Die „Luftnummern“ eines Herrn Coe

Helmut Digel

Der noch amtierende Präsident von World Athletics kandidiert für das Amt des IOC- Präsidenten und hat die Absicht, sich gegenüber den übrigen Kandidaten für dieses Amt mit seinen großartigen Versprechungen durchzusetzen, die er derzeit nahezu wöchentlich bei jedem möglichen nationalen und international Auftritt zu verkünden hat:

  • Die Zukunft unserer Olympischen Bewegung wird von der Klarheit der Gedanken, von einer Vision, von „Leadership“ und deren Ausführung abhängig sein. Diese Zukunft wird nur möglich sein, wenn man alle IOC -Mitglieder und alle „Stakeholder“ nützlich einsetzt. „Nur auf diese Weise können wir diese große Bewegung in Schwung bringen, damit sie die Herausforderungen und Möglichkeiten, die vor ihr liegen, meistert“.
  • Die Mitglieder des IOC sollen ganz neue Mitbestimmungsmöglichkeiten erhalten. “Members should decide and the Executive should implement those decisions. That is the way, it should be, but that’s not the way, it works now”.
  • Das IOC soll nicht von oben nach unten regiert werden, sondern genau umgekehrt. „ I want to see an end to “top-down” governance, where the Executive Committee instructs the office of the President and not the other way around.
  • “Die IOC- Exekutive soll nur noch das ausführen, was die Basis von ihr erwünscht.
  • Kommissionen sollen eine ganz neue Bedeutung erhalten. Sie sollen den Entscheidungsprozess der Exekutive steuern. Der IOC- Präsident ist lediglich Diener seiner Mitglieder.
  • Das IOC soll demokratisiert werden, wie es nie zuvor der Fall gewesen ist.
  • „Commitment to inclusivity and empowerment are easy to make but much harder to deliver”. Den Schlüssel zum Erfolg sieht Coe in einer Reformierung der IOC-„Governance“-Strukturen . Er warnt davor, dass ohne eine Dezentralisierung der Macht und ohne eine Reformierung der Organisationsstrukturen, die Versprechen nur bloße Worte bleiben werden
  • Nach Meinung von Coe hat das gegenwärtige System wohl glorreiche vier Wochen in Paris produzieren können. Doch es wäre ein katastrophaler Fehler, dies als Argument gegen die dringend notwendigen Veränderungen zu benutzen. “We owe this tranformation to the next generation. We cannot wait any longer“.

Was sind die besonderen Merkmale dieses angeblich besonderen Programms von Herrn Coe?

  •  Dieses Programm ist zunächst und vor allem gegen die noch amtierende IOC-Exekutive und deren Präsident gerichtet.
  • Dieses Programm setzt voraus, dass das, was es erreichen möchte, bislang noch nicht vorhanden ist.
  • Dieses Programm ist eine Anhäufung von begrifflichen „Worthülsen“, wie es sie schon seit längerem in einer fragwürdigen Politikersprache in fast allen Parlamenten dieser Welt gibt.
  • Dieses Programm ist eine Aneinanderreihung von „Luftnummern“.

Coe geht in seinem Programm von Voraussetzungen aus, die so im IOC und in der Olympischen Bewegung zumindest in den vergangenen zehn Jahren nicht existiert haben. Die „Agenda 2020“ und „2020 +5“und die unter IOC- Präsident Bach neu eingeführten „good governance“- Regeln hat er nicht gelesen oder – was wahrscheinlicher ist – er negiert sie ganz bewusst aus strategischen Gründen. Sein Programm kommt einer peinlichen Abrechnung mit seinem ehemaligen Freund aus gemeinsamen Zeiten in der IOC-Athletenkommission gleich, dessen präsidiale Erfolge als Reformer des IOC er nicht anerkennen möchte. Er bedient sich dabei aller schon seit längerer Zeit bestehenden massenmedialen Urteile und Vorurteile, die gegenüber dem IOC bestehen, ohne sie selbst einer empirischen Überprüfung zu unterziehen. Im Gegenteil: Coe war an vielen Sachverhalten, die er heute selbst infrage stellt, in sämtlichen relevanten internationalen Gremien des Sports mit Sitz und Stimme im Auftrag von Word Athletics vertreten und hätte dann, wenn seine Vorwürfe zutreffen, sich in seiner eigenen Selbstverantwortung zu überprüfen.

Angesichts der demokratischen Verhältnisse in seiner eigenen Organisation „World Athletics“, die er als deren Präsident anführt, ist seine „IOC- Demokratiekritik“ gerade zu demagogisch.

Eines muss man dem Kandidaten Coe zubilligen und ihm auch lassen. Keiner der sieben Kandidaten für das IOC- Präsidentenamt weiß sich so gut wie Coe in Szene zu setzen. Sich selbst zu inszenieren ist eine Kunst, die er bestens beherrscht. Als „native speaker“ ist er wie keiner der anderen Bewerber der englischen Sprache mächtig. Damit verfügt er über den entscheidenden Vorteil gegenüber seinen Mitbewerbern. Die Konversationssprache, auf die es im Weltsport ankommt, ist die englische Sprache. Die männlichen Kandidaten aus Frankreich, Spanien und Japan beherrschen nicht einmal ansatzweise diese Sprache so gut wie Coe.

Sich selbst zu inszenieren hat er bereits als Athlet gelernt und in seiner Karriere danach hat er seine Fähigkeit zur „Selbstinszenierung“ zu immer wirkungsvolleren neuen Höhepunkten geführt. Diese Karriere kann man nicht als eine berufliche Karriere bezeichnen – „gearbeitet“ im eigentlichen Sinne des Wortes hat Coe bis heute noch nie. Sein Werdegang muss viel mehr als eine „Vermarktungskarriere“ seiner eigenen Person nach einem großen olympischen sportlichen Erfolg bezeichnet werden. Wo immer man in Großbritannien und in dessen System des Sports auf einen Olympioniken zurück zu greifen hatte, war und ist Coe zur Stelle. Dies führte ihn in das englische Parlament, und er wurde als Lord in den Adelsstand erhoben. Es konnte auch kaum überraschen, dass man ihn als Aushängeschild benutzte, als es um die Bewerbung und Durchführung der Olympischen Spiele von London 2012 ging. Auch dabei konnte sich Coe als großer Verkäufer und Kommunikator beweisen. Coe kennt wie kein anderer die gerade herrschenden Maximen des „Zeitgeists“ und weiß immer genau das nachzuplappern, was aktuell erwünscht ist und was vom „Zeitgeist“ vorgegeben wird.

Sein Ziel war schon immer seine aktive Karriere als Athlet in einer Spitzenposition des Weltsports fortzusetzen. Und so lag es nahe, dass er in das IAAF- Council drängte und dort ein Sprungbrett suchte, um Präsident von „Word Athletics“ zu werden. Dies ist ihm meisterhaft gelungen. Wo immer Coe die nächste Stufe besteigen, die nächste Station in seiner Karriere erreichen wollte, kam ihm Großbritannien entgegen: Das vereinigte Königreich und das Commonwealth war und ist schon immer etwas Besonderes und Coe wusste sich dieser politischen Strukturen bestens zu bedienen. Da Commonwealth ist seine politische Heimat und in ihr weiß er sich zu bewegen. Deshalb ist er auch in diesen Tagen nahezu jeden Tag an einem anderen Ort des ehemaligen britischen Kolonialweltreiches anzutreffen, und er benutzt dabei die Sportstrukturen der Commonwealth- Mitglieder, um seine eigene Bewerbung zu „promoten“. Dabei wird die Frage nach der Finanzierung seiner „Wahlkampfreisen“ von niemand gestellt und schon gar nicht wird die Finanzierung offengelegt. (Man erinnere sich an Coes „good governance-Ideologie“ bei World Athletics und deren finanzielle Transparenz).

Mit seiner Fähigkeit zu einer besonderen Rhetorik kann er dabei sicher sein, dass er die Aufmerksamkeit der englischsprachigen Presse an jedem dieser Orte findet und in seiner Heimat, im Königreich Großbritannien, weiß er sich der fragwürdigen englischen Boulevardpresse bestens zu bedienen. Nicht umsonst hat er schon sehr früh eine eigene Kommunikationsagentur aufgebaut, die er später mit hohem Gewinn an gute Freunde weiterverkauft hat, ohne seinen Einfluss in diese Agentur zu verlieren.

Kommunikation war und ist das eigentliche Geschäft von Coe. Allerdings kommuniziert er dabei nur eine „Luftblase“ nach der anderen. „Allgemeinplätze“ prägen seine sog. sportpolitischen Ausführungen, wann immer er das Wort ergreift. Strategische Könnerschaft kann ihm wohl nicht abgesprochen werden. Schon in seiner Eigenschaft als bloßes Mitglied des IAAF- Councils konnte man ihn beobachten, wie sehr genau er den Zeitpunkt wählt, wann er sich bei Debatten zu Wort meldet. Er wiederholt meist mit rhetorisch besseren Worten all das, was von anderen in der Diskussion bereits gesagt wurde und er hat einen Riecher, um rechtzeitig die Mehrheitsmeinung aller Beteiligten zu erkennen, um diese dann mit seiner eigenen Wortmeldung zu verstärken. Coe war und ist dabei immer „everybody’s eleganter Liebling“, der sich mit niemand anlegt. Während seiner Mitgliedschaft als Council- Mitglied in der IAAF war er ein „yes-man“ an der Seite des mächtigen IAAF- Präsidenten Diack, wohl wissend, dass es sein Ziel ist, diesen möglichst schnell abzulösen. In seinem Wahlkampf für das höchste Amt der Weltleichtathletik kündigte Coe großzügige Reformen an, wobei er vor allem die 210 Mitgliedsverbände im Blick hatte, von denen er erwartete, dass sie ihn mit ihrer Stimme in das höchste Amt der IAAF wählen. Er gab und gibt dabei immer vor, ein Athleten naher „Team Player“ zu sein und dass er dabei selbstlos die Interessen der Mitglieder im Blick hat.

Betrachtet man seine bisherige Amtszeit als Präsident von „World Athletics“, so muss man allerdings erkennen, dass keine der von ihm angekündigten Reformen bislang erfolgreich durchgeführt wurde. Teilweise wurden sie bis heute noch nicht einmal in Angriff genommen, obgleich er bereits nahezu zehn Jahre im Amt ist. Unter der Führung des konservativen senegalesischen Präsidenten Diack hat sich die Weltleichtathletik als reformunfähig erwiesen. Doch unter der Führung von Coe wurde es leider nicht wesentlich besser. Die wichtige olympische Sportart Leichtathletik stagniert in ihrer internationalen Entwicklung. In den Schulsportsystemen und deren Lehrplänen in nahezu allen Nationen verliert sie immer mehr an Bedeutung. Das Aushängeschild, die „Leichtathletik- Weltmeisterschaft“ hat in ihrer internationalen Reputation erhebliche Einbußen aufzuweisen. Schon gar nicht konnte und kann man die von Coe immer wieder von neuem angekündigte Offensive gegenüber den Kindern und Jugendlichen erkennen, die er für die Leichtathletik gewinnen wollte. Das Marketing und TV-Produkt „Leichtathletik“, das Coe mit seinen von ihm engagierten britischen „Experten“ einer neuen Zukunft zuführen wollte, hat an Qualität und Stabilität eher verloren. Die finanzielle Sicherheit einschließlich der hohen finanziellen IAAF-Rücklagen, die er bei seinem Amtsantritt angetroffen hat, wurde in den vergangenen neun Jahren nahezu in das Gegenteil verkehrt. Es sind nur wenige Jahre her, als „World Athletics“ auf ein Darlehen des IOC angewiesen war, um eine finanzielle Krisensituation zu meistern. Das ökonomisch zentrale Produkt der Leichtathletik, die alle zwei Jahre stattfindende Freiluft – Weltmeisterschaft, hat ihren Tiefpunkt in der vor allem von Coe selbst zu verantwortenden „World Athletics“- Weltmeisterschaft in Eugene 2022 gefunden.

Betrachten wir die jährlich veröffentlichten Befunde zum weltweit verbreiteten Doping- Problem, so hat sich in der „Ära Coe“ so gut wie nichts verändert. Jahr für Jahr erweist sich die Leichtathletik als jene Sportart, in der die meisten Dopingfälle zu beklagen sind.

Nun wiederholt Coe also das Spiel, das er bereits bei seiner Bewerbung für das Amt des Präsidenten der Weltleichtathletik gespielt hat. Mit rhetorisch durchaus gekonnten Worten kündigt er vieles an. Doch letztlich geht es Coe dabei nur um jenes, was sich schon bei seinem kommerziellen Alleingang bei den Spielen von Paris abgezeichnet hat.  Coe ist ein Repräsentant des „immer noch größer“, des „immer noch spektakulärer“   und des „immer noch mehr Verdienens“. Diese Steigerungsimperative stehen bei Coe für eine maßlose Geldgier, die auch in der Auszahlung von Prämien für bereits vielfach vergoldete Medaillen bei Olympischen Spielen zum Ausdruck kommt. Reiche werden dabei immer reicher, aber man gibt vor, dabei die „kleinen Athleten und Athletinnen“ im Blick zu haben. In Coes „Wachstumsideologie“ sind Begriffe wie „Nachhaltigkeit“, „Selbstverzicht“, „Reduktion der CO2Emission“ allenfalls störend, oder sie sind gar nicht anzutreffen.

Das Headquarter von World Athletics in Monaco hat Coe längst zu einem britischen „Selbstbedienungsladen“ umgebaut. Es sind meist britische Agenturen, die mit besten Aufträgen versorgt werden. War zuvor die IAAF ein senegalesischer und französischer Selbstbedienungsladen, so ist „World Athletics“ mehr und mehr zu einer Dependance des vereinten Königreiches mutiert.

Man kann jetzt schon erkennen, was dies für die Entwicklung des IOC und dessen Zentrale in Lausanne bedeuten könnte. Angesichts der kommunikativen Schwäche von Coes Konkurrenz muss leider angenommen werden, dass auch diesmal dessen Strategie aufgehen könnte. Für den Modernen Olympismus und für die Weiterentwicklung der Olympischen Spiele könnte dies zu einem fatalen Weg in eine unsichere olympische Zukunft werden. Ob die noch verhindert werden kann, scheint mir mehr als fragwürdig zu sein.

Letzte Bearbeitung: 25. 2. 2025

Themenzuordnung: IOC, Olympische Spiele