Sport im Jahr 2016 – das ist nicht selten gleichbedeutend mit Wettbetrug, Korruption, Doping und olympischem Größenwahn. Im Fernsehen und in der Presse sind diese Themen längst zu einer unendlichen Geschichte geworden. Blicken wir 32 Jahre zurück und besuchen Unterwössen, ein kleines Dorf in Bayern, so können wir Turnen, Spiel und Sport als besondere Ereignisse beobachten, die sich durch einen ganz anderen Charakter und durch eine außergewöhnliche Qualität auszeichnen.
Männer in fortgeschrittenem Alter treffen sich donnerstags zum gemeinsamen Sporttreiben. Turnerische Übungen stehen dabei im Mittelpunkt. Im Sommer wird am Ende als Belohnung Fußball gespielt. Seit es eine Turnhalle gibt kann das Volleyballspiel den Abschluss der Übungsstunden in den Wintermonaten prägen. Schon in jungen Jahren hatte das Turnen diese Männer zusammengeführt. „Donnerstags-Turner“ nennen sie sich und das sind sie bis heute geblieben, auch wenn das Turnen durch das Radfahren abgelöst wurde. Wöchentliche Radtouren kreuz und quer durch den Chiemgau sind dabei das besondere Freizeiterlebnis der mittlerweile im höheren Rentenalter angelangten Turnergruppe. Jede Alm in der näheren und weiteren Umgebung ist willkommenes Ziel. Die neuen E-Bikes machen es möglich.
Für die Wössner Turner ist das Jahr 1984 ein besonderes Jahr. Damals wurde das turnerische Jahr zum ersten Mal mit einem Jahresabschluss in der Adventszeit gefeiert. 32 Jahre später trifft sich nahezu dieselbe Männerrunde zum 32. Male zu ihrer Jahresabschlussfeier. Hierfür gibt es wohl keinen geeigneteren Ort als den Berggasthof Streichen mit seiner berühmten Streichenkapelle und es gibt wohl auch keine schönere Zeit als die Adventszeit. „Oh du Fröhliche“ als Liedanfang, begleitet mit einer Gitarre, prägt deshalb die Titelseite des wunderbaren Programmhefts, mit dem der Abend seine ganz besondere Struktur erhält.
So verschieden Gesellschaften auf dieser Welt sind, so haben sie doch meist immer eines gemein. Es gibt wiederkehrende Rituale, die den Alltag der Menschen prägen, die das Gemeinschaftsgefühl stärken. Die genaue Wiederholung von dem, was schon einmal war, ermöglicht den Menschen Ruhepunkte, und Rituale können den gelungenen Rahmen für schöne Gemeinschaftserlebnisse bilden. Nicht zuletzt deshalb steht der bedeutende Satz auf dem Titelblatt des Programms zur Jahresabschlussfeier der Turner: „The same procedure as every year.“ Und in der Tat, diese Feier ist geprägt von wunderbaren Ritualen. Als Gast, der zum ersten Mal bei dieser Feier dabei sein durfte, war ich überrascht, dass sofort nach meiner Ankunft von mir eine Waage zu besteigen war und mein Gewicht protokolliert wurde. Die Bedeutung dieses Rituals wurde mir erst später klargemacht. Denn am Ende der Feier wurde ich noch einmal gewogen und mein Gewichtszugewinn wurde zur Grundlage der von mir zu bezahlenden Zeche.
Das Zentrum der Feier bildete ein mehrgängiges Menü, das ganz offensichtlich ebenfalls rituellen Charakter hatte. Denn Hans, der Bruder des Chefkochs war unser Ober und gleichzeitig Conférencier und Chansonier und bestimmte auch den zeitlichen Ablauf des gesamten Abends. Es war geradezu naheliegend, dass alle Speisen mit Zutaten aus der nahen Gegend bereitet wurden. Die erste Vorspeise war „Ganz wos B‘sonders vom Franz“, die zweite war eine „Suppe von der Gscheirerwand Gams“, dann kam die dritte Vorspeise „Aa Solodei aa vom Franz“ (für nicht Bayern bedarf dies einer Übersetzung: gemeint ist ein „Ein Salat auch vom Franz“) und der Höhepunkt war ohne Zweifel die Hauptspeise – „Ein Braten von der Gscheirerwand Gams mit Beilagen – wos ma heuid zu dazua isst“ („Was man heutzutage dazu isst“). Revierförster Max Sch. hatte diese Gams eigens für diese Feier in der Nähe der Klein-Rechenbergalm geschossen. Die Nachspeise war eigentlich auch immer Zwischenspeise, denn ihr Genuss hatte zur Folge, dass man mit einer Williamsbirne von Speise zu Speise übergeleitet wurde, womit der Genuss des Menüs ins Unendliche gesteigert wurde. Franz Strohmeier – der Meisterkoch dieses wunderbaren Menüs hat einmal mehr gezeigt, zu welcher Kochkunst er in der Lage ist. Mancher Sternekoch hätte Mühe, sich bei einem Vergleich mit ihm zu messen.
Zwischen den Menüs und den einzelnen Gängen beeindruckten gekonnte Gesangseinlagen, begleitet durch das schöne Mundharmonika- und Gitarrenspiel von Karl Sch. Das dichterische Talent von Hermann M. konnte dabei ebenso bewundert werden. Natürlich muss auch eine Ehrung zu solch einer Feier gehören. Geehrt wurde Franz P. auch Lip P. genannt, der als einziger zum 32. Mal sein Fahrrad als Transportmittel zur Jahresabschlussfeier benutzt hatte. Wie es für eine Männerrunde naheliegend ist, gehören Klatsch, Tratsch, Witze erzählen und Frotzeleien dazu, wenn man in der wunderbaren altbayerischen Stube des Streichengasthofs zusammensitzt. Das Umschlagsblatt hatte hierzu eine Steilvorlage gegeben. „Sportliche Männer brauchen keine Hosenträger, sportliche Männer tragen ihre Hosen selbst.“ „Es ist noch kein Handstand, wenn man jemandem auf den Händen steht.“ „Das gilt für uns besonders: Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?“ Solche und ähnliche Sprüche waren Animation genug, um sich nahezu fünf Stunden lang in geselliger Runde auszutauschen, Lebensfreude auszustrahlen, sich wohl zu fühlen.
Und auch wenn die große Mehrheit das 70. Lebensjahr schon länger überschritten hat, werden unerfüllbare Wünsche wach. Von unserem Ober Hans wird erwartet, dass er nun bald die Schwedinnen präsentiert, die sich jedoch sehr schnell als unerfüllte Jugenderinnerungen erwiesen. Beeindruckend war auch der gemeinsame Gesang aller 20 „Turner“, der seinen Höhepunkt erreichte, als am Ende der Feier die Turnerhymne angestimmt wurde – „Blaue Nacht, oh blaue Nacht am Hafen“. Ganz offensichtlich hatten, auch bezogen auf diese Hymne, die Wössner Turner eine gelungene Wahl getroffen, als sie sich zum ersten Mal vor 32 Jahren zur Adventsabschlussfeier getroffen hatten.
Spricht man heute von den Werten des Sports, so sind es genau diese Werte, die an diesem Abend gelebt wurden. Kameradschaft und ein geselliges Miteinander, ausgelöst durch ein aktives Sporttreiben, das sich neben seiner gesundheitlichen Bedeutung vor allem durch das soziale Miteinander auszeichnet. Genau dies ist es, was aktives Turnen, Sport und Spiel möglich macht. Der Samstagabend der „Turner“ im Streichengasthof ist ohne Zweifel ein Gegenmodell des derzeit üblichen Mediensports. Egoismus und Geldgier werden von Hilfsbereitschaft, Solidarität und einem positiven Lebensstil abgelöst und gleichzeitig ad absurdum geführt.
Verfasst: 30.11.2016