die finanziellen Möglichkeiten geprägt. Er ist somit keineswegs universell, sondern selektiv.

Alle mir bekannten soziologischen Untersuchungen deuten weiter darauf hin, dass in unserer Gesellschaft gegenwärtig die Information über die Gesundheitswirkungen des Sports und die Handlungsmöglichkeiten im Sport selbst ungleich verteilt sind. Das gleiche gilt für die Informationen über gesundheitsbewusstes Verhalten und die entsprechenden Handlungserfordernisse für gesundes Verhalten. Würde also der Sport über ein Bonussystem an das Gesundheitssystem gekoppelt, so würde dies zu einer Steigerung der Ungerechtigkeiten in unserem Gesundheitswesen führen.

Ökonomisch bedenklich ist außerdem, dass man in Sportfunktionärskreisen, die sich für einen Sportbonus einsetzen, die höheren Lebenserwartungen als Folge von regelmäßigem Sporttreiben nicht unter dem Aspekt von Folgekosten und Nebeneffekten diskutiert. Gesundheitsökonom Wagner wies jedoch bereits 1986 zu Recht darauf hin, dass in einer kurzfristigen gesamtwirtschaftlichen Betrachtung ein hohes Niveau von Krankheit und Sterblichkeit für unsere Gesellschaft keine negative Rolle spielt, da sich der gesamte Wirtschaftskreislauf auf eine bestimmte „Absterbe Ordnung“ eingestellt hat. Deshalb könnte eine Verringerung der Sterbewahrschein­lichkeit zu gesamtwirtschaftlichen Belastungen führen. Hinzu kommt, dass es einer wirtschaftlichen Bedrohung gleichkäme, wenn die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen drastisch zurückgehen würde (vgl. Wagner 1986a, b; 1987).

Außerdem muss bedacht werden, dass Interventionen, die darauf abzielen, das Lebensalter der Menschen zu erhöhen, immer auch bewirken, dass nur wenige gesunde Bürgerinnen und Bürger dieses hohe Alter erreichen und deshalb höhere Gesundheitsaufwendungen pro Kopf erforderlich sind. In diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung zu sehen, dass aufgrund der Zeitökonomie Rentner öfter zum Arzt gehen. Dies alles könnte dazu führen, dass es zu einem Anstieg der Belastungen der Erwerbstätigen für Gesundheitsaufwendungen kommen würde, da aufgrund der derzeit absehbaren Bevölkerungsentwicklung bei gleichzeitiger Erhöhung der Lebenserwartung das Verhältnis von Nicht-Erwerbstätigen zu Erwerbstätigen noch ungünstiger würde, als dies bereits heute schon prognostiziert wird.

Wagner – ein Kenner der Gesundheitsökonomie – meinte deshalb, dass man allenfalls die These aufstellen könne, dass sich durch einen sportlichen und gesünderen Lebensstil Niveau und Struktur der Nachfrage nach Gesundheitsleistun­gen grundsätzlich verändern würden. Nur so könnte man vielleicht behaupten, dass der Sport die direkten Gesundheitskosten mindert. Er fügt jedoch hinzu, dass viele Indizien eher dafürsprechen, dass der Anspruch an Gesundheitsleistungen von gut ausgebildeten, gutverdienenden und gesundheitsbewussten Personen besonders hoch ist. Ein solcher Lebensstil müsste jedoch gefördert werden, damit bislang pas­sive Personen beginnen, aktiv Sport zu treiben. Da mit einem solchen Lebensstil wahrscheinlich auch die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steigen würde, muss man schlussfolgern, dass durch mehr Sport die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen sowohl zeitpunkt- als auch lebenslaufbezogen ansteigen würde.

Es spricht somit selbst dann, wenn es einen positiven Zusammenhang zwischen instrumentalisiertem Sport und gesundheitlichem Wohlbefinden gibt, nur wenig dafür, dass dadurch die Ausgaben für Gesundheitsleistungen im Alter zurückgehen würden. Im Hinblick auf die direkten Kosten des Gesundheitswesens muss sogar angenommen werden, dass beim gegenwärtigen Medizinbetrieb die Kosten sogar eher steigen würden (vgl. Wagner 1987, 217 – 227).

Abschließend zu dieser These muss noch einmal auf den Beitragsbonus zurück­kommen werden, wie er von einigen Sportfunktionären gefordert wird. Uns sollte daran gelegen sein, dass jene, die für den Sport im Verein Verantwortung tragen, sich gegen diese Idee verwehren. Ein differenzierter Beitragssatz würde auf schlecht oder gar nicht abgesicherte sportmedizinische Wirkungsketten aufbauen, er wäre außerdem schwer administrierbar. Wichtiger ist jedoch, dass die Erfahrung gezeigt hat, dass Bonus-Malus-Systeme gegenüber den Ursachen für Belohnungen oder Bestrafungen kaum wirksam sind. Wer sich für ein Bonus-Malus-System in Verbindung mit Sport einsetzt, muss auch wissen, was aufs Spiel gesetzt wird. Wer sich heute für reduzierte Beiträge für Sportler einsetzt, widerspricht den bislang anerkannten Vorstellungen von sozialer Gleichheit und Chancengleichheit in unserem Gesundheitswesen. Hinzu kommt, dass die Befürworter eines Bonusfaktors nahezu zwangsläufig auch das Gegenteil bewirken. Insofern sind Initiativen von Ärztekammern, die zum Ziel haben, Sportlern bestimmter Sportarten einen zusätzlichen Krankenkassenbeitrag abzuverlangen, weil sie in Folge von Verletzungen zu häufig ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, die logische Konsequenz einer von angeblichen „Sportexperten“ ins Spiel gebrachten Forderung. All dies sind Gründe, die gegen einen oktroyierten Sport sprechen. Sport im Verein sollte auch noch heute „freier und selbstbestimmter Sport“ sein.

Wenn Gesundheit mehr ist als nicht krank sein, so kann kaum angenommen werden, dass Gesundheit über den Einsatz singulärer Instrumente, wie z.B. über das aktive Sporttreiben, erreicht werden kann. Das Befinden, also auch das Wohlbefinden eines Menschen, hängt mit seinem ganzen Leben, mit seiner Lebenswelt zusammen, in die er als Mensch eingebunden ist. Will man Gesundheit in diesem Sinne erreichen, so heißt dies also, sein Leben zu ändern. Dazu gehört jedoch mehr als lediglich zusätzlich Sport zu treiben.

These 7:

Die Sportvereine müssen sich auf jene Leistungen beschränken, die sie tatsächlich erfüllen können und die sich auch unter dem Aspekt der zukünftigen Entwicklung unserer Gesellschaft als wünschenswert und verantwortbar herausstellen.

Die Frage, ob angesichts des öffentlichen Interesses der „Gesundheitssport“ zu einer neuen Leitidee für den Vereinssport werden sollte, kann deshalb nur mit einem ent­schiedenen „Nein“ beantwortet werden. Dem gesundheitspolitischen Auftrag sollten sich die Vereine jedoch nicht entziehen. Will der Sport in seinem gesundheitspolitischen Auftrag erfolgreich sein, so muss er sich dafür einsetzen, dass die Gesundheitspolitik die Beseitigung von Krankheit zum Ziel hat.
So wie der Sport auch in anderen sozialen Problemlagen nur bedingt geeignet ist, die Probleme selbst zu lösen, so gilt dies auch für das Gesundheitsproblem unserer Gesellschaft. Der Sport ist weder ein „Allheilmittel“ für Arbeitslosigkeit, Strafvollzug, Ausländerintegration, Drogentherapie, noch für irgendein anderes Gesundheitsproblem in dieser Gesellschaft. Wer vom Sport die Lösung dieser Probleme abverlangt, überfordert ihn. Die Situation, in der sich heute der deutsche Sport befindet, ist die zwangsläufige Folge seiner umfassenden gesellschaftlichen Inanspruchnahme.
Die Funktionen, die heute vom Sport erwartet werden, ihm unterstellt sind, die man sich von ihm erwünscht, die ihm vorgeworfen werden, sind nahezu allumfassend:

Auf der Ebene der einzelnen Personen soll der Sport einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung des Individuums leisten, er soll biologisch wirksam werden, zum persönlichen Wohlbefinden beitragen, er soll Lebenssinn stiften, Freude machen, Anstrengung und Leistung erfahrbar werden lassen und er soll ein Bereich eigenverantwortlichen Handelns sein.

Auf der Ebene der sozialen Beziehungen von Menschen und Gruppen soll der Sport positive Wirkungen auf verschiedene Sozialsysteme haben – so u.a. auf die Mannschaft oder Übungsgruppe, den Verein, die Familie, die Kirche, die Gemeinde, den Staat, die Bundeswehr. Es werden dabei in erster Linie sozial-integrative und präventive Effekte erwartet.

Auf der Ebene von Kultur und Gesellschaft soll der Sport Symbolwirkung zur Tradierung wichtiger Wertvorstellungen ausüben. Dies gilt vor allem für die Symbolkraft des leistungsorientierten Handelns, für Konkurrenz und Wetteifer und für die Werte Solidarität, Fair Play und bestimmte Werte, wie sie in einer Pflichtethik postuliert werden
Die Erwartungen sind ganz offensichtlich nicht gering, die heute mit dem Sport ver­knüpft werden. Es gibt eine immense Nachfrage nach Sport, die direkt aus den Problemen unserer komplexen Gesellschaft aufsteigt. Der Sport ist deshalb schon seit längerer Zeit eine Institution allgemeiner Lebenshilfe. Er ist zu einem Integrationsfaktor erster Ordnung geworden. Dies bedeutet, dass der Sport sozialpolitisch auf alle Problemlagen in unserer Gesellschaft bezogen wird. Die Folge davon ist, dass es heute den Rehabilitations-, den Resozialialisierungs- und den Altensport, den Sport für ausländische Mitbürger und einen Randgruppensport gibt.

Auf den ersten Blick scheint eine derartige Entwicklung wünschenswert zu sein. Bei einer genaueren Betrachtung tauchen diesbezüglich jedoch berechtigte und ernstzunehmende Zweifel auf. Das weitere Wachstum des Sports wird kaum pro­blemlos sein, und meines Erachtens stellt sich auch dem Sport die Frage nach den Grenzen des Wachstums.

Die Entwicklung des Sports ist heute an einem Punkt angelangt, wo die Frage nach der tatsächlichen Leistungsfähigkeit des Sports zentral gestellt werden muss. Dies ist vor allem deshalb vonnöten, weil eine funktionale Ausdifferenzierung, eine umfassende Inanspruchnahme des Sports, die gleichzeitig mit quantitativem Wachstum einhergeht, Folgen und Nebenfolgen mit sich bringt, die bereits heute für den Bestand des gesamten Sportsystems eine Gefahr darstellen.

Einige Folgen kann jeder von uns beobachten, so z.B. die ökologische Belastung der Alpen durch Bergwanderer, Wildwassersport, Drachen- und Motorflug und vor allem durch den Massenskilauf. Solche Folgen legen die Frage nahe, ob sich der Sport selbst zu begrenzen hat, ob alles zugelassen sein darf, was Lust und Freude macht, oder ob nicht die Einfüh­rung bestimmter Taburegeln zwingender ist als die Planung weiterer Maßnahmen zur Aktivitätssteigerung. Sportpolitisch zentral wird somit die Frage, ob auch heute und in der näheren Zukunft wachstumsauslösende Impulse gegeben werden dürfen. Immerhin könnte ja die Folge eintreten, dass sich auf Dauer das Gesamtsystem des Sports als steuerungsunfähig erweisen könnte.

Der Sport könnte aber auch in die Gefahr geraten, die Natur als eine wesentliche Bedingung zur Erfüllung seiner wünschenswerten Funktionen zu verlieren. Das heißt, die unbeabsichtigten Nebenfolgen des Sporttreibens könnten auf den Sport selbst zerstörend zurückschlagen. Grundsätzlich gesprochen heißt das: Es stellt sich die Frage nach dem Grenznutzen des Sports. So wie sich der Grenznutzen des technischen Fortschritts im Allgemeinen stetig verringert, so reduziert sich auch der Grenznutzen des Sports. Sport ist wohl nötig, immer mehr Sport könnte aber immer weniger nützlich sein. Ist diese Beobachtung richtig, so steht heute die Grenze des Sportsystems zur Disposition. Die Diskussion um die Grenze muss mit dem Ziel geführt werden, das Sportsystem langfristig zu erhalten. Dies wie­derum heißt, der Sport muss die Bedeutsamkeit seiner gesellschaftlichen Funktionen, deren hierarchische Ordnung neu bestimmen. Er muss sich auf jene Leistungen beschränken, die sich unter dem Aspekt der zukünftigen Entwicklung herausstellen.

Die Frage nach dem Sinn und den Funktionen des Sporttreibens ist somit die Voraussetzung, um die Frage nach sinnvollem Wachstum beantworten zu können. Wäre es wünschenswert, wenn tatsächlich alle Menschen Sport trieben, wie uns dies z.B. die Formel ‚Sport für alle‘ auf der Basis unseres Demokratieverständnisses nahelegt? Würde unsere Kultur dadurch reicher oder ärmer? Ist es wünschenswert, dass alle alten Menschen trainingswissenschaftlich fundiert Sport treiben und eventuell zwei Jahre länger leben? Welcher Sinn vom Leben kommt dabei zum Tragen? Ist nicht die Befriedigung des menschlichen Bedürfnisses Sport zu treiben an jenem Ethos zu messen, das dem Menschen auch Verantwortung gegenüber seiner natürlichen Umwelt aufgibt? Kommen über Sporttreiben pflichtethische und asketische Werte zum Ausdruck, oder folgt der Sport dem Trend einer freizeit­orientierten Kultur, die auch lustorientierte Züge aufweist? Was sind die dem heutigen Sport angemessenen Werte?

Diese Fragen lassen sich vermutlich kaum einheitlich beantworten. Dessen ungeachtet ist eine Entscheidung über die normativen Prioritäten zwingend erforderlich.

Die sportpolitisch bedeutsame Frage wird dabei lauten: Für welchen Sport soll man sich in der nächsten Zukunft politisch entscheiden? Diese Frage muss in den Vereinen beantwortet werden. Auch Sie müssen sich fragen, für welchen Sport Sie sich zukünftig verwenden wollen.

Es wäre politisch naiv und unter dem Aspekt einer gesamtpolitischen Betrachtung des Sports als einem bedeutsamen gesellschaftlichen Teilsystem verantwortungslos, wenn sich die Sportvereine dem gesundheitspolitischen Auftrag entziehen würden, der heute vermehrt an sie herangetragen wird. Angesichts der immer noch steigenden Kosten unseres Gesundheitswesens und angesichts der rapiden Zunahme der Zivilisationskrankheiten liegt es sogar nahe und ist es politisch angebracht, auch dem Sport gesundheitspolitische Leistungen abzuverlangen.

Wenn dem Sport von außen ein gesundheitspolitischer Auftrag auferlegt wird, so muss sich jedoch der Sport zunächst und vorrangig mit diesem Auftrag kritisch auseinandersetzen. Er muss prüfen, ob seine Organisationen in der Lage sind, diesen Auftrag zu erfüllen und schließlich muss der organisierte Sport die Frage stellen, ob dann, wenn er den Auftrag erfüllt, auch die erwünschten gesell­schaftspolitischen Wirkungen erzielt werden. Vor allem muss der Sport prüfen, ob er dann, wenn er einen gesundheitspolitischen Auftrag übernimmt, letztlich nicht lediglich Alibifunktionen für politisches Versagen in anderen Bereichen besitzt. Will der Sport in seinem gesundheitspolitischen Auftrag erfolgreich sein, so muss er sich somit dafür einsetzen, dass die Voraussetzungen für seinen Erfolg gewährleistet sind. Dazu gehört in erster Linie, dass die Politik die Beseitigung der Ursachen von Krankheit zum Ziel hat. Dies zu fordern, würde für den Sport bedeuten, dass er sportpolitisch aktiv handelt. Der Sport muss dafür Sorge tragen, dass er nicht die Verursacher von Krankheiten deckt, oder gar hoffähig macht. Er muss dabei zum Ausdruck bringen, dass unbefriedigende Verhältnisse am Arbeitsplatz auch heute noch den bedeutendsten Verursacher von Krankheit darstellen.

Deshalb muss der Sport sich aktiv für eine humane Arbeitswelt einsetzen; dazu gehört die Infragestellung der Schichtarbeit ebenso wie ein Engagement für die Sicherheit am Arbeitsplatz. Sportpolitisch Partei zugunsten der Personen zu ergreifen, deren Gesundheit gefährdet ist, heißt aber auch, sich für eine Minderung des Alkohol- und Nikotinkonsums auszusprechen, die Medikamentenflut in Frage zu stellen und nicht zuletzt die Gefährdung der Gesunden durch chemische und pharmazeutische Produkte anzugreifen.

Dies alles setzt ein neues sportpolitisches Denken voraus. Falsch verstandene Neutralität, die letztendlich doch parteiisch ist, hat in dem erwünschten und notwendigen sportpolitischen Denken keinen Platz.

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Letzte Bearbeitung: 20. 10. 2024

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.