Helmut Digel
Ein „Denkanstoß“ in drei Teilen von besorgten Bürgerinnen und Bürgern zu Deutschlands aktueller politischer Lage
Teil 1
Vorbemerkungen
Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag sind mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, die aufgrund ihres komplexen und sehr schwierigen Charakters keine einfachen und vorschnellen Lösungen nahelegen. Genau das aber geschieht derzeit. Das bereitet uns Bürgern[1], insbesondere Eltern und Großeltern große Sorgen. Der Versuch, mit einfachen Lösungen der Vergangenheit auf komplexe Probleme der Zukunft zu antworten, wird scheitern. Unseren Enkelkindern wird das eine massive Schuldenlast, eine ökologisch zugespitzte gesellschaftliche Krise und internationale Verwerfungen bescheren, die sich heute bereits abzeichnen.
Deutschland befindet sich derzeit in einer weitgehend selbstverschuldeten Krise. Die Merkmale der sich zuspitzenden Krise zeigen sich u.a. in der Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt, im gesellschaftlichen Miteinander und beim Klimawandel. Die Krise zeigt sich in einer immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich. Sie zeigt sich aber auch in unserem Bildungs-, Sozial-, Gesundheits- und Verkehrssystem und nicht zuletzt in den Medien. Die Handlungsfähigkeit unseres parlamentarischen Systems, um auf die multiplen Krisen zu antworten, ist gefährdet. Statt nach grundlegenden Lösungen zu suchen, werden vorschnelle symbol- politische Antworten propagiert (so z. B. die Grenzschließungen und die Infragestellung des Schengen Abkommens). Hinzukommt, dass jener Partner, der die positive gesellschaftliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg für die deutsche Nation mit entscheidenden Partnerleistungen ermöglicht hat, sich durch die Wahl von Donald Trump und der im Hintergrund agierenden „Neuen Rechten“ zunehmend als Feind einer offenen demokratischen Gesellschaft erweist. Damit wird die Partnerschaft mit Europa und vor allem auch mit Deutschland immer öfter infrage gestellt. Das ist umso besorgniserregender, als sich eine neue Weltordnung abzeichnet, in der Europa bislang keine wirkmächtige Position gefunden hat.
Das an Peinlichkeit kaum mehr zu überbietende devote Handeln der europäischen politischen Elite gegenüber Trumps Administration offenbart die gesamte Hilflosigkeit der europäischen Verbündeten (z. B. im Zollstreit).
Vor diesem Hintergrund ist der Autor und Initiator dieses „Denkanstoßes“ zu der Auffassung gelangt, dass Deutschland dringend eine „neue Politik“ benötigt, die sich auf sehr vielen Politikfeldern ganz neu zu bewähren hat. Einige dieser Felder weisen einen erheblichen Handlungsbedarf auf und sollen deshalb im Folgenden bewusst herausgestellt werden. Die beschriebenen Handlungsfelder bedürfen gewiss noch der Ergänzung. Der „Denkanstoß“ bedarf einer ständigen Fortschreibung auf der Grundlage von weiterführenden Diskussionen.
Während seiner Entstehung wurden mehrere Bürgerinnen und Bürger konsultiert. Die Diskussion war dabei überwiegend von einer grundsätzlichen Zustimmung geprägt und manch neue Idee und manch neuer Zusammenhang konnte auf diese Weise in den nun vorliegenden „Denkanstoß“ integriert werden.
Die folgenden Ausführungen und Forderungen sind an keinerlei spezifischen Interessen von Parteien, Gruppierungen oder Organisationen orientiert. Sie haben vielmehr das für die Entwicklung der gesamten Gesellschaft der BRD notwendige Gemeinwohl im Blick.
Der Autor ist sich dabei bewusst, dass er in Bezug auf die einzelnen politischen Problemlagen über eine nur sehr begrenzte Kompetenz verfügt. Die „Denkanstöße“ wurden vielmehr von einem soziologisch orientierten Sportwissenschaftler verfasst, der in Sorge um seine Kinder und Enkel zum Denken und Handeln aufruft, damit die Folge- Generationen in Frieden leben, arbeiten, sich bewegen, spielen und Sport treiben können.
1. Wir brauchen eine neue Wirtschaftspolitik
Die westliche Welt muss schon seit längerer Zeit erkennen, dass sie am Ende eines Wachstumsmodells steht, das vielen westlichen Industrienationen einen großen Wohlstand ermöglichte. Bei diesem Wirtschaftsmodell wurden die geologischen Ressourcen unserer Erde zum Nutzen westlicher Länder verfügbar gemacht. Dieses Modell war nicht nur unfair, es basierte auf der Ausbeutung der Umwelt und auf zunehmend ungünstiger werdenden Arbeitsverhältnissen. Leidtragende waren die Länder der Dritten Welt, die deshalb zurecht den Anspruch erheben, am Wohlstand der ersten Welt teilzuhaben. Für Deutschland und Europa wird dabei immer deutlicher, dass wir neue Formen der Regulierung und des Wachstums erfinden müssen, wenn wir nicht selbst zu den Untertanen der neuen Ordnung gehören wollen, bei der wenige nationale Egoismen die gesamte übrige Welt dominieren. Bedauerlicherweise gehen Deutschland und Europa jedoch einen ganz anderen Weg. Wir erleben die Rückkehr des Krieges als Mittel der Politik um die dringend notwendigen Veränderungen der Lebensweise ihrer Bürgerinnen und Bürger zu vermeiden. Die negativsten Beispiele hierfür sind die Vereinigten Staaten unter Trump, Russland unter Putin und Israel unter Netanyahu.
Eine Wirtschaftspolitik im Interesse zukünftiger Generationen hat hingegen auf eine Energiepolitik zu setzen, wie sie von allen anerkannten wissenschaftlichen Experten empfohlen wird. Dazu gehört ein konsequenter Ausbau aller möglichen erneuerbaren Energien, ein Verzicht auf alle unnötigen CO2 Emissionen durch private Haushalte und eine konsequente Fortführung der angestrebten E-Mobilität. Der Versuch einiger konservativer politischer Parteien, die ökologische Wende wieder zurück zu drehen, muss in aller Entschiedenheit bekämpft werden.
Vielmehr muss erkannt werden, dass soziale Ungleichheit sich auch in einer Ungleichheit bei den Treibhausgasemissionen widerspiegelt. Je wohlhabender Menschen sind, desto mehr CO2 emittieren Sie. Gleiches gilt für einen Vergleich zwischen dem globalen Süden und Europa. Die Emissionen in den Ländern des globalen Südens sind sehr viel niedriger als die europäischen Emissionen. Bei der Überlegung, wie Wohlstand umverteilt werden kann, muss deshalb über akzeptable Lösungen sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen ihnen nachgedacht werden.
2. Wir brauchen eine neue Migrationspolitik
„Deutscher“ kann heute jeder sein, so wie in den Vereinigten Staaten auch jeder dort wohnende Mensch sich als ein „Amerikaner“ bezeichnen darf. Moderne Gesellschaften sind Einwanderungsgesellschaften, und vor allem sind sie auch multikulturelle Gesellschaften. In ihnen wird den unterschiedlichsten Kulturen ein Zuhause ermöglicht, wodurch sich die Gesellschaft durch Vielfalt, Innovation, Kreativität und Offenheit auszeichnet.
Nicht nur die Situation auf dem Arbeitsmarkt verbietet es, dass man Migranten auf ihrem Weg nach Deutschland an den Grenzen zurückweist, insbesondere dann, wenn sie auf der Suche nach einer existenzsichernden Arbeit sind, die sie in ihren Heimatländern angesichts der dortigen politisch unsicheren und widrigen wirtschaftlichen Lage nicht finden können. Selbstredend darf es keine Toleranz geben gegenüber Gegnern und Feinden unseres demokratischen Gesellschaftssystems. Sie abzuweisen ist ein nicht infrage zu stellender Auftrag der Sicherheitskräfte unserer Gesellschaft.
Noch entschiedener verbietet es sich, politisch Verfolgte auf der Suche nach einem Asyl an den Grenzen Deutschlands abzuweisen. Es kommt einem politischen Skandal gleich, dass mit Deutschland jenes Land, das den Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat und aus dem mehr als 500 000 Deutsche vor den Nationalsozialisten und deren Verfolgung fliehen mussten und dankbar waren, dass sie als Asylanten in europäischen Nachbarstaaten und in den Vereinigten Staaten haben Asyl finden können, heute eine Migrationspolitik propagiert, die menschenverachtender nicht sein kann.
Die Empörung vieler unserer Nachbarstaaten über die Schließung der deutschen Grenzen und die Gefährdung des „Schengen- Abkommens“ ist mehr als nachvollziehbar. Ausgerechnet jenes Land, das am meisten von einem offenen Europa ökonomisch profitiert hat, stellt eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union infrage. Dass dabei es offensichtlich ist, dass die verschärften Grenzkontrollen lediglich sehr hohe Kosten hervorrufen, jedoch weitestgehend wirkungslos sind, wird von rechten Politikern bewusst unterschlagen. Das aus der EU ausgetretene Großbritannien kann mit seiner Insellage und den damit verbundenen verschärften Grenzkontrollen auch gegenüber der derzeitigen deutschen Innenpolitik den Nachweis erbringen, wie wirkungslos verschärfte Grenzkontrollen sind. Es ist jenes Land in Europa, das trotz seiner verschärften Grenzkontrollen die höchste Quote von illegalen Einwanderern aufweist.
Ziel einer anders gearteten Migrationspolitik muss deshalb sein, die notwendigen und erwünschten Migranten so schnell wie möglich über die Arbeitswelt zu integrieren. Vorbilder für eine „gesteuerte Einwanderungspolitik“ könnten Australien und Kanada sein, wo jedem ausländischen Arbeitssuchenden eine detaillierte Arbeitsbörse zur Verfügung steht, in der alle zu besetzenden freien Arbeitsstellen ausgewiesen sind.
Dazu braucht es auch deutlich vereinfachte Anerkennungsverfahren beruflicher und akademischer Abschlüsse.
Neben der ganz normalen und selbstverständlichen Migration von Arbeits- und Fachkräften muss jedoch immer auch jene Migration beachtet werden, wodurch Leib und Leben von Menschen geschützt werden. Es ist jene Form von Migration, bei der die Bundesrepublik eine besondere internationale Verantwortung zu übernehmen hat und bei der die deutsche Außenpolitik bemüht sein muss, neue „Brandherde“ erst gar nicht entstehen zu lassen. Tragen wir dazu bei, dass die Menschen überall auf der Welt ihre Heimat bewahren können, so verhindern wir neue Völkerwanderungen. Das wäre für alle die beste Politik und eine wichtige Erkenntnis aus den derzeitigen Kriegen und Konflikten überall auf dieser Welt.
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass bereits bestehende und derzeit noch immer anwachsende alternative Parallel- Kulturen zu verbieten sind. Deshalb sollte auch eine Form der Anerkennung unserer Verfassungswerte zur Voraussetzung des Lebens in unserer Gesellschaft gemacht werden. Doch hierzu müssten neben Sprachkursen auch Kurse zur politischen Bildung angeboten werden, was nur dann gelingen kann, wenn den Gemeinden und den Kreisen höhere Finanzmittel für diese Aufgabe bereitgestellt werden.
Teil 2
3. Wir brauchen eine neue Außenpolitik
Die nach dem zweiten Weltkrieg entstandene gute Beziehung zwischen USA und Europa, zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland hat beiden Seiten viel Wohlstand gebracht und zeichnete sich durch eine besondere Wertegemeinschaft aus. Mit der erneuten Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten hat sich das Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten grundlegend geändert. Die USA sind nur noch bedingt der verlässliche Partner, wie man ihn in der Vergangenheit kennengelernt hat. Die Zukunft der amerikanischen Demokratie wird durch verantwortungslose Dekrete des US- Präsidenten, die nahezu alle Politikfelder betreffen, zunehmend infrage gestellt. Die so genannte „MAGA“ Politik ist geprägt von Narzissmus, Rassismus, Egoismus und neuen Formen des Kolonialismus.
Angesichts dieser Situation bedarf es einer deutschen Außenpolitik, die konsequent auf eine Stärkung und Unabhängigkeit Europas von USA und aller übrigen Großmächte ausgerichtet ist. Nur mit einem starken Europa können die ökonomischen Interessen der Bürgerinnen und Bürger Europas gegenüber dem sich abzeichnenden Machtanspruch der Großmächte gesichert werden.
Die deutsche Außenpolitik hat sich deshalb grundlegend zu ändern, wobei vor allem eine neue Ausrichtung in Bezug auf das Verhältnis Deutschlands und Europas zu Russland, zu China, und auch zum globalen Süden eine besondere Rolle einnehmen muss.
Wir brauchen eine neue Israelpolitik
Um erst gar kein Missverständnis aufkommen zu lassen, sei vorangestellt, dass die hasserfüllten Mörder der „Hamas“ das terroristische Attentat vom 7. Oktober 2023 zu verantworten haben. Sie haben bei ihrem Überfall mehr als 1200 unschuldige junge Menschen ermordet. Die Mitglieder dieser menschenverachtenden Organisation gehören allesamt vor ein internationales Gericht gestellt. Dieser Organisation ist jegliche politische Aktivität zu untersagen.
Gleichermaßen ist aber auch der Rachefeldzug der rechtsradikalen Netanjahu-Regierung zu verurteilen und Israel muss sich gefallen lassen, nach den gleichen Maßstäben des Völkerrechts beurteilt zu werden wie jedes andere Land.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Holocaust, nach Ausschwitz hat Deutschland eine besondere historische Verantwortung. Es hat ein neues, politisches Handeln zu verkörpern. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Deutschland ein imperialistisches Land, das einen imperialistischen Krieg geführt hat. Es hat dabei die schlimmsten Kräfte entfesselt, die es jemals gegeben hatte.
Nach dem Ende des Krieges war Deutschland bemüht, einer neuen Verantwortung nachzukommen. Es gab ernsthafte und glaubwürdige Versuche, aus der Katastrophe zu lernen. Es entstanden eine neue republikanische Kultur und ein ernsthafter, moralischer Antifaschismus. Es gab auch ein reflektiertes Verhältnis zur historischen Schuld, die Deutschland zu tragen hatte. Deutschland war auf dem Weg, ein verantwortliches Mitglied in der internationalen Staatengemeinschaft zu werden. Daraus erwuchs auch eine enge Beziehung zu Israel. Doch was als Akt der Reue begann, hat sich heute verkehrt.
Die Bundesregierung schweigt fast zu jedem Unrecht, das von Israels Regierungsverantwortlichen begangen wird. Deutschland liefert Waffen. Deutschland blockiert UN- Resolutionen. In Deutschland wird Kritik an Israels Regierungshandeln als „antisemitisch“ bewertet– selbst dann, wenn sie von jüdischen Stimmen kommt.
Die aktuelle Situation macht Angst vor der Zukunft. Von außen betrachtet wird Deutschland deshalb zurzeit von vielen als ein Land wahrgenommen, dessen Handeln in vieler Hinsicht eher verstörend als vorbildlich ist. Es gibt eine unheimliche Arroganz auf Seiten deutscher Medien und eines Teils der politischen Klasse in Bezug auf die Deutung der Verhältnisse in Israel. In Deutschland herrscht bei der Mehrheit des Deutschen Bundestages die Annahme, dass dann, wenn man an der Seite Israels steht, Deutschland von seiner historischen Schuld erlöst wird. Heute wird von einem großen Teil der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages diese fatale Identifikation, die sogar zur „Staatsraison“ erklärt wurde, erneut instrumentalisiert, um Muslime zu dämonisieren, Migranten unter Generalverdacht zu stellen, Kritiker zum Schweigen zu bringen und sogar jüdische Intellektuelle aus dem Diskurs auszuschließen.
In Bezug auf seine Israel-Position ist Deutschland international gesehen eine Ausnahmeerscheinung. Deutschland ist international mehr und mehr isoliert. Dies gilt insbesondere für die Reaktionen auf die Verstöße Israels gegen das Völker- und Kriegsrecht im derzeitigen Gaza-Krieg. Die deutsche Position ist in Bezug auf das, was in Gaza passiert gerade zu grotesk. Selbst israelische Historiker wie Adam Raz sprechen von einem Genozid, von einer Vernichtung der Lebensgrundlagen der in Gaza lebenden Menschen, von der Zerstörung der Städte, der Krankenhäuser, der Schulen, der Universitäten und der Lebensmitteleinrichtungen. Doch große Teile der deutschen politischen Klasse, die publizistischen Eliten, die Meinungsführer in den Leitmedien – sie alle ignorieren, was die Mehrheit der deutschen Bevölkerung in Bezug auf das Israel- Problem denkt. Sie führen ihre Debatten, als gäbe es keine Kritik. Das ist kein demokratischer Diskurs mehr, sondern ein autoritärer Konsens, der sich über jedes moralische Bedenken hinwegsetzt.
Wenn auch die Israelkritik von offizieller Seite als antisemitisch abgelehnt wird, so weiß sicherlich die große Mehrheit der verantwortlichen Politiker, dass die meisten antisemitischen Gewalttaten in Deutschland von rechts kommen. Dennoch wird so getan, als sei jeder Protest gegen Israel ein verkappter Antisemitismus. Diese Strategie ist grotesk und mittlerweile dermaßen entlarvt, dass sie selbst in jüdischen Kreisen nur noch Verwunderung hervorruft. Die jüngste Entwicklung in den USA und insbesondere in New York, der zweitgrößten jüdischen Stadt der Welt, ist dafür ein gutes Beispiel. Hier wurde erst vor kurzem ein Palästinenser als Kandidat für das Bürgermeister- Amt entgegen aller gegen ihn gerichteten Diffamierungen nominiert. Die Antisemitismusvorwürfe gegen ihn wurden allesamt vollkommen widerlegt. Das gilt auch für Trumps Behauptungen, dass die Harvard University voller Antisemiten sei. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Entwicklungsgeschichte der amerikanischen Holocaust- Erinnerung zeigt, dass zunächst dem Holocaust in keiner Weise gedacht wurde und es keine direkte Reaktion auf die mörderische NS- Geschichte gab. Erst seit den späten achtziger Jahren wurde der Holocaust in den USA zu einem zentralen Thema. Es war das Resultat bewusster politischer Arbeit von evangelikalen und konservativen Eliten. Auch pro israelische Lobbygruppen spielen dabei eine zentrale Rolle.
Und diese Erinnerung wird seither genutzt, um jede Kritik an Israel als Sakrileg zu brandmarken. Donald Trump gefährdet heute solch respekt- und prestigevolle Institutionen in den USA wie die herausragenden Universitäten Harvard und Columbia und diffamiert diese öffentlich als antisemitisch, nur weil sie die derzeitige israelische Politik kritisieren. Das ist nicht nur absurd, es ist vielmehr eine bewusste Infragestellung eines erwünschten Weltfriedens. Hinzukommt, dass dadurch in den USA die Wissenschaftsfreiheit in hohem Maße gefährdet ist.
Der Holocaust sollte uns lehren, dass kein Staat, keine Ideologie, keine Mehrheit, das Recht hat, eine Minderheit zu entmenschlichen. Das betrifft nicht nur jüdische Menschen, sondern auch Muslime oder Buddhisten und Angehörige jeder weiteren Religion.
Allein deshalb darf die deutsche Israel Politik nicht weiterhin auf einem Auge blind sein.
Wir brauchen eine neue Russland Politik
Im Interesse der Menschen, die in der Ukraine leben, muss der brutale und mörderische Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine so schnell wie möglich beendet werden. Zu einem schnellen Ende dieses Krieges führt jedoch keine Aufrüstung der ukrainischen Armee. Auch weitere „Sanktionen“ gegen Russland, die meist nur angekündigt werden und niemand dafür Sorge trägt, dass sie auch zur Wirkung gelangen, sind dabei wohl kaum eine Lösung.
Es kommt vielmehr einem Verbrechen gleich, dass der demokratische Westen, die USA, die NATO, die EU, und damit auch Deutschland, die Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führen lassen, ohne sich selbst an dem Krieg direkt zu beteiligen. Man liefert – begleitet von einer nahezu täglichen Rhetorik- Unterstützung und unzähligen nutzlosen Besuchen in der Ukraine – Munition und Waffen, was dazu führt, dass mit jeder neuen Lieferung der Krieg verlängert wird und unschuldige junge Menschen auf beiden Seiten der Kriegsparteien ihr Leben lassen müssen.
Gegen eine weitere Politik der Aufrüstung des Westens sprechen nicht nur die militärischen Fakten, die die NATO in diesem Zusammenhang offengelegt hat: Es wird dabei von einer mehrfachen Überlegenheit des Westens gegenüber dem russischen Militärbündnis gesprochen. Allein die USA verfügen über das zehnfache Militärbudget im Vergleich zu Russland. Aus dieser Stärke heraus wäre es mehr als angebracht gewesen, die Politik der Verständigung fortzusetzen, die noch vor einem Jahrzehnt anzutreffen war. Doch wer heute nach Verständigung ruft, gilt bei den Verantwortlichen für die deutsche Außenpolitik als „Lumpenpazifist“.
Gegen eine weitere Aufrüstung sprechen auch die gravierenden Veränderungen in der geopolitischen Weltordnung, die seit längerem absehbar sind.
Angesichts dieser Situation gibt es für Deutschland möglicherweise nur drei Optionen:
Deutschland könnte sich angesichts der westlichen Stärke für eine aktive Beteiligung Europas und der NATO an dem fürchterlichen Krieg in der Ukraine stark machen, um Russland zur Aufgabe zu zwingen. Hierbei besteht allerdings die große Gefahr, dass aus einem regional begrenzten Konflikt ein dritter Weltkrieg entsteht und dass dabei ein Einsatz von Atomwaffen ähnlich wahrscheinlich wird, wie es im Zweiten Weltkrieg bereits der Fall war.
Eine zweite Option wäre ein konsequenter Boykott der russischen Wirtschaft und deren konsequente Sanktionierung. Dies wäre eine Möglichkeit, das derzeitige russische Regime in relativ kurzer Zeit zu stürzen. Immerhin hat die russische Wirtschaft nur das Volumen der italienischen Volkswirtschaft und das bei 140 Millionen Einwohnern. Dagegen stünde die Wirtschaftskraft von circa 500 Millionen Einwohnern im restlichen Europa. Dies ist in diesen Tagen vermutlich jedoch nur ein Wunschdenken, da die EU in ihrer heutigen Verfassung nicht zu einem geschlossenen Handeln fähig ist. Eine grundlegende Reform der EU wäre hierzu notwendige Voraussetzung (siehe unten die weiteren Ausführungen zur EU). Erschwerend kommt hinzu, dass die sog. BRICS- Staaten und auch viele weitere Nationen den russischen Angriffskrieg nicht verurteilen und die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland eher ausbauen, als dass sie sich an einem Boykott beteiligen würden.
Bei der dritten Option würde sich Deutschland sofort dafür entscheiden, alles zu tun, um über einen diplomatischen Austausch, unterstützt durch neutrale internationale Mediatoren, zu einem Waffenstillstand und zu einem Friedensvertrag zu kommen. Die derzeit zu beobachtende Politik eines aktiven Militarismus müsste dabei sofort beendet werden.
Die Bundeswehr müsste auch bei dieser Entscheidung zu einer angemessen wehrhaften Verteidigungsarmee mit einer Wehrpflicht für Männer und Frauen und einem einjährigen „Zivildienst“ für Verweigerer umgebaut und modernisiert werden. Auf eine weitere Auf- und Hochrüstung wird jedoch verzichtet. International setzt sich Deutschland hingegen vermehrt und entschieden für weltweite Abrüstungsmaßnahmen ein.
Die aktuelle Entwicklung (russische Drohnen-Angriffe auf Polen, Dänemark und Rumänien) dürfte die Umsetzung dieser Option noch schwieriger machen als sie ohnehin schon ist. Aber es gibt dennoch wohl keine bessere Alternative.
Was unser Land keinesfalls benötigt, ist ein Feindbild. Die Bundeswehr, der ich zwei Jahre angehörte, war in den 1970 er Jahren stolz darauf, offiziell kein Feindbild zu haben im Unterschied zur NVA, deren Feindbild der Imperialismus war, das allerdings nur unscharf definiert und meist mit dem demokratischen Westen gleichgesetzt wurde.
Wir leben in diesen Tagen in einer Welt, in der eine ethische Gesinnung auf die Verwirklichung des Friedens nur noch selten vorhanden ist.
Jürgen Habermas hat vor dem Hintergrund des derzeitigen geopolitischen Umbruchs und der „Übertölpelung“ Europas durch Donald Trump zu Recht vor einer „Rhetorik der Verfeindung“ gewarnt, und für die Freundschaft mit allen politischen Partnern und Nachbarn plädiert. Auch er sieht die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Verteidigung. Doch gleichzeitig warnt er vor dem immer gefährlicher anwachsenden Militarismus innerhalb der EU. Er warnt auch vor den ständig geäußerten höchst spekulativen Annahmen über eine aktuelle Bedrohung der EU durch Russland, die Angst bei der Bevölkerung hervorruft, jedoch tragfähiger empirischer Beweise entbehrt.
Wir sollten kein Interesse daran haben, die Welt in zwei Lager zu teilen. Dazu ist das menschliche Leben zu wichtig. Die aus dem Iran stammende Künstlerin Shirin Neshat ruft uns zu Recht zu: „Wir sollten alle weniger hassen. Das Gegenteil von Wut ist Liebe und Mitgefühl. Davon brauchen wir mehr in dieser Welt“.
Wir brauchen eine neue China Politik
China war die erfolgreichste Wirtschaftsnation im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, und im ersten Viertel des derzeitigen Jahrhunderts hat China in der Weltwirtschaft neben den Vereinigten Staaten von Amerika eine Führungsrolle übernommen. Mit 1,3 Milliarden Menschen ist es neben Indien (1,4 Milliarden) das bevölkerungsreichste Land der Welt
Aus der Sicht westlicher Demokratien – insbesondere aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland – ist China eine totalitäre kommunistische Diktatur. Betrachten wir jedoch die ökonomische Entwicklung Chinas seit der Öffnung des Landes durch Deng Xiaoping (er regierte von 1979-1997) und nimmt man zur Kenntnis, das über 90 % der chinesischen Unternehmen privatwirtschaftlich geführt werden und weniger als10% Staatsunternehmen sind, die meist ihre Existenz hohen staatlichen Subventionen verdanken, so wird man sehr schnell erkennen, dass es kaum weiterführend ist, China mit dem Etikett einer „kommunistischen Volkswirtschaft“ infrage zu stellen. In China ereignet sich vielmehr eine Variante des „Kapitalismus“, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie von einer personellen Elite einer Partei gesteuert wird, die sich zwar selbst „Kommunistische Partei Chinas“ nennt, die jedoch mit der Theorie und Ideologie eines marxistischen Kommunismus oder mit dem Leninismus so gut wie gar nichts mehr gemein hat.
In Deutschland wird hingegen massenmedial ein Bild Chinas gepflegt, das selbst in der Zeit von Mao Zedong nur sehr wenig oder gar nicht zutreffend gewesen ist. Das Bild von der „gelben Gefahr“ ist bei der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung aufgrund einer Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien und in der Presse zu einem Stereotyp geworden, das wohl kaum noch zu überwinden ist.
Dabei wäre eine Aufklärung über die tatsächlichen Verhältnisse in China allein aus mehreren Eigeninteressen dringend erforderlich. Dies erscheint nicht zuletzt vor dem Hintergrund angebracht zu sein, dass eine Volkswirtschaft wie die Deutschlands, die selbst über nur wenige eigene geologische Ressourcen verfügt, auf die Kommunikation und Zusammenarbeit mit solchen Nationen angewiesen ist, auf deren Hoheitsgebiet jene Ressourcen anzutreffen sind, die unsere deutsche Industrie dringend benötigt. Für eine Gesellschaft wie die deutsche, die ihren Wohlstand vor allem durch die großen Exporterfolge in der Vergangenheit erreicht hat, ist es mehr als angebracht, mit jenen Ländern auf das engste zusammenzuarbeiten, in die man seine Produkte exportieren möchte. Eine interessengeleitete partnerschaftliche, auf friedlicher Koexistenz basierende Beziehung zwischen China und Deutschland ist deshalb nicht nur eine ökonomische Notwendigkeit, sie ist auch ein Beitrag zur Friedenssicherung und kann einen großen Einfluss auf die sich abzeichnende neue Weltordnung haben. Dabei sind unsere Augen vor den Menschenrechtsverletzungen in China nicht zu verschließen. Im Dialog mit China müssen sie vielmehr ein verbindliches Thema bei jedem diplomatischen Austausch sein.
4. Wir brauchen eine neue EU- Politik
Die Identifikation der in Europa lebenden Bürgerinnen und Bürger mit einer politischen Gemeinschaft Europas ist heute schwächer denn je. Dabei wäre es nach wie vor wünschenswert, dass auch wir Deutsche uns in erster Linie als Europäer sehen, die gemeinsam mit den Menschen aller europäischen Nationen für eine demokratische Staatengemeinschaft eintreten, wie wir sie uns auch für alle übrigen Kontinente auf dieser Welt wünschen. Die einstmals als „Wirtschaftsgemeinschaft“ angetretene europäische Gemeinschaft und als politische Union fortgeführte Europäische Union (EU) ist in ihrer Entwicklung auf halbem Wege stehen geblieben und hat es versäumt, die notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen, damit sich die EU nach außen stets mit einer klaren, abgestimmten Position äußern kann. Dies ist angesichts der „Weltlage“ mit einer Vielzahl von kriegerischen Konflikten dringender denn je. Dazu gehört auch, dass Europa mit einer Sprache spricht und bei den auftauchenden Problemen möglichst schnell die notwendigen Reformen zur Lösung der Probleme findet. Das Prinzip der Einstimmigkeit war von Anfang an eine Illusion, ein „frommer Wunsch“, der an der Realität der Nationalismen längst gescheitert ist. Europa kommt nur über das Mehrheitsprinzip weiter, das von der „Gruppe der Willigen“ durchgesetzt werden muss, auch auf die Gefahr hin, dass einige bisherige Mitglieder der EU diese verlassen.
Anstelle eines wünschenswerten nach innen und außen starken Europas ist hingegen ein Europa entstanden, in dem derzeit der Nationalismus und die Eigeninteressen der Nationen blühen und die erforderliche Solidargemeinschaft immer häufiger infrage gestellt wird bzw. erst gar nicht zum Tragen kommen kann.
Sollen die ursprünglich mit einer Europäischen Union verbundenen Ziele erreicht werden, so benötigt die EU eine radikale Reformpolitik. Hierfür ist es erforderlich, dass die Mitgliedsstaaten der EU entscheidende Teile ihrer staatlichen Autonomie an eine politisch erstarkte EU abgeben. Wünschenswert sind ein „echtes“ europäisches Parlament und eine „echte“ europäische Regierung mit Befugnissen, wie sie heute die großen Nationalstaaten Europas besitzen. Um mit einer Sprache zu sprechen, benötigt Europa eine gemeinsame Verkehrssprache, die mit der englischen Sprache bereits in vielen international ausgerichteten europäischen Unternehmen und in den Universitäten vorhanden ist. Sie müsste im europäischen Schulwesen als verpflichtende erste Fremdsprache gepflegt werden, um ihre Ausbreitung sicherzustellen. Wünschenswert ist eine europäische Armee anstelle der vielen Armeen der Mitgliedstaaten, die sich durch Redundanz und Unfähigkeit zur relevanten Kooperation bei der Ausstattung einer zukunftsfähigen Armee ausgezeichnet haben. Wünschenswert ist auch eine gemeinsame Außenpolitik, deren Ziel es sein muss, weltweit Friedensbemühungen zu initiieren und zu unterstützen. Für all diese Erfordernisse sind neue gesetzliche Grundlagen zu schaffen. Die Handlungsfähigkeit einer zukünftigen Europäischen Union muss dadurch gesteigert werden, dass die Mitgliedsländer verpflichtet werden, Mehrheitsentscheidungen eines europäischen Parlaments zu respektieren und sie auf dem eigenen Hoheitsgebiet durchzusetzen.
Teil 3
5. Wir brauchen eine neue Sozial- und Gesundheitspolitik
Die Idee eines modernen Sozialstaats ist auf das engste mit der positiven Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Zu dieser Idee gehört eine Gesellschaft, die sich dem Leistungsprinzip verpflichtet fühlt, in der Leistung das zentrale Verteilungsprinzip für gesellschaftliche Differenzierung darstellt und in der Leistung in angemessener Weise honoriert wird. Diese Gesellschaft muss jedoch immer gleichzeitig auch einem Sozialprinzip verpflichtet und dabei sich dessen bewusst sein, dass nicht alle Menschen die gleichen Verwirklichungschancen haben.
Zu dieser Idee gehört ein Wirtschaftssystem, in dem private und staatliche Unternehmen jenen Mehrwert erwirtschaften, der die notwendigen Strukturen eines Sozialstaates etabliert und weiterentwickeln lässt. Dazu gehört ein hervorragendes und kostenfreies Bildungssystem, das von den Kindergärten bis in die Universitäten reicht. Dazu gehört ein tragfähiges Gesundheitssystem mit allen erforderlichen Einrichtungen. Dazu gehört eine Verkehrsinfrastruktur, die die notwendige Mobilität der Bevölkerung als Voraussetzung für ein modernes Wirtschaftssystem ermöglicht. Für das Wirtschaftssystem am wichtigsten sind zukunftsweisende Strukturen der Energieversorgung, die einen hohen Grad an Versorgungssicherheit gewähren.
Zu dieser Idee gehört aber auch, dass neuerlich und wieder verstärkt eine Leistungspriorisierung erfolgt, die mit einer Chancengleichheit für alle in unsere Gesellschaft hineinwachsenden Mitglieder verbunden sein muss. Willy Brands Aussage hat nach wie vor Gültigkeit: eine gerechte Gesellschaft ist keine „gleichgemachte“ oder „gleichgeschaltete“ Gesellschaft, sondern eine, die beim Einstieg in diese Gesellschaft allen die gleiche Chance bietet.
Zu einer modernen demokratischen Leistungsgesellschaft gehört jedoch keine Vermögensstruktur, bei der wenige Superreiche über mehr Vermögen und Einkommen verfügen als 90 % der Bevölkerung. Zu einer Leistungsgesellschaft gehört auch kein Erbrecht, das Erben ohne erkennbare Eigenleistung, eine ständige Vermehrung ihres Vermögens ermöglicht und sich damit die Kluft zwischen Arm und Reich eher vergrößert als verkleinert. In einer Leistungsgesellschaft muss es sich auch verbieten, dass hohe Gewinne nicht versteuert werden und dass sich die Vermögenden ihrer Steuerpflicht entziehen, indem sie die noch vorhandenen „Schlupflöcher“ aufsuchen.
Zu einer Leistungsgesellschaft gehört hingegen zwingend die Notwendigkeit, dass sie sich immer auch als eine Solidargemeinschaft auszuzeichnen hat. In ihr helfen die Stärkeren den Schwächeren und in ihr schafft der Staat die notwendigen Vorsorgestrukturen, dass jenen, die nur bedingt den Belangen einer Leistungsgesellschaft in ihrem Handeln gerecht werden, geholfen werden kann. Zu einer Leistungsgesellschaft gehört deshalb ein tragfähiges Versorgungssystem für ältere und kranke Menschen und für jene, die zeitweise auf dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind und auf dem Weg zurück zur Arbeit betreut werden müssen.
Die derzeitige Diskussion über die Infragestellung des Sozialstaates in Deutschland, die Diskussion über das Bürgergeld und über die Finanzierung der Renten kann an Peinlichkeit und Unverschämtheit kaum noch übertroffen werden. Durch ständig wiederholte bösartige Unterstellungen, durch falsche Informationen und durch populistische Interessen werden Bürgergeldempfänger beziehungsweise sozial Schwache in unserer Gesellschaft diskriminiert, und gleichzeitig über die Forderung nach Wegfall dieser Sozialleistung ökonomische Erwartungen erzeugt, die fernab jeglicher ökonomischen Realität sind.
Die wirtschaftliche Krise, in der sich die Bundesrepublik Deutschland nunmehr seit mehreren Jahren befindet, wurde nicht durch Sozialhilfeempfänger oder Bürgergeldempfänger ausgelöst, sondern durch eine verfehlte Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik, durch die das gesamte Wirtschaftssystem Deutschlands in eine dauerhafte Krise geraten ist. Im Bundeshaushalt Deutschlands machen die Kosten für das Bürgergeld weniger als 2 % der Gesamtkosten aus. Die Differenz zwischen jenen, die einer geregelten Arbeit nachgehen und ein entsprechendes Einkommen aufweisen, ist im Vergleich zu jenen, die ihren monatlichen Unterhalt durch das vom Staat bereitgestellte Bürgergeld zu bestreiten haben, nach wie vor ausreichend, um Bürgergeldempfänger zu einer Rückkehr auf den Arbeitsmarkt zu motivieren. Die Behauptung, dass Bürger, die einer geregelten Arbeit nachgehen, weniger im Monat verdienen, als jene, die Sozialhilfeempfänger oder Bürgergeldempfänger sind, ist bösartig und entbehrt aller Fakten. Sie wird unter anderem von Politikern aufrechterhalten, die niemals in ihrem Leben mit einer derart geringen Summe ihren Lebensunterhalt zu bestreiten hatten, wie dies bei Bürgergeldempfängern in diesen Tagen der Fall ist. Ihr Einkommen ist um ein Vielfaches höher als das Einkommen jener Berufstätigen, als deren angebliche Befürworter sie sich ausgeben.
Für den Erhalt unseres Sozialstaats ist eine höhere Besteuerung der Reichen und Vermögenden unverzichtbar. Folgt man neuen steuerlichen Berechnungen, so würde eine höhere Besteuerung der circa 800.000 Vermögendsten in unserer Gesellschaft (1 % der Bevölkerung) eine Steuermehreinnahme von circa 100 Milliarden € ergeben. Hier stellt sich die Frage, warum eine so genannte Volkspartei sich dem Lobbyismus von 1 % der Bevölkerung nunmehr bereits über mehrere Jahrzehnte unterworfen hat und derzeit weiterhin unterwirft.
Die Infragestellung des Sozialstaates in Deutschland durch einen Bundeskanzler und eine große Mehrheit von Politikern im Deutschen Bundestag stellt eine populistische Alibi- Politik dar, die von den zahllosen eigenen Versäumnissen staatlicher Politik in den vergangenen Jahren ablenken soll. Sie zeigt einmal mehr die immer weiter um sich greifende Handlungsunfähigkeit eines großen Teils der Politiker im Deutschen Bundestag.
Nicht eine Infragestellung des Sozialstaates ist erforderlich, erforderlich ist vielmehr eine grundlegende Modernisierung des Sozialstaates. Wobei es auch um Kostenersparnisse gehen muss, die allein schon durch eine umfassende Digitalisierung der unterschiedlichen Strukturen des Sozialstaates zu erreichen ist. Auch ein Bürokratieabbau kann sehr kostensparend sein. Doch sollte man sich immer dessen bewusstwerden, dass hinter jeder bürokratischen Regelung, die heute abgeschafft wird, in der Vergangenheit eine mit einer demokratischen Mehrheit herbeigeführte Gesetzesentscheidung gestanden hat und jeder Bürokratieabbau meist zu neuen bürokratischen Strukturen führt, die nur selten kostenneutral sind.
Entscheidend für die Modernisierung des Sozialstaates ist jedoch, dass es zu einer gerechten Umverteilung der Lasten kommt. Jene, die sehr viel besitzen, müssen bereit sein an jene, die nur wenig besitzen, zumindest einen Teil ihrer „Besitztümer“ abzugeben. Eine Modernisierung des Erbrechts ist deshalb ebenso notwendig wie eine konsequente Einführung einer Vermögenssteuer. Der Sozialstaat benötigt somit Pflege und nicht Misshandlung. Sozial ist nicht, wenn an Sozialleistungen gespart wird. Sozial ist vielmehr, wenn diese durch eine angemessene Vermögenssteuer mitfinanziert werden. Die wirklich großen Vermögen müssen mehr belastet werden. Die z.T. exorbitanten Wertsteigerungen bei Grund und Boden müssen zu Gunsten des Sozialstaates abgeschöpft werden. Die Verteilung des Wohlstands muss gerechter werden. Dies gilt insbesondere auch bei Kapitalerträgen, die vergleichbar mit dem Einkommen aus Arbeit behandelt werden müssen, sowohl in steuerlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die Sozialversicherungspflicht. Daher ist auch die Einführung einer Bürgerversicherung anzustreben, an der sich „Alle“ solidarisch zu beteiligen haben. Die Zahl der Berufsbeamten ist auf das absolut nötige Maß auf diejenigen zu reduzieren , die tatsächlich hoheitliche Aufgaben erfüllen.
Zu prüfen ist auch die Subventionierung der Kirchen aus den öffentlichen Haushalten und die Kirchensteuererhebung durch den Bund für die Kirchen, denen heute weniger als 50% der Bevölkerung angehören. Die Trennung von Staat und Kirche vergleichbar mit Frankreich und Italien ist längst überfällig.
Schließlich gehört zu einer Modernisierung des deutschen Sozialstaats auch die Einsicht, dass sich die Bürger dieses Sozialstaates in ihren Konsumgewohnheiten zu verändern haben, dass auf Luxus-Konsum verzichtet werden kann und dass der deutsche Sozialstaat auch einen Beitrag zur Reduktion der globalen Ungleichheit zu leisten hat. Im Gegensatz zu der derzeit zu beobachtenden Rücknahme vieler Entwicklungshilfemaßnahmen ist dringend eine neue und engagiertere Entwicklungshilfepolitik von Nöten, soll die Kluft zwischen dem „reichen Norden“ und dem „armen Süden“ auch nur annähernd etwas vermindert werden. Hierzu hat die Politik von den Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands einen Verzicht von manch lieb gewonnener Gewohnheit abzuverlangen.
Die begonnene Reformpolitik zu Gunsten eines modernen Gesundheitswesens muss fortgesetzt werden. Es bedarf einer tragfähigen finanziellen Absicherung. Angesichts der demographischen Situation sind die derzeit erkennbaren Maßnahmen in Bezug auf die Pflege nach wie vor sehr unzureichend. Die Anwerbung und Ausbildung von Pflegepersonal muss deshalb in der Gesundheitspolitik höchste Priorität erlangen. Ein Sondervermögen „Gesundheit, Bildung und Soziales“ hätte deshalb mindestens die gleiche Berechtigung wie das derzeit beschlossene Sondervermögen „Infrastruktur“.
6. Wir brauchen eine neue ökologische Politik
Ein Klimawandel, von dem die gesamte Bevölkerung auf unserer Erde betroffen ist, ist heute ein Sachverhalt, der zumindest innerhalb der zuständigen Scientific Community nicht mehr bestritten wird. Unklar ist allenfalls die Frage, in welchen Zeiträumen und in welche Richtung der derzeit erkennbare Wandel sich noch entwickeln wird. Angesichts der bereits erkennbaren Folgen des Klimawandels mit seinen Merkmalen einer allgemeinen Erwärmung, einer Erhöhung des Meeresspiegels, einer Intensivierung der Niederschläge, der Vernichtung von Ernten und des Rückgangs der Biodiversität etc. ist es notwendig, dass in der ökologischen Politik der Nationalstaaten es möglichst schnell zu einer neuen Prioritätensetzung kommt.
An erster Stelle haben dabei präventive Maßnahmen zu stehen, die ein Überleben der Menschheit unter diesen Bedingungen möglich machen. Dabei ist eine Umwelt- und Naturschutzpolitik wie sie bislang vom Deutschen Bundestag und der Bundesregierung verfolgt wird weder ausreichend noch zielführend. Nicht der Schutz der Natur muss dabei die höchste Priorität haben, sondern der Mensch benötigt Selbstschutzmaßnahmen, um weiterhin ein Teil der Natur zu sein. Die außermenschliche Natur wird – ganz gleich wie sich deren Ökologie verändert – weiter- und überleben. Das zeigt uns die seit mehreren Millionen Jahre andauernde Geschichte der Natur. „Spezies der Natur“ kommen und gehen. Auf Erwärmungsphasen sind immer wieder Phasen der Abkühlung erfolgt. Die Erforschung der Eiszeiten hat mit ihren Erkenntnissen auch heute noch ihre Gültigkeit. Die Gefahr, dass der Mensch als eine besondere Spezies in der Entwicklungsgeschichte der Natur sich selbst gefährdet und von Auslöschung bedroht ist, wird heute zumindest von jenen gesehen, die bereits einmal von einer Naturkatastrophe heimgesucht wurden, von jenen, die aus Überschwemmungsgebieten fliehen mussten und die in Hitze- und Dürreperioden um ihr Überleben gekämpft haben.
Will man diesen Gefahren entgegentreten, so benötigt man eine ganz neue ökologische Politik. Das Einsparen von CO2 Emissionen hat dabei ganz gewiss seine Berechtigung, doch gleichzeitig muss erkannt werden, dass das Überleben der Menschheit nur durch eine ganz neue Energiepolitik gemeistert werden kann, bei der die noch vorhandenen Energiequellen nicht beim Luxuskonsum von Menschen verschwendet werden, sondern einen direkten Beitrag zum menschlichen Überleben leisten.
Debatten, wie sie derzeit von einigen CDU-/CSU- und FDP-Politikern über einen Stopp des „Verbrenneraus“ und zur Verhinderung der Einführung von Tempo 120 auf deutschen Autobahnen geführt werden, können mit Blick auf diese Probleme an Peinlichkeit wohl kaum übertroffen werden.
Zu einer dringend notwendigen präventiven Klimapolitik gehören eine neue Haus- und Wohnungsbaupolitik, ein weltweiter Ausbau von Klimaanlagen und klimatisierten Räumen, eine Ausweitung natürlicher Schattenräume durch Begrünung der Innenstädte und Errichtung von Parkanlagen sowie durch Aufforstung neuer Wälder, eine Reduktion des unnötigen Wasserverbrauchs und eine Sicherung zukünftiger Wasserversorgunganlagen im öffentlichen Raum, eine Hochwasserschutzpolitik mit den erforderlichen Renaturierungsmaßnahmen und eine Ausweitung einer präventiven „Erste-Hilfe-Politik“ zu Gunsten älterer Menschen während längerer Hitzeperioden und anderer Naturkatastrophen.
7. Wir brauchen eine neue Kommunikationspolitik
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat ähnlich wie das private Fernsehen in Verbindung mit der immer weiterreichenden Ausbreitung der sozialen Medien zu einer Kommunikationssituation in Deutschland geführt in der diskursive Auseinandersetzungen zu Problemstellungen unserer Gesellschaft immer seltener geworden sind. Das Finden von Lösungen ist immer unwahrscheinlicher geworden. Der affirmative Grundton der deutschen Massenmedien ist unübersehbar. Rudolf Augstein hat einstmals gefordert, dass die Presse mindestens zu 51 % Opposition sein soll. Davon sind wir heute weit entfernt.
Wir benötigen jedoch dringend Orte reglementierter Aufklärung, wo „Querdenken“ erlaubt ist, wo Fragende willkommen sind und wo Menschen den Fragenden helfen, die jedoch oft selbst nur auf der Suche nach Antworten sind. Kulturelle Zeitdiagnosen und gesellschaftliche Selbstreflexion sind heute dringender denn je. Für einen aufgeklärten Universalismus der Bürgergesellschaft gibt es auch heute keine Alternative. Er ist das Instrument, um unsere Gesellschaft in Deutschland und im zukünftigen Europa kritisch-konstruktiv zu begleiten. Doch heute fehlt uns ganz offensichtlich eine geeignete Sprache, um die Umwälzungen der Gegenwart zu beschreiben. Es fehlen aber auch die Orte, an denen über die Herausforderungen unserer Zeit universell, d.h. von allen, die es angeht, diskutiert werden könnte. „Information“, „Künstliche Intelligenz“, „Wissen“, „die Zukunft des Politischen“, „die Widersprüche des Sozialen“, „Arbeit“ und „Lebensführung“, „zwischen Natur und Kultur“, „Masse und Individuum“: Die Megathemen dieser Tage liegen auf der Hand. Es gibt Umbrüche und Transformationen, die gewiss nicht mit einem einfachen Zugang und mit überholten Kommunikationsmustern zu schaffen sind. Benötigt werden neue Formen der Kooperation. „Der Globalisierung aller Lebensprozesse kann man angemessen nur mit einer Universalisierung des Diskurses begegnen“, so der von mir sehr geschätzte Darmstädter Erziehungswissenschaftler Hans Jochen Gamm (1925-2011).
In der öffentlichen Debatte Deutschlands gibt es heute wohl einen nicht enden wollenden „Wortreichtum“ beim Debattieren und Kommentieren in Talkshows. Dies ist einfacher und kostengünstiger für die Medienunternehmen als eine echte investigative Berichterstattung, die eine gute Ausbildung, Zeit, Geld und Stellen für Journalisten erfordert.
Dabei wäre es dringend angebracht, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die Bürgerinnen und Bürger bei ihrem Umgang mit den sozialen Medien und bei der Nutzung der immer zahlreicher werdenden KI Programme begleiten. Funk- und Telekollegs, wie sie einstmals das öffentlich-rechtliche Fernsehen geprägt haben, sind heute dringender denn je.
8. Wir brauchen eine neue Bildungspolitik
Die Bildungsstrukturen einer Gesellschaft bilden die Basis für eine lebendige Demokratie. Sie sind verantwortlich für die Mündigkeit ihrer Bürger. Die Bildung bedarf ständiger Pflege und Weiterentwicklung. Beides hat in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland nur sehr begrenzt stattgefunden. Die Infrastruktur des Bildungssystems bedarf dringend einer Restaurierung und neue Strukturen sind zu schaffen. Ein staatliches Sondervermögen zu Gunsten der Entwicklung der Bildungsstrukturen müsste im Vergleich zu den bislang geplanten Sondervermögen höchste Priorität haben. Neben der Instandsetzung der bestehenden Bildungseinrichtungen und neben dem Neubau von neuen Bildungsstätten müsste der Lehrkräftemangel sehr viel entschiedener angegangen werden als dies bis heute der Fall ist. Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer müsste quantitativ und qualitativ verbessert werden. Die Klassengrößen, insbesondere im Primarbereich, müssen verkleinert werden. Das Lehramtsstudium an Universitäten bedarf dringend einer Evaluierung. Gleiches gilt für die viel zu vielen Bachelor- Studiengänge an deutschen Universitäten und Hochschulen, deren wissenschaftlicher Charakter oft fragwürdig ist und deren Relevanz für die gesellschaftliche Entwicklung dringend überprüft werden muss. Das Bildungswesen muss sich entschiedener mit dem Phänomen der Digitalisierung unserer Gesellschaft auseinandersetzen. Es muss entschieden werden, wie sich die „digitalisierte Schule“ und die „digitalisierten Universitäten und Hochschulen“ in den nächsten Jahren zu entwickeln haben. Gleiches gilt für deren Nutzung der neuen Möglichkeiten durch die täglich neu entstehenden KI-Programme.
9. Wir brauchen einen Umbau des politischen Systems
Auf der Grundlage des Grundgesetzes hat sich die deutsche Demokratie über mehr als ein halbes Jahrhundert sehr gut bewährt. Wir müssen jetzt jedoch zur Kenntnis nehmen, dass auch unsere Demokratie verletzlich geworden ist. Ein Wahlrecht für alle ist wohl sehr wichtig, doch bedarf unsere Demokratie heute auch direkterer Beteiligungen der Bürgerinnen und Bürger. So genannte Bürgerräte könnten dabei eine wichtige Maßnahme sein. Verlässt man sich nur auf das Wahlrecht, so entsteht ein Ausleseprozess, bei dem nur Personen, die in einer Parteikarriere erfolgreich gewesen sind, in das Parlament gelangen können. Viele Berufsgruppen sind deshalb im Deutschen Bundestag fast völlig abwesend. Die repräsentative Demokratie kann deswegen auch sehr demütigend sein. Heute fühlen sich zu viele Teile in unserer Gesellschaft als abgehängt und verbinden mit der derzeitigen Demokratie Frustrationsgefühle. Hinzukommt, dass die fortschreitende Digitalisierung, insbesondere über die sozialen Medien, eine Interaktion der Bürgerinnen und Bürger untereinander eher erschwert als begünstigt. Wir reden nicht mehr miteinander, sondern übereinander und befinden uns in „Blasen“, die jeweils ihre eigenen Fakten aufweisen. Wenn heute Wirklichkeit verhandelt wird, dann zerreißt das Fundament der Demokratie.
Vor dem Hintergrund der immer komplexer werdenden politischen Herausforderungen ist es deshalb mehr als angebracht, das Berufsbild des Politikers auf den Prüfstand zu stellen. Die in jüngster Zeit gewählten Vertreter des Volkes repräsentieren nur selten die intellektuelle Elite Deutschlands und viele von ihnen sind nicht zwangsläufig oder – nach ihrer Wahl – „qua Amtes“ für ihre Aufgaben hinreichend qualifiziert, die sie als Parlamentarier und Politiker zu bearbeiten haben. Eine ausreichende Bildung, Intelligenz und Integrität wären aber Eigenschaften, die mehr denn je für die Lösung der gegenwärtigen komplexen gesellschaftlichen Probleme hilfreich wären. Diejenigen, die heute für die wichtigen Probleme unserer Gesellschaft die politische Verantwortung tragen, schaffen es nachweislich nicht so bedeutsame Themen wie Infrastruktur, Digitalisierung, Sozialreformen, Außenpolitik, etc. anzugehen und zielführend und erfolgreich zu bearbeiten.
Zur Lösung dieser anspruchsvollen Aufgaben sind spezifische Qualifikationen erforderlich: Kompetenzen, Erfahrung, Bildung, Managementfähigkeiten und Entscheidungsfreiheit und das Ganze sollte auf einem soliden ethischen Fundament aufbauen. Stattdessen werden Menschen in die politische Verantwortung hineingewählt, die mit ihrem Auftrag in jeder Hinsicht überfordert sind.
Politiker müssen sich anders als alle anderen Berufsgruppen in unsere Gesellschaft nicht zielgerichtet für eine Position, zum Beispiel für ein Ministeramt qualifizieren. Zum Zeitpunkt der Wahlen sind zudem die einzelnen Positionen, die in einer Regierung zu vergeben sind, nicht gesetzt. Kein Kandidat weiß, welcher Ministerposten ihm angeboten wird. Dieser Vorgang erfolgt durch den „großen Wahlgewinner“, genannt „Kanzler/in“ und Parteivorsitzende und das Ganze wird vom Wähler als „Minister Geschacher“ wahrgenommen. Auf diese Weise können Minister von einem Amt zum nächsten wechseln, als wäre es egal, ob man Minister für Verteidigung, Außenpolitik, Innenpolitik oder Umweltpolitik ist.
Erschwerend kommt hinzu, dass es dabei eine Menge an Lobbyisten-Verbänden, Beratern und einigen sehr reichen Einzelpersonen gibt, die den Politikern ins „Ohr flüstern“, was zu tun und was zu lassen ist.
Wir benötigen ganz offensichtlich neue Modelle der Regierungsführung und weiterführende demokratische Experimente. In jenen Ländern, in denen bislang für eine begrenzte Zeit sog. „Experten- Regierungen“ für deren Politik verantwortlich waren, (so z.B. in Österreich und Italien) wurden diese Regierungen von der großen Mehrheit der Bevölkerung als erfolgreich wahrgenommen und machen Mut zur Nachahmung. Politikwissenschaftlich fundierte Veränderungsvorschläge und Projektkonzeptionen sind deshalb sehr erwünscht.
Schlussbemerkungen
Bei alldem muss sich eine verantwortungsvolle Politik an eine zentrale Aussage unseres Grundgesetzes erinnern: „Eigentum verpflichtet“. Es verpflichtet dazu, mit dem vorhandenen Reichtum spürbar zur Zukunftssicherheit beizutragen. In kaum einem anderen Land der Welt wird der Faktor Arbeit so hoch besteuert wie in der Bundesrepublik Deutschland. Heute finanzieren die Lohnsteuerzahler den erwünschten Sozialstaat. In der Zukunft jedoch muss die arbeitende Bevölkerung eher weniger und die wirklich großen Vermögen müssen höher belastet werden. Es muss zu einer neuen Verteilung des Wohlstands in Deutschland kommen. Eine steuerliche „Entreicherung der Superreichen“ ist nicht eine Forderung aus überholten „Klassenkampfzeiten“. Sie ist vielmehr eine Forderung in einem Kampf zur Erhaltung unserer Demokratie, der heute dringender denn je ist.
„Autokratien entstehen nicht durch Mehrheitsentscheidungen. Die Mehrheit mag Trumps Migrationspolitik für falsch halten, seine Wirtschaftspolitik für Unsinn. Es genügt, wenn sie glaubt, nichts ändern zu können. Wenn sie Nachteile fürchtet – schon durch eine unliebsame Äußerung. Wenn sie lieber Influencern beim Kochen zuschaut, als gegen illegale Abschiebungen zu protestieren. Wenn Einschüchterung wirkt und Angst, den Widerstand erstickt. Trumps Politik verwandelt Zweifel in Schweigen, bis Schweigen zur Normalität wird. So entstehen Autokratien“.
Treffender als von Lea Sahay in der Süddeutschen Zeitung vom 27.9.2025 kann die Krise wohl kaum beschrieben werden in der sich unsere Demokratie in diesen Tagen befindet.
Letzte Bearbeitung: 7. 10.2025
[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird gelegentlich auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.