Helmut Digel
Die Redewendung „Der Fisch stinkt vom Kopf her“ bedeutet, dass die Ursache für Probleme oder Fehler in einer Organisation oder einer Gruppe in der Führungsebene zu finden ist. Mit anderen Worten, wenn etwas schiefläuft, dann liegt das oft daran, dass die Führung oder das Management Fehler macht. Im deutschsprachigen Raum macht auch „eine Schwalbe noch keinen Sommer“, was so viel bedeutet, dass ein einzelnes positives Ereignis noch lange nicht bedeutet, dass der Umschwung geschafft ist, dass Besserung bereits erreicht ist. Die Aussage: „Niemand ist von Anfang an perfekt“ zielt auf den Sachverhalt, dass Können und Expertise Zeit und Übung erfordern. Die Redewendung „Wer früh beginnt, hat die besten Chancen“ ist selbsterklärend. Die Lebensweisheit “Nur durch harte Arbeit hat man Erfolg“ trifft leider nicht immer zu. Dass „Faulheit oder Untätigkeit oft zu schlechten Angewohnheiten oder falschem Verhalten“ führt, war nicht nur die Meinung meiner Eltern.
Genug der Lebensweisheiten. Sucht man nach Redewendungen, die auf den deutschen Sport, auf den DOSB, seine Mitgliedsorganisationen und deren verantwortliche Funktionäre[1] zutreffen, so kann diese Suche sehr lange dauern. In der Reihe der bislang zitierten „Handlungsempfehlungen“ fehlt allerdings eine Erkenntnis, von der ich annehme, dass sie für den deutschen Sport grundlegend ist und dass sie zu beachten ist, will man ernsthaft das System des deutschen Sports reformieren. Es ist die Erkenntnis, dass das Fundament ausreichend tragfähig sein muss, auf dem man ein Haus bauen möchte, an dessen Dachfirst olympische Erfolgsfahnen wehen.
Die Metapher vom „Fundament“ eines erfolgreichen deutschen Sportsystems beinhaltet meines Erachtens mindestens vier Bausteine. Man könnte sie auch als die „Eckpfeiler“ des deutschen Hauses des Sports bezeichnen.
- Den ersten Baustein bilden die Sportstätten, auf denen Menschen Sport treiben können und sollen.
- Der zweite Baustein handelt von unseren Schulen, also von jener Institution, in der junge Menschen staatlicherseits an den Sport herangeführt werden können, wenn dies von der Bildungspolitik wirklich ernsthaft erwünscht ist. Daran muss allerdings angesichts der Tatsache, dass Turn- und Sporthallen häufig erste Wahl bei der Bereitstellung von Flüchtlingsunterkünften waren, gezweifelt werden.
- Der dritte Baustein zielt auf die für den Sport zuständigen freiwilligen Vereinigungen, auf die Turn- und Sportvereine und deren „sportartspezifisch“ ausgerichtete Abteilungen.
- Schließlich ist der vierte Baustein zu beachten, der sich auf ein ganzjähriges Wettkampfsystem bezieht, in dem sich jene Menschen miteinander messen und vergleichen können, die sich durch das Motiv des Wetteifers auszeichnen.
Jeder dieser Bausteine bedarf einer besonderen Pflege und Wartung. Sind sie beschädigt, so bedürfen sie der „Reparatur“. Genau dies ist im Moment das wichtigste Erfordernis, sollen an der Spitze des pyramidalen Hausbaus des deutschen Hochleistungssportssystems wieder jene Erfolge eintreten, die früher noch möglich waren und die man zukünftig sich wieder wünschen möchte.
Doch bevor damit begonnen werden kann ist es wichtig, dass die für die Reparatur verantwortlichen Personen die durch empirische Forschung belegte Realität, d.h. die tatsächliche Lage, kennen, in der sich der Sport an der Basis befindet. Man muss sich selbst im Spiegel der vorfindbaren Tatsachen betrachten.
Für die Sportstätten heißt das, dass die Frage zu beantworten ist, wieviel Sportstätten wir derzeit haben, wieviel wir benötigen, wieviel von den existierenden Sportstätten reparaturbedürftig sind? Wie viele davon sind staatliche Sportstätten, private Sportstätten, Vereinssportstätten? Wie intensiv werden die unterschiedlichen Sportstätten genutzt? Auf welche kann möglicherweise wegen mangelnder Nutzung verzichtet werden? Welche Sportstätten sind dringend neu zu bauen, weil neu hinzugekommene Sportarten noch über keine geeigneten Sportstätten verfügen? Wie verteilt sich der Sanierungs-Bedarf über die 16 Bundesländer. Welche Sportstätten müssen höchste Priorität besitzen? Wer entscheidet über die Frage der Priorität? Wie hoch ist der finanzielle Gesamtbedarf? Wie wird eine optimale Nutzung der vorhandenen finanziellen Mittel zur Sanierung der Sportstätten gewährleistet?
Blicken wir auf die Situation des Sports im öffentlichen Schulwesen muss zunächst konstatiert werden, dass seit Jahren eine völlig unzureichende Quantität und Qualität des Schulsports und des Sportunterrichts von unterschiedlichsten Experten aus den Bereichen der Medizin, der Pädagogik, der Psychologie und der Soziologie bemängelt wurden. Es liegen hierzu unendlich viele wissenschaftliche Befunde vor. Von einer Sporterziehung im Grundschulbereich kann nicht die Rede sein. Die in den Lehrplänen vorgeschriebene Stundentafel für den Sportunterricht (meist sind es 3 Stunden) wird nur selten eingehalten. Der Sport gehört zu jenen Unterrichtsfächern, die eine hohe Ausfallquote zu beklagen haben. Von einer täglichen Bewegungszeit kann nirgendwo gesprochen werden. Die in anderen Ländern längst erreichte „tägliche Sportstunde“ hat in der Bundesrepublik den Charakter einer Utopie. Eine ausreichende Repräsentanz jener Sportarten, bei denen man bei Olympischen Spielen Erfolg haben möchte, ist im Curriculum des Schulsports nicht anzutreffen und wohl auch nicht möglich. Die daraus resultierende Notwendigkeit im Schulsport die Grundlagen für höheres sportliches Können zu legen, wird unter didaktischen Gesichtspunkten meist nicht mehr angestrebt. Von einer ausreichenden und angemessenen Ausbildung der Sportlehrer an den Universitäten ist man weit entfernt. Nicht weniger unzureichend und mangelhaft ist die Fortbildung jener Sportlehrer, die sich im Schuldienst befinden.
Das pyramidale System des Leistungssports in Deutschland basiert in erster Linie auf einem flächendeckenden System von freiwilligen Vereinigungen für jede olympische Disziplin. Für jede olympische Sportart muss deshalb die Frage gestellt werden, inwiefern und wo sie an der Basis, d.h. in den Turn und Sportvereinen, repräsentiert wird. Es geht um die Frage wo Kinder und Jugendliche, die sich für die Ausübung einer Sportart interessieren, ein entsprechendes Angebot finden, in dem unter Anleitung von Übungsleitern ein Prozess zur Entwicklung höherer Leistungen im Sport in den jeweiligen sportlichen Disziplinen oder Sportarten seinen Anfang findet, und bis zu einem bestimmten Niveau auch entsprechend weiter entwickelt wird. Stellt man sich diese Frage für jede einzelne sportliche Disziplin und für jede einzelne Sportart, fragt man also wo findet ein am Diskuswerfen interessierter Jugendlicher ein entsprechendes Angebot, wo wird ein am Hockeyspiel interessierter Jugendlicher, in welchem Verein in seiner räumlichen Nähe, in der er wohnt, betreut? Wo kann ich als Jugendlicher in meiner näheren Wohnumgebung Handball spielen? Wo wird Judo angeboten? Wo gibt es ein Angebot, das einer Hinführung zum Leistungsschwimmen gerecht wird?
Gäbe es in Deutschland einen „Sportatlas“ – dessen Existenz nach wie vor eine Fehlanzeige ist – so müssten die Verantwortlichen des Sports sehr schnell erkennen, dass für viele junge Menschen das von ihnen erwünschte Sportangebot sich in einer Entfernung befindet, die weder von den Eltern mit dem PKW noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden kann. Gäbe es den seit Jahrzehnten überfälligen „Sportatlas“, so würde man unendlich viele „blinde Flecken“ für das Training und die Ausübung der olympischen Sportarten in der Bundesrepublik Deutschland erkennen. Man würde erkennen, dass ganz offensichtlich für die meisten olympischen Sportarten ein erschreckender Nachwuchsmangel zu beklagen ist, der nahezu jährlich anwächst. Das Resultat dieses Mangels ist mit wenigen Ausnahmen in der Spitze der Leistungspyramide fast aller Disziplinen des Leistungssports schon seit Jahren zu beobachten. Bei deutschen Meisterschaften in der Leichtathletik z.B. kann mittlerweile auf langatmige Vorkämpfe in den meisten Einzeldisziplinen verzichtet werden, weil nicht genügend Athletinnen und Athleten die vereinbarten Qualifikationsnormen erbracht haben. In manchen Disziplinen können selbst bei den Endkämpfen nicht alle vorgesehenen Startplätze, beziehungsweise Bahnen besetzt werden. In mehreren olympischen Sportarten haben sich die Leistungskader im vergangenen Jahrzehnt nahezu stetig verkleinert. Die Wahrscheinlichkeit, dass man aus einer ausreichenden Zahl von Aktiven die besten Athletinnen und Athleten auswählen kann, die den langfristigen und risikoreichen Weg zur erfolgreichen Höchstleistung gehen können, wird immer kleiner.
Die in den Trainings- und Übungsstunden in den Turn- und Sportvereinen erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten bilden die Grundlage für Wettkämpfe, in denen sich Kinder und Jugendliche mit Gleichaltrigen messen können. Eng verbunden mit den Problemen des dritten Bausteins sind die Schwierigkeiten im Bereich des vierten Bausteins, die uns größte Sorge bereiten müssten. Wenn wir den vierten Baustein, das deutsche Wettkampfwesen, in dessen tatsächlicher Verfasstheit betrachten, so wird zumindest teilweise mancher Misserfolg an der Spitze der olympischen Leistungs-Pyramide erklärbar. Will man das Interesse von Kindern und Jugendlichen am Wettkampf- und Leistungssport wecken und mittel- und langfristig erhalten, so ist neben einem qualitativ anspruchsvollen Übungs-und Trainingsangebot in den einzelnen Sportarten vor allem auch ein organisatorisch durchdachtes Wettkampfsystem erforderlich, in dem sich Kinder und Jugendliche möglichst einmal in der Woche, mindestens aber einmal monatlich mit anderen Kindern und Jugendlichen messen können, die sich ebenfalls höhere Ziele im Leistungssport gesetzt haben. Können sich Kinder und Jugendliche mit ihren erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten nur selten oder gar nicht in regelmäßigen Wettkämpfen bewähren, so kann die überall zu beobachtende Fluktuation zwischen den Sportarten kaum überraschen. Man kann dabei erkennen, dass jene Sportarten, die den Kindern nahezu wöchentliche Wettkämpfe unterbreiten, weit weniger Nachwuchsprobleme aufweisen als solche, in denen nur in wenigen Wochen des Jahres, meist saisonal bedingt, in einem äußerst begrenzten Zeitraum Wettkämpfe stattfinden. Gab es in der Vergangenheit in Sportarten, wie zum Beispiel der Leichtathletik noch neben Vereins-, Bezirks-, und Regionalmeisterschaften auch Vergleichskämpfe zwischen Vereinen und regelmäßig stattfindende Abendsportfeste über den gesamten Sommer, so findet heute ein jugendlicher Leichtathlet, wenn er nicht zur Spitzenklasse zählt, so gut wie gar kein Wettkampfangebot, das für ihn geeignet ist. Es darf deshalb kaum verwundern, wenn viele Athleten aus den Einzelsportarten zu Mannschaftssportarten wechseln, in denen Wochenende für Wochenende den Kindern und Jugendlichen die Teilnahme an Wettkämpfen ermöglicht wird.
In jedem der vier Bausteine bedarf es ganz offensichtlich einer soliden Bestandserhebung und es müssen große personelle, materielle und finanzielle Ressourcen aufgebracht werden, wenn die wichtigen Eckpfeiler unseres Leistungssportsystems in ihrer Tragfähigkeit erhalten und verstärkt werden sollen. Damit werden noch lange nicht die sportlichen Höchstleistungen zu einem Selbstläufer und auch die von Sportfunktionären, Sportpolitikern und nicht zuletzt von den Massenmedien geforderten olympischen Medaillenerfolge bei zukünftigen Olympischen Spielen werden sich dadurch nicht von selbst einstellen. Auf dem Weg von der Basis zur Spitze der Pyramide gibt es ohne Zweifel noch eine ganze Reihe von institutionellen Erfordernissen, die ebenfalls einer Reform bedürfen.
Zu beachten ist dabei die Absicherung einer möglichen Doppelkarriere für die Athleten und Athletinnen, eine ausreichende Betreuung der Spitzensportler nach Beendigung der Karrieren und eine gesellschaftspolitische Aufwertung des Trainerberufs, einschließlich dessen Besoldung. Die Einrichtung beziehungsweise der Ausbau von mindestens einem Leistungszentrum für jede olympische Sportart mit hoch qualifizierten Trainern und Betreuungspersonal sind ein weiteres zwingendes Erfordernis. Die Finanzierung dieser Einrichtung müsste jedoch an Bedingungen geknüpft werden, die von jenen Trainern und Athleten zu erfüllen sind, die an diesen Einrichtungen die bestmöglichen Dienstleistungen erhalten möchten. Ein weiteres wichtiges Erfordernis ist eine digitale Optimierung der Kommunikationsprozesse innerhalb des Systems des Hochleistungssports. Anstelle der meist nichtssagenden und viel zu allgemeinen programmatischen Entwicklungspläne und Absichtserklärungen müssen spezifische Einzelanalysen und spezifische Entwicklungsprogramme treten, die an den Besonderheiten der jeweiligen Disziplin und an der internationalen Konkurrenz, die in dieser Disziplin anzutreffen ist, ausgerichtet sein müssen.
Weitere Erfordernisse könnten wohl noch benannt werden. Doch eines ist dabei allerdings gewiss: Kommen wir zu den eingangs erwähnten „Lebensweisheiten“ zurück, so müssen wir erkennen, dass die Arbeit an der Basis eine langfristige und mühsame „Kärrnerarbeit“ sein wird und dabei der an der Spitze des Gebäudes des Sports zu erkennende „Etikettenschwindel“ kaum eine Hilfe sein kann. Weder ein „Sportgesetz“ noch eine „Sportministerin“ wird für die Lösung der Probleme an der Basis erforderlich sein. Die Frage, ob der Staat seine Hilfen für das Sportsystem über ein eigenes Ministerium oder lediglich über eine Abteilung „Sport“ in einem Bundesministerium des Innern bereitstellt, ist nahezu bedeutungslos. Auch die Fragen, ob man mit Hilfe von „Potas“ die vom Staat bereitgestellten Mittel an den Leistungssport verteilt, ob eine „Agentur“ für die Steuerung des Spitzensports zuständig ist oder ob man der Selbstverwaltung des deutschen Sports vertraut, dass diese die bereitgestellten Mittel vertrauensvoll und zielorientiert bewirtschaftet, sind – wenn überhaupt – nachgeordnete Fragen. Der zeitliche, finanzielle und personelle Aufwand, der in den vergangenen Jahren zur Beantwortung dieser Fragen erbracht wurde, ist angesichts der von niemand zu bestreitenden Probleme an der Basis des Systems kaum zu verantworten.
PS.: Diesem Beitrag (Teil I) soll ein weiterer Beitrag (Teil II) folgen, in dem konstruktiv dargestellt werden soll, was innerhalb der vier Bausteine des deutschen Sports zu tun ist, wenn man die offen gelegten Mängel im System des Sports beseitigen möchte.
Letzte Bearbeitung: 14. Mai 2025
Themenzuordnung: Sportentwicklung
[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird gelegentlich auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.